Welche unbewussten Motive stecken hinter unserem Verhalten? Was treibt uns dazu, dass wir glauben, täglich Fleisch essen zu müssen? Helene Renaux, seit Mai diesen Jahres Mitglied des Vorstandes von Vision Landwirtschaft, ist in ihrer Masterarbeit diesen Fragen nachgegangen und zu erhellenden Schlüssen gekommen. Für diesen Newsletter hat sie sozialtheoretisch Literatur zusammengefasst, welche die Bedeutung des Fleischkonsums auf gesellschaftlicher Ebene aufzeigt. Das Fazit: Neue (Vor-) Bilder braucht das Land und Entscheidungsträger:innen, die bereit sind, langjährige Förderpraktiken zu hinterfragen und zu ändern, wenn sie Mensch und Umwelt schaden. Bereits bahnen sich andere Lebensgewohnheiten an. Diese gilt es zu unterstützen. Einen Denkanstoss gibt uns der Text von Helene Renaux.
(VL) Die letzte nationale Ernährungserhebung «menu CH» des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen stammt aus dem Jahr 2014/2015. Sie zeigt, dass die Schweizer Bevölkerung pro Woche durchschnittlich 780 Gramm Fleisch isst. Dies ist das Dreifache der empfohlenen Menge entsprechend der Schweizerischen Lebensmittelpyramide. Eine bedeutende Reduktion konnte in den letzten Jahren nicht aufgezeigt werden. Im Gegenteil: der Agrarbericht des BLWs schätzt im Jahr 2021 einen 1,8 prozentigen Anstieg des Pro-Kopf-Fleischkonsums. Die Zahlen und die aktuellen Debatten muten an, dass Fleischessen für die Schweiz bedeutend ist. Der folgende Text nähert sich dem Thema sozialtheoretisch an und zeigt die Bedeutung des Fleischkonsums auf gesellschaftlicher Ebene auf.
1. Normalität des Fleischessens
Fleisch wird seit tausenden von Jahren von Menschen konsumiert und in der Schweiz als Selbstverständnis wahrgenommen. Durch dieses Selbstverständnis wird Fleischessen unhinterfragt als etwas «Normales» betrachtet. Diese Normalität soll nachfolgend dekonstruiert werden:
Anstelle einer Instanz, die das Normale vorgibt, spricht Foucault von einer Normalisierungsmacht und geht davon aus, dass es meist keine Überwachung braucht, um Macht auf Individuen auszuüben. Die Vorstellung oder Angst vor einem gesellschaftlichen Ausschluss oder einer Strafe reichen, dass wir uns selber disziplinieren. Macht hat sich sozusagen verselbständigt und wird nicht top-down von einer Personengruppe bestimmt, sondern im alltäglichen Zusammenleben gelebt und teilweise auch ausgehandelt. Was normal ist, wird also durch Sozialisation im Gefüge der Gesellschaft festgelegt, deren Macht alle ausgeliefert sind (Dieterle 2015). Diskriminierung bezüglich sozialen Klassen, Ethnien oder Essvorlieben sind also soziale Konstrukte, die innerhalb familiärer Strukturen, in den Medien und durch verschiedene private oder öffentliche Institutionen wiederkehrend bekräftigt werden. Das heutige Verhalten des Menschen gegenüber Tieren, insbesondere gegenüber den Nutztieren, wird als normal und natürlich angesehen (Germov und Williams 2001). Weiter erschweren strukturelle Hindernisse die moralische Beachtung von Nutztieren (Rothgerber 2020). So ist die Nutztierhaltung meist versteckt, sodass es beispielsweise schwierig ist, ein Schwein in seiner Tierhaltung sehen zu dürfen. Diese Unsichtbarkeit bewirkt eine Verheimlichung, sobald die tatsächliche Tierhaltung in der Bildung und den öffentlichen Medien tabuisiert wird (Rothgerber 2020, S. 3). Fleischwerbung und Kinderbücher lassen Kinder und Erwachsene im Glauben an eine romantisierte Landwirtschaft, in der das Huhn unter dem Apfelbaum Würmer pickt und das Schwein im Schlammbad herumsuhlt. Diese Bilder entsprechen jedoch meist nicht der realen Fleischproduktion. Joy (in Piazza et al. 2015, S. 115) bezeichnet die Ideologie des Karnismus als Prämisse, aus welcher die Überzeugungen entstehen, Fleischessen als etwas Natürliches, Normales und Nötiges anzusehen.
2. Fleisch als Symbol in einem Signifikanzsystem
Bei der Untersuchung der symbolischen Bedeutung von Fleisch hilft das philosophische Konzept von Roland Barthes, ein Lebensmittel als ein mehrdeutiges Zeichen in einem gesellschaftlichen «Signifikanzsystem» zu verstehen (Counihan und van Esterik 1997). Ähnlich wie bei der semantischen Erforschung von Kommunikation und Sprache ist ein Lebensmittel als kulturell konstruiertes Objekt mit unterschiedlichen Funktionen zu versehen. Barthes ist der Ansicht, dass heutzutage die dem Lebensmittel inhärente Funktion der Ernährung der Menschen weniger eine Rolle spielt als das Zeichen oder eben die Symbolik für die es steht. Durch Werbung werden diese impliziten Zeichen manifest und ersichtlich. Barthes meint, dass Werbung viel eher die kollektive Psychologie der Menschen reflektiere, als dass sie sie forme (in Counihan und van Esterik 1997).
a) Fleisch als Symbol von Macht, Stärke und Status
Speziell an der kulturellen Funktion des Lebensmittels Fleisch ist seine tierische Herkunft. Das Tier dient als Metapher, Individuen und soziale Gruppen als überlegen darzustellen (Russell 2012, S. 12). Fleisch als Produkt des Tiers dient als Symbol einer Reihe von Attributionen wie z.B. Macht, Status und Stärke. Diese Konnotationen binden prinzipiell an die Rolle der Tiere in unserer Weltanschauung, welche geprägt ist von der jeweiligen Kultur. In Gesellschaften, in denen die Herrschaft über die Natur als Wert vertreten wird, gelten Tiere als dem Menschen unterlegen (Fiddes 1991). Fleisch dient so als Symbol der Macht über die Tiere. Da Tiere früher als gefährlich galten, fühlt man sich durch ihre Beherrschung mächtig (Zaraska 2016). Die kulturellen Errungenschaften der Technik und der Wissenschaft dienen in der Nutztierhaltung als Machtinstrumente, um die Produktion von Fleisch bis ins letzte Detail zu kontrollieren. In der Überzeugung, dass die Maximierung des Ertrags ständiger natürlicher Bedrohungen (Bsp. Naturgewalten, Schädlinge, Krankheiten) ausgeliefert ist, symbolisiert die heutige konventionelle Tierhaltung einen Kampf zwischen Kultur und Natur (Fiddes 1991). Obwohl diese landwirtschaftliche Praxis und die zugrundeliegende Weltanschauung hinterfragt werden, bleibt Fleisch mit dem Symbol der menschlichen Macht über das Tier behaftet und dieses traditionelle Zeichen wird beispielsweise in den spanischen Tierkämpfen gesellschaftlich weiter verbreitet.
Fleisch dient auch als Symbol des Status. Fleisch war aufgrund seiner geringen Verfügbarkeit lange ein Luxusprodukt. Es war besonders erwünscht, aber besonders schwierig zu bekommen. Durch diese Tatsache wurde Fleisch als Luxusprodukt zu einem Statussymbol. Es zeigt an: Ich kann es mir leisten (Zaraska 2016). Die Verfügbarkeit von und der Zugang zu Fleisch haben sich in den letzten siebzig Jahren für die Schweizer Bevölkerung drastisch verbessert, sodass sich heute jede Person Fleisch leisten kann. Diese Tatsache wirft die Frage auf, wie Fleisch weiterhin als Statussymbol dienen soll? Einerseits könnte es zu einer Entwicklung führen, in der dem Fleisch andere Eigenschaften zugeschrieben werden, die diesen Status wiederherstellen z.B. in Schweizer Fleisch vs. Nicht-Schweizer Fleisch, bio vs. konventionell oder Fine Food vs. M-Budget. Andererseits könnte es auch darin resultieren, dass man gar kein Fleisch mehr isst, weil das Fleischessen seinen Reiz als Statussymbol verloren hat. Gewisse Individuen ermöglichen sich so als Vegetarierin oder Veganer einen anerkennenden Status, indem sie sich durch ihren Fleischverzicht moralisch überlegen fühlen.
Das Symbol der Stärke unterliegt dem Volksglauben, dass wir durch das Einverleiben eines tierischen Muskels die Stärke dieses Tieres erlangen. Im Sinne von: «Du bist, was Du isst», erhoffen wir tierische Eigenschaften zu übernehmen. Dieser Aberglaube wurde zum Beispiel in der besonders fleischreichen Kost von deutschen Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg propagiert (Adams 2013) und ist in zahlreichen Volkssagen tradiert.
b) Fleisch und Maskulinität
Die Symbolfunktion von Macht, Status und Stärke beschreibt interessanterweise gleichzeitig Attribute, die jahrhundertelang der klassischen Männerrolle zugeschrieben wurden. Der Ursprung dieser Verbindung gründet darin, dass Jagen eine archetypische, männliche Beschäftigung ist. Zudem assen Männer in den letzten Jahrhunderten generell mehr Fleisch als Frauen. Der traditionelle Mann übernimmt sprichwörtlich weiterhin die Rolle des Jägers beispielsweise beim Grillieren, während die traditionelle Frau die Zutaten für die Beilagen sammelt und die Speisen serviert (Fiddes 1991, S. 157–159). Auch in der Schweiz essen bis heute Männer ca. 40% mehr Fleisch als Frauen (Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen 2017).
Neben der Verbindung zwischen Maskulinität und Fleischkonsum besteht auch eine Assoziation zwischen der Funktion von Fleisch und der männlichen Sexualität. Schon im viktorianischen Zeitalter war man der Ansicht, dass der Konsum von Fleisch die männliche Potenz steigern würde, sodass man Schuljungen Fleischenthaltsamkeit riet, um ihre Lust auf Masturbation zu verringern (Fiddes 1991, S. 147). Obwohl diese Wirkung wissenschaftlich widerlegt ist und dem Essen von Fleisch sogar eine potenzmindernde Wirkung diskutiert wird (Dieterle 2015), kultivieren Werbespots und Lifestyle Magazine weiterhin den Aberglauben zwischen männlicher Sexualität und Fleisch (Zaraska 2016). Ein Beispiel hierfür ist der 2015 erschienen Werbeclip fürs Grillieren von Coop.
Abbildung 1: Fleischkonsum in der Schweiz nach Altersklassen von Frauen und Männern (Baur, Egeler, & von Rickenbach, Produktion und Konsum von Fleisch in der Schweiz, 2018)
Fleisch scheint also ein männliches Lebensmittel zu sein, und je mehr ein Mann davon verzehrt, desto männlicher erscheint er (Sumpter 2015). Was passiert aber, wenn ein Mann gar kein Fleisch essen will, es aber von ihm erwartet wird? Williams untersuchte diesen Zusammenhang mit dem oben beschriebenen Konzept der Normalisierungsmacht (Dieterle 2015). In Bezug auf Maskulinität beeinflusst die Normalisierungsmacht männliche Individuen in ihrem Fleischkonsum durch die Angst, als feminin oder homosexuell zu erscheinen. Die Angst, nicht «normal» zu sein, lässt das Individuum jede seiner Aktionen an die wahrgenommene soziale Norm anpassen. Diese Anpassung wirkt auch beim Fleischkonsum. Das soziale Konstrukt des starken, mächtigen und überlegenen Fleischessers konstituiert die Identität. Wollen Konsument:innen sich stark, mächtig und überlegen fühlen, essen sie Fleisch. Kritisieren Individuen das Fleischessen, so hinterfragen sie gleichzeitig dieses soziale Konstrukt und die damit verbundenen normativen Geschlechterrollen. Williams sieht in dieser Konnotation die besondere Schwierigkeit für Männer, auf eine vegane und vegetarische Ernährung umzusteigen und so authentische und individuelle Entscheidungen bezüglich ihrem Essverhalten zu fällen. Die Normalisierungsmacht hindert das Bewusstsein an der Anerkennung der wissenschaftlich begründeten Notwendigkeit, den Fleischkonsum zu reduzieren (Dieterle 2015).
Literaturverzeichnis
Baur, P.; Egeler, G.-A.; von Rickenbach, F. (2018): Produktion und Konsum von Fleisch in der Schweiz. Wädenswil. Online verfügbar unter https://novanimal.ch/wp-content/uploads/2019/04/2018_ZHAW_baur_fleisch_CH_NOVANIMAL.pdf
Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (2017): Fachinformation Ernährung: Fleischkonsum in der Schweiz 2014/15. Online verfügbar unter https://www.blv.admin.ch/dam/blv/de/dokumente/lebensmittel-und-ernaehrung/ernaehrung/fi-menuch-fleisch.pdf.
Counihan, Carole; van Esterik, Penny (Hg.) (1997): Food and culture. A reader. New York, NY: Routledge. Online verfügbar unter http://www.loc.gov/catdir/enhancements/fy0651/96046430-d.html.
Dieterle, Jill Marie (Hg.) (2015): Just food. Philosophy, justice, and food. London: Rowman & Littlefield International.
Fiddes, Nick (1991): Meat, a natural symbol. London: Routledge.
Germov, John; Williams, Lauren (Hg.) (2001): A sociology of food and nutrition. The social appetite. Repr. Oxford: Oxford Univ. Press.
Piazza, Jared; Ruby, Matthew B.; Loughnan, Steve; Luong, Mischel; Kulik, Juliana; Watkins, Hanne M.; Seigerman, Mirra (2015): Rationalizing meat consumption. The 4Ns. In: Appetite 91, S. 114–128. DOI: 10.1016/j.appet.2015.04.011.
Rothgerber, Hank (2020): Meat-related cognitive dissonance: A conceptual framework for understanding how meat eaters reduce negative arousal from eating animals. In: Appetite 146, S. 104511. DOI: 10.1016/j.appet.2019.104511.
Russell, Nerissa (2012): Social zooarchaeology. Humans and animals in prehistory. Cambridge, New York: Cambridge University Press. Online verfügbar unter http://site.ebrary.com/lib/alltitles/docDetail.action?docID=10520654.
Sumpter, Kristen C. (2015): Masculinity and Meat Consumption: An Analysis Through the Theoretical Lens of Hegemonic Masculinity and Alternative Masculinity Theories. In: Sociology Compass 9 (2), S. 104–114. DOI: 10.1111/soc4.12241.
Zaraska, Marta (2016): Meathooked. The history and science of our 2.5-million-year obsession with meat. New York: Basic Books a member of the Perseus Books Group. Online verfügbar unter http://www.meathookedthebook.com/.
Legende zu Abb 1:
Abbildung 1: Fleischkonsum in der Schweiz nach Altersklassen von Frauen und Männern (Baur et al. 2018)
Zu den global grössten Herausforderungen gehören der Schutz und die Erhaltung der Biodiversität und die Einschränkung der Klimaerwärmung mit Anpassungen der Lebensgrundlagen und den wichtigen Ernährungs- und Landwirtschaftssystemen. Der menschengemachte Klimawandel wird inzwischen auch von einer breiten Bevölkerung anerkannt. Die Herausforderung, die Klimaerwärmung einzudämmen ist riesig. Es gibt bereits vielfältige Ansätze die Emission von Treibhausgasen (THG) zu reduzieren, trotzdem ist das Netto-Null-Ziel 2050 des Bundesrats sehr ambitioniert. Dabei geht es nicht nur um eine starke Reduktion der Emissionen von Kohlendioxid (CO2), sondern auch von Methan (CH4) und Lachgas (N2O). Und dies betrifft besonders auch die landwirtschaftliche Produktion für die menschliche Ernährung. Neben der Reduktion von klimaaktiven Gasen aus der Landwirtschaft würde der Konsum von vermehrt pflanzenbasierten Nahrungsmitteln die THG-Emissionen erheblich senken und die menschliche Gesundheit fördern, dies käme auch der Biodiversität zugute
(VL) Für die Schweiz sagen die Klimamodelle in den kommenden Jahrzenten eine Zunahme von Extremereignissen voraus. Die Szenarien für die Klimaentwicklung der Schweiz (MeteoSchweiz, 2018) beschreiben die zu erwartenden Veränderungen des Klimas, auf welche sich die Landwirt:innen vorbereiten sollten. Die Landwirtschaft wird dabei vor allem durch Trockenheit, Starkniederschläge, Sommerhitze und Frühjahrsfröste betroffen. Zudem verändert sich durch die milderen Temperaturen das Risiko von Pflanzenkrankheiten und von Schädlingsbefall. Bereits heute wirkt sich die Klimaerwärmung in verschiedenen Regionen der Schweiz auf Ernteerträge und Lebensmittelproduktion aus – negative Folgen sind dabei häufiger zu beobachten als positive. Bei einem ungebremsten Klimawandel wird die landwirtschaftliche Produktion in der Schweiz immer mehr beeinträchtigt, vor allem wenn das verfügbare Wasser während der Vegetationszeit knapp wird. In den Gebieten, die bisher schon unter Trockenheit gelitten haben, dürfte diese sich noch verstärken. Die ausserordentlichen Wetterschwankungen werden die schweizerischen Landwirt: innen vor besondere Herausforderungen stellen und die Ertragssicherheit gefährden.
Aber auch die Landwirtschaft trägt zum Klimawandel bei. Schlüsselfaktoren sind die Emissionen der klimarelevanten Gase Kohlendioxid (CO2), Methan (CH4) und Lachgas (Distickstoffmonoxid N2O). Methan entsteht vor allem im Verdauungstrakt der Nutztiere, Lachgas hauptsächlich bei der Bodennutzung durch den bakteriellen Abbau von Stickstoffverbindungen.
Im Treibhausgasinventar der Schweiz werden die Emissionen aus der Verdauung der Nutztiere, aus dem Hofdünger- und Mineraldünger-Management sowie aus den Böden und aus der Verbrennung landwirtschaftlicher Grünabfälle erfasst (BAFU, 2022). 2021 gingen gemäss Schweizer Treibhausgasinventar 14.3% der gesamten Treibhausgasemissionen der Schweiz auf das Konto der Landwirtschaft. Im Schweizer Treibhausgasinventar nicht berücksichtigt werden die grauen Emissionen, die bei der Produktion von Importgütern entstehen. Dies sind hauptsächlich Futtermittel. Doch auch Anbau und Transport verursachen klimaschädigende Emissionen. Auch der Einsatz von mineralischen Stickstoffdüngern verschlingt jährlich 24 Millionen Liter Erdöl und produziert 80‘000 Tonnen Kohlendioxid (CO2). Landwirtschaftliche Fahrzeuge in der Schweiz verbrauchen rund 150 Millionen Liter Diesel pro Jahr (Agroscope, 2015). Gesamthaft wird in der Schweizer Landwirtschaft etwa 2.5mal mehr Energie für die Produktion eingesetzt als in den geernteten Agrarerzeugnissen enthalten ist (BLW, 2017). Im Vergleich dazu: Die indische Landwirtschaft benötigt nur 0.7 Kilokalorien für die Produktion einer Kilokalorie Nahrungsmittel. Ziel müsste sein, dass die Landwirtschaft nicht mehr Energie in die Produktion steckt, als in den geernteten Erzeugnissen enthalten ist. Konzepte und Lösungen zur Verbesserung der Energieeffizienz fehlen noch weitgehend, und nach wie vor fördert die Agrarpolitik die ineffiziente Verwendung von Energie beispielsweise durch die Rückvergütung der Mineralölsteuer auf den in der Landwirtschaft verbrauchten Dieseltreibstoff. Der Dieselverbrauch in Forst- und Landwirtschaft trägt nur zu 10 % am Treibhausgasausstoss der Schweizer Landwirtschaft bei (Vision Landwirtschaft, 2023). Hauptquelle ist die Tierhaltung mit 71 %, der Rest stammt aus den landwirtschaftlichen Böden. Aber auch die Produktion von Tierfutter weist eine sehr ungünstige Energieeffizienz aus. In der Schweiz werden als Folge der Spezialisierung der Landwirtschaft auf die tierische Produktion im Durchschnitt pro Kilokalorie Nahrungsmittelenergie 2,4 Kilokalorien nicht erneuerbare Energieträger verbraucht (Bundesamt für Landwirtschaft (BLW), 2015). (ZHAW, 2018).
Faktenblatt Klimaänderung in der Schweiz - Vision LandwirtschaftAbb. 10: Die THG-Emissionen (CO2eq) aus der Schweizer Landwirtschaft von 1990 bis 2021 in t CO2eq pro Jahr. Die Emissionen geordnet von unten nach oben: CO2, CH4, N2O umgerechnet in CO2eq, eigene Darstellung mit Daten aus (BAFU, 2023)
Sowohl über eine Anpassung der Produktions-, als auch über Konsummuster lässt sich der landwirtschaftliche Treibhausgasausstoss senken. Zu den Möglichkeiten der Produktion gehört hauptsächlich die Senkung der Emissionen aus Viehhaltung und Bodenbewirtschaftung. Ausserdem liesse sich die Menge an Kohlendioxid erhöhen, die von Böden und Biomasse aufgenommen und gebunden wird. Ergänzend können die Emissionen in der Landwirtschaft durch technische Optimierung weiter gesenkt werden. Das Potential wird sich aber in Grenzen halten, und eine vollständige Substitution fossiler Brenn- und Treibstoffe durch erneuerbare Energieträger ist kaum machbar.
Bei der Anpassung an die Folgen des Klimawandels stellen sich bei der konkreten Umsetzung diverse Herausforderungen. Einerseits ist der Klimawandel mit all seinen Folgen ein komplexer Prozess, der von vielen verschiedenen Akteuren beeinflusst wird. Entsprechend schwierig zu erstellen und mit vielen Variablen behaftet sind die Szenarien. Andererseits ist die Anpassung an den Klimawandel ein langfristiger, stets andauernder Prozess, dessen Wirkung meist nicht direkt wahrnehmbar ist.
Es liegt im eigenen Interesse des Landwirtschaftssektors, ehrgeizige Massnahmen zur Emissionsminderung zu ergreifen und mitzuhelfen, dass wichtige Schwellenwerte bei der Erderwärmung nicht überschritten werden.
Ebenso wichtig ist es, sich auf den unvermeidlichen Temperaturanstieg und die damit verbundenen Klimaereignisse einzustellen. Zwar ist eine Anpassung an klimatische Auswirkungen durch den Einsatz bereits verfügbarer Techniken möglich, doch es gibt Grenzen. Ein Anstieg der Erdmitteltemperatur um 3 °C oder mehr wird die Anpassungsfähigkeit der Landwirtschaft überfordern, wie verschiedene Klimaszenarien aufzeigen.
Die Schweiz ist vom Biodiversitätsverlust sehr stark betroffen. Das hat bereits grosse Auswirkungen auf die Landwirtschaft. Sehr besorgniserregend ist der Rückgang vieler Wildbienen-Arten, deren Leistungen als Bestäuber sehr wichtig sind für die Landwirtschaft. Neue Daten, welche für die Aktualisierung der Roten Liste der gefährdeten Bienenarten der Schweiz von Dr. Andreas Müller erhoben wurden, zeigen, dass rund 10% der Wildbienenarten bereits ausgestorben sind. Eine sehr hohe Zahl von 45% der Arten wird voraussichtlich dieses Jahr auf die Rote Liste gesetzt. Dies hat einen direkten Zusammenhang auf die Erträge von vielen Nutzpflanzen. Die Bestäubung ist aber nur eine der wichtigen Ökosystemleistungen unter vielen, die alle massgeblich zu einer Landwirtschaft mit guter und stabiler Produktionsleistung beitragen. Das Wissen und die Fakten zu diesen Zusammenhängen werden häufig zu wenig berücksichtigt in politischen Entscheiden, aber auch auf Landwirtschaftsbetrieben und bei der Bewirtschaftung von Flächen der öffentlichen Hand. Trotz Engagement vieler Landwirt:innen für die Biodiversität auf ihren Betrieben nimmt die Artenvielfalt weiter drastisch ab.
(VL) Die wichtigsten vier Dienstleistungen einer intakten Biodiversität für die Landwirtschaft sind die Bestäubung, die Schädling-Nützling-Interaktion, die Bodenfruchtbarkeit und ein vielfältiger Gen-Pool für resistente Sorten. Alle diese Ökosystemleistungen tragen dazu bei, dass gute und stabile Erträge erreicht werden und dass Umwelteinflüsse – zum Beispiel Auswirkungen des Klimawandels – gemindert werden können. Die Versorgungssicherheit in Bezug auf die Lebensmittelproduktion der Schweiz könnte schon für die nächste Generation deutlich abnehmen, wenn der kontinuierliche Rückgang der Biodiversität nicht gestoppt werden kann. Daher ist es wichtig, dass die Begriffe Versorgungssicherheit und Biodiversität nicht als Zielkonflikt gesehen werden, sondern als Einheit. Denn ohne eine gute und funktionale Biodiversität, wird eine stabile Produktion in der Landwirtschaft je länger je schwieriger.
Einfluss der Bestäubung auf die Erträge von Äpfeln, Kirschen und Himbeeren
Mit einem Blick auf die wesentlichen Fakten aus nationalen Berichten ist schnell klar: Der Biodiversität in der Schweiz geht es gar nicht gut. Zahlreiche Pflanzenarten, Insekten, Vögel, Pilze, Algen und Flechten sind lokal verschwunden oder bereits ausgestorben. Mehr als die Hälfte der Arten ist zumindest potenziell bedroht. Bei den Insekten zum Beispiel sind es rund 60 Prozent. Die neuen Zahlen von Dr. Andreas Müller, Natur Umwelt Wissen GmbH, zu den Wildbienen dokumentieren eine drastische Abnahme der Arten. Von den 613 bewerteten Wildbienenarten müssen neu 277 auf die Rote Liste gesetzt werden. Im Vergleich zu anderen evaluierten Organismengruppen ist der Anteil der ausgestorbenen Arten mit 57 Arten sehr hoch. Der hohe Anteil gefährdeter und ausgestorbener Wildbienenarten dürfte mit den hohen Ansprüchen dieser Insekten an ihre Nist- und Nahrungsressourcen zusammenhängen, die sich zudem oftmals in verschiedenen und räumlich voneinander getrennten Lebensräumen befinden. Diese neuen Daten zeigen, dass die bisher getroffenen Massnahmen zum Erhalt der Biodiversität allein noch bei Weitem nicht die nötige Wirkung auf die Population von Wildbienen haben. Die Bestäubungsleistungen aller Wildbienen-Arten zusammen genommen sind in etwa gleich gross wie die der Honigbiene.
Das Sterben der Wildbienen hat einen direkten Einfluss auf die Erträge von Nutzpflanzen. Mehrere Studien zeigen die Wichtigkeit dieser Bestäuber und deren Einfluss auf die landwirtschaftlichen Erträge auf. So berechnet Agroscope in einer Studie von 2021 bereits einen Rückgang von bis zu 30% der Erträge bei Kirschen, Himbeeren und Äpfeln. Auch Ackerbohnen – ein wichtiger Eiweisslieferant für die menschliche wie die tierische Ernährung – sind stark von den Bestäubungsleistungen von Hummeln, einer Gattung der echten Bienen, abhängig. Dies vor allem, weil Ackerbohnen sehr früh im Jahr blühen, zu einer Zeit, in der die Honigbienen noch nicht fliegen. Eine Studie des FibL erläutert zudem, welche konkreten Massnahmen in der Landwirtschaft nötig sind, damit Wildbienen gezielt gefördert werden. Auch Zahlen in Bezug auf den wirtschaftlichen Wert sind erhoben worden. Das Wissen ist vorhanden – die Frage ist nur: Was braucht es, dass dieses Wissen in der Praxis ankommt und umgesetzt wird? Hier sind auch weitsichtige Entscheide der Politik gefragt, um die Ernährungssicherheit für unser Land langfristig zu bewahren.
Höhere Bodenfruchtbarkeit dank mehr Bodenorganismen
Die Bodenbiodiversität ist entscheidend für die Aufnahme von Nährstoffen durch die Pflanzen und daher auch zentral für die Erträge in der Landwirtschaft. Die meisten Bodenfunktionen werden direkt oder indirekt von Bodenlebewesen gesteuert. Eine hohe biologische Vielfalt im Boden ist unter anderem die Voraussetzung für eine hohe oberirdische Biodiversität, einen besseren Abbau von abgestorbenem Pflanzenmaterial, eine bessere Nährstoffverfügbarkeit und für einen reduzierten Ausstoss von Lachgas aus dem Boden. Ohne Bodenorganismen ist schlussendlich keine Nahrungsmittelproduktionmöglich, denn diese garantieren den Erhalt der Produktions- und Regulierungsfunktionen des Bodens, besonders seines Wasserhaushalts und des Umsatzes organischer Substanzen. Im letzten Sommer, während der langen Trockenperiode, war dies überall in der Schweiz zu sehen: Auf den Flächen mit hoher organischer Substanz und damit grosser Anzahl an Bodenorganismen, konnte das Wasser länger im Boden gespeichert werden, dies hatte einen direkten positiven Einfluss auf die Erträge.
Schädling-Nützling-Interaktionen und der genetische Pool
Verschiedene Forschungsresultate zeigen die Wichtigkeit von Insekten und Spinnen in der natürlichen Regulation von Schädlingen in landwirtschaftlichen Kulturen auf. Diese Räuber, die einen bedeutenden Teil der Schädlinge fressen, können durch räumliche Massnahmen auf dem Betrieb und angepasste Bewirtschaftungsformen gefördert werden. Das heisst konkret: landwirtschaftlich genutzte Gebiete brauchen viele blütenreiche Lebensräume, die zu verschiedenen Zeitpunkten im Jahr für die Nüzlinge Nahrung liefern können. Das sind extensiv genutzte Wiesen, Hecken, Waldränder, Blühstreifen und Säume. Die Säume spielen dabei eine unspektakuläre aber sehr wichtige Rolle, denn sie vernetzen zwei Lebensraumtypen, zum Beispiel Stauden zwischen Wald und Wiese. In der Schädlingskontrolle spielen unter anderen Schwebefliegen eine wichtige Rolle. Ihr Vorteil ist, dass sie früh im Frühjahr erscheinen, so dass sie bereits gegen erste Schädlinge wirken können. Sie überwintern in extensiven Wiesen, Brachen oder Säumen. Und genau diese Lebensräume nehmen so rasch und stark ab, dass auch die Schwebefliegen zu den stark gefährdeten Insekten gehören.
In der Zucht von Kultursorten spielt die Biodiversität ebenso eine wichtige Rolle. Die genetische Vielfalt wird dafür genutzt und gestaltet. Wichtig bei den Kultursorten ist für die Erhaltung der genetischen Vielfalt der Genpool alter Landsorten. Je höher die genetische Vielfalt einer Art, desto besser kann sich eine Art an neue Gegebenheiten anpassen, indem jene mit einem Vorteil überleben. Gerade im Hinblick auf den Klimawandel ist es wichtig, zum Beispiel auf trockentolerantere Sorten zurückgreifen zu können.
Rolle der Landwirtschaft
Die Landwirtschaft ist also gleichzeitig Nutzniesserin der Biodiversität und aber auch einer der stärksten Treiber für die Biodiversitätskrise. In der Schweiz sind insbesondere die viel zu hohen Nährstoffeinträge aus intensiver Tierhaltung, die grossflächige Anwendung von Kunstdünger, die hohe Belastung durch Pestizide und generell die äusserst intensive Bewirtschaftung die Faktoren für den Biodiversitätsverlust. Es braucht ein ganzheitliches Denken und Handeln, um die Biodiversitätskrise noch aufhalten zu können. Ein Beispiel: Ein Buntbrache-Streifen entlang einer Ackerkultur nützt wenig, wenn die Insekten, die sich in der Brache aufhalten, durch Pestizid-Drift aus der Ackerkultur abgetötet werden oder wenn die Nährstoffeinträge im Boden so hoch sind, dass sich die für die Wildbienen wichtigen Pflanzen gar nicht etablieren können. Damit insbesondere auch die funktionale Biodiversität erhalten werden kann, muss das Wissen über diese Zusammenhänge noch viel stärker verbreitet und einbezogen werden. Viele Landwirt:innen setzen auf ihren Betrieben schon viel an Biodiversitätsförderung um. Sie leisten so eine wichtige Aufgabe nicht nur für ihren Betrieb, sondern für die ganze Landwirtschaft. Doch sie brauchen mehr Unterstützung durch die Landwirtschaftspolitik und ihre Verbände.
«Kästchen» Biodiversität in der Politik
Die AP22+ bringt im Bereich Biodiversität nur geringfügige Verbesserungen. Insbesondere sind keine Massnahmen vorgesehen, welche die Qualität der Biodiversität innerhalb der bereits bestehenden Flächen verbessern. Die vom Bundesrat vorgeschlagenen und vom Nationalrat ausdrücklich unterstützten 3.5% Biodiversitätsförderflächen im Ackerbau werden Verbesserungen bringen. Der Absenkpfad der Gülle- und Ammoniakemissionen, der vor allem das Problem der Nitratüberschüsse angeht, wurde jedoch im Parlament zurückgestutzt. Das heisst, dass bis 2030 (erst dann ist eine Überarbeitung der Agrarpolitik geplant) gerade beim Stickstoff und Klimaschutz keine Verbesserungen aus der Agrarpolitik kommen. Dabei liegen viele mögliche Lösungen auf dem Tisch, zum Beispiel Anpassungen wie den verbindlichen Einbezug der Bodenanalysen in die Düngungsplanung oder Lenkungsabgaben auf Kunstdünger und Futtermittel zur Regulierung der Stickstoffverschmutzung in der Schweiz. Die Vereinigung integriert produzierender Bauern und Bäuerinnen (IP Suisse) hat ihr Punkteprogramm im Bereich Biodiversität verschärft, weil sie überzeugt ist, dass die Biodiversität stärker auf den IP-Betrieben gefördert werden soll.
Der Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative, den der Nationalrat ausgearbeitet hat, wird nächstens von der ständerätlichen Umweltkommission behandelt. Dank dieser Revision des Natur- und Heimatschutzgesetzes können die Landwirt:innen sich gezielt für die Biodiversität einsetzen, unter anderem in neuen Biodiversitätsgebieten, die Schutz und Nutzung kombinieren. Die Revision sieht 96 Millionen Franken mehr für die Biodiversität der Schweiz vor, die zu einem grossen Teil an die Landwirtschafsbetriebe gehen. Doch nicht nur im Kulturland muss mehr für die Biodiversität getan werden. Auch im Wald und ganz besonders im Siedlungsraum sind zusätzliche dringende Massnahmen nötig und mit der Gesetzesrevision vorgesehen.
Links/Literatur:
Ernährungssicherheit erfordert eine umfassende Sichtweise, Albert von Ow, Agroscope:
Vision Landwirtschaft hat in einer Studie untersuchen lassen, wie die Politik sieben verschiedene Ernährungsstile – von «vegan» bis «fleischbetont» – indirekt unterstützt. Fazit: Die Nahrungsmittel der verschiedenen Ernährungsstile werden sehr ungleich unterstützt. Per Saldo werden mehrere hundert Franken pro Person und Jahr von «veganen» und «umweltoptimierten» zu «protein- und fleischbetonten» Ernährungsstilen umverteilt.
(VL) Vor zwei Jahren hat Vision Landwirtschaft die Kosten (Vollkosten) und Kostenträger (Konsument:innen, Steuerzahler:innen, Allgemeinheit) der Schweizer Nahrungsmittel beziffert. Es zeigte sich: Verursachergerechtigkeit oder Kostenwahrheit liegen in weiter Ferne, auch im Vergleich mit anderen Politikbereichen.
Nach weiteren Temperatur-Rekorden bleibt das Thema Ernährung aktuell. Immer öfter hört man, dass der Schlüssel zur Lösung von Umweltproblemen bei Ernährungsstilen zu suchen ist. Kürzlich hat auch der Direktor des Bundesamts für Landwirtschaft (BLW) darauf hingewiesen. Was tut die Agrarpolitik in dieser Hinsicht?
Neue Studie
In einer neuen Studie hat Vision Landwirtschaft untersucht, wie die Politik verschiedene Konsumstile finanziell unterstützt oder belastet – anregt oder entmutigt. Berücksichtigt wurden wie schon in der Studie von 2020 die Beiträge des Bundes für die Nahrungsmittelproduktion und die ungedeckten Kosten zulasten der Allgemeinheit (externe Kosten von Umweltauswirkungen der Produktion).
Die Berechnungen wurden von der Basler Beratungsfirma BSS im Auftrag von Vision Landwirtschaft durchgeführt und von der Kalaidos Fachhochschule Schweiz begleitet. Datengrundlage sind Ökobilanzzahlen für Nahrungsmittel und Ernährungsstile der Firma ESU-Services und (aktualisierte) Kostenschätzungen der Studie «Kosten und Finanzierung der Landwirtschaft» von Vision Landwirtschaft.
Verglichen wurden die indirekten Kosten von sieben Ernährungsstilen (genauere Angaben Kasten unten):
proteinbetont (hoher Konsum von Fleisch, Milchprodukten und Eiern)
fleischbetont (sehr hoher Fleischkonsum)
umweltoptimiert (basierend auf der Schweizer Lebensmittelpyramide und Empfehlungen zum nachhaltigen Essen und Trinken FOODprints®)
Beiträge der Steuerzahlenden und Umweltkosten
Die Beiträge des Bundes an die Nahrungsmittelproduktion betrugen im Jahr 2020 rund 300 Franken pro Person. Im diesem Umfang wurden also die durchschnittlich konsumierten Nahrungsmittel unterstützt. In die Nahrungsmittel des veganen Ernährungsstils flossen pro Person und Jahr rund 50 Franken. Demgegenüber flossen 500 Franken pro Person in die Nahrungsmittel der Ernährungsstile «proteinbetont» und «fleischbetont» (Abbildung, hellgelber Bereich der Balken).
Die von der Politik in Kauf genommenen und nicht den Verursachern angelasteten Kosten zulasten der Allgemeinheit (externe Kosten) beliefen sich im Jahr 2020 auf durchschnittlich 800 Franken pro Person. Dabei wiesen die Ernährungsstile «umweltoptimiert» und «vegan» mit 450 bzw. 500 Franken pro Person die tiefsten, die Ernährungsstile «proteinbetont» und «fleischbetont» mit je 1050 Franken die höchsten externen Kosten auf (Abbildung, dunkelgelber Bereich).
Indirekte Unterstützung verschiedener Ernährungsstile durch Beiträge des Bundes und durch Übernahme externer Kosten durch die Allgemeinheit (in Fr.) pro Person im Jahr 2020.
Quelle: Lobsiger et al. (2022).
Wenn beim Fleisch auch bescheidene (Hackfleisch, Innereien) und weniger bescheidene Ernährungsstile (hochpreisige Fleischstücke) unterschieden werden, gehen die Zahlen noch stärker auseinander. Am stärksten gefördert wurden– wenig erstaunlich – luxuriöse fleisch- betonte Ernährungsstile mit Beiträgen pro Person im Jahr 2020 im Bereich von 2500 Franken.
Weitergehende Berechnungen zeigen auf, wie in der Schweiz über Nahrungsmittelsubventionen indirekt Einkommen umverteilt werden – wie viel also per Saldo beispielsweise von veganen hin zu fleischbetonten Ernährungsstilen umverteilt wird.
Blick auf das Gesamtsystem
Heute wird im Zusammenhang mit der Agrarpolitik gerne auf das Gesamtsystem verwiesen. Die Umweltkosten der Landwirtschaft werden dabei zum Problem der Konsumentinnen und Konsumenten gemacht. So auch in einem Interview des Tagesanzeigers mit Christan Hofer, Direktor des Bundesamts für Landwirtschaft.
Tagesanzeiger: Wie wollen Sie die Landwirtschaft dazu bringen, weniger tierische und dafür mehr menschliche Nahrungsmittel zu produzieren?
BLW-Direktor Christian Hofer: Die Veränderung wird über die Nachfrage kommen – der Konsum muss sich in erster Linie ändern. […] Wenn wir die Tierproduktion in der Schweiz herunterfahren, importieren wir einfach mehr und exportieren die Emissionen.
Diese Erzählung kennen wir auch von den Lobbyisten der Agrarindustrie. Sie ist in hohem Mass irreführend. Die Zahlen zeigen: Die Massnahmen des Bundes behindern die Entwicklung hin zu nachhaltigeren Ernährungsstilen. Trotz allen schönen Worten: der Bund sorgt weiterhin dafür, dass diejenigen, die sich um eine nachhaltige Ernährung bemühen, finanziell benachteiligt werden.
Bevorzugte und weniger bevorzugte Ernährungsweisen
Die Politik wirkt dabei nicht nur über die Preise, sondern auch subtiler, auf psychologischer und moralischer Ebene. Der Bund macht mit seinen Fleisch- und Tiersubventionen und Werbung für «Schweizer Fleisch» eine Rundum-Versorgung für fleischbetonte Ernährung: Er sorgt für tiefe Preise, ein gutes Gewissen und patriotisch gefärbte staatliche Anerkennung.
Die Aussage: «Wenn wir die Tierproduktion in der Schweiz herunterfahren, importieren wir einfach mehr und exportieren die Emissionen», ist deshalb höchstens halbwahr.
Die Werbung für «Schweizer Fleisch» ist der beste Beleg dafür. Diese Werbung ist nur rational zu erklären, wenn das «gute Gewissen» den Fleischkonsum insgesamt fördert. Warum lässt sich das sagen? Weil die Anteile Fleisch aus dem In- und Ausland nicht von der Wahl der Konsumentinnen und Konsumenten abhängen, sondern vom Gesamtkonsum. Dafür sorgen die Importkontingente. Wenn man die Produktion von Schweizer Fleisch steigern will, muss man den Konsum von Fleisch insgesamt steigern. Genau das macht die Werbung mit dem guten Gewissen. Die Werber zielen auf eine Stärkung der Nachfrage nach Fleisch insgesamt – anders als Proviande und der Bundesrat uns glauben machen wollen.
Zudem würden die Emissionen auch bei gleichbleibendem Konsum nur teilweise exportiert, aus zwei Gründen: Erstens, weil die Produktion in der Schweiz bereits intensiver und deshalb – insbesondere bei den Umweltbelastungen mit Stickstoff – umweltschädlicher ist als in vielen Herkunftsländern von Importen. Zweitens, weil die Schweiz weit dichter besiedelt ist. Die Umweltkosten zusätzlicher Produktion sind in der Schweiz deshalb besonders hoch. Auch die frühere Einsicht, dass der Selbstversorgungsgrad kein gutes Mass für Versorgungssicherheit ist, ging beim BLW wieder vergessen.
Verantwortung und Spielraum
Zum Schluss noch einmal Christian Hofer: «Wir prüfen derzeit, ob es in der heutigen Agrarpolitik immer noch Fehlanreize gibt. […] Aber wie bereits gesagt: Wie sich die Produktion verändert, hängt stark davon ab, wie sich das Konsumentenverhalten entwickelt.»
Der Blick auf das Gesamtsystem ist gut und wichtig. Er sollte aber nicht dazu dienen, die Verantwortung und den Spielraum kleinzureden, den man selber hat. Die Verantwortung für die Umwelt und der Spielraum sind bei der Agrarpolitik besonders hoch.
Vision Landwirtschaft hat 2011 das „Weissbuch Landwirtschaft Schweiz“ veröffentlicht und darin die Fehlanreize in der Landwirtschaftspolitik mit ihren Folgen für Umwelt, Landschaft und zukünftige Generationen aufgezeigt und ganzheitliche Lösungen vorgeschlagen.
Viele der thematisierten Aspekte sind heute aktueller denn je. Es braucht deshalb nach wie vor beharrliches Engagement, um die dringend notwendigen Reformen im Bereich der Nachhaltigkeit voranzubringen. Für die Zukunft unseres Planeten rücken zentrale Fragen um Landwirtschaft und Ernährung immer mehr in den Vordergrund: Anpassung der Produktion an den Klimawandel, Reduktion der CO2-Emissionen, Fleischproduktion auf der betriebseigenen Futterbasis, standortangepasste Pflanzenzüchtung, Eliminierung von umweltschädlichen Subventionen, Reduktion des Einsatzes von Pestiziden im Pflanzenbau und Förderung der Biodiversität.
Als Impulsgeberin und Vordenkerin setzen wir mutige Wegweiser für eine Erneuerung unseres Ernährungssystems.
Jeder Beitrag zählt. Mit Ihrem Beitrag gestalten wir die Land- und Ernährungswirtschaft zukunftsgerichtet. Herzlichen Dank für Ihre Unterstützung!
Als gemeinnütziger, steuerbefreiter Verein mit Sitz in Zürich verfolgen wir den Zweck, neue Perspektiven zu liefern für eine konsequent auf die Nachhaltigkeit ausgerichtete Land- und Ernährungswirtschaft. Mehr Informationen unter Spendenund im Informationsblatt.
Am 25. September stimmen wir über die Massentierhaltungsinitiative ab. Vision Landwirtschaft überprüft Argumente und stellt ergänzende Überlegungen aus ihrer Perspektive an. Fazit: Die Initiative ist – oder wäre – ein Steilpass für die bäuerliche Schweizer Landwirtschaft. Sie wirkt sich positiv auf Produzentenpreise aus und unterstützt notwendige Entwicklungen in den Bereichen Umwelt, Ernährung und Handel.
Vision Landwirtschaft hat die Argumente der Initiant:innen und der Gegner:innen der Massentierhaltungsinitiative MTI gesichtet und geprüft.
Die Unterschiede im Stil sind enorm. Die Initiant:innen nennen auf Ihrer Webseite vier Gründe für ein Ja. Nach ihnen geht es um die Würde der Nutztiere, um die Gesundheit von Mensch und Tier, um industrielle Tierhaltung und um eine zukunftsfähige Landwirtschaft. Sie argumentieren aus unserer Sicht korrekt und sachlich. Die Gegner:innen – unter Führung des Bauernverbands (SBV) – bringen in ihrer Kampagne eine Mischung von wahren, halbwahren und unwahren Aussagen. Sie beschönigen die Schweizer Tierproduktion und machen abenteuerliche Versuche, die Massentierhaltung mit dem Wohl der Bauernfamilien und dem Überleben unserer Berg- und Alpwirtschaft zu verknüpfen. Die gröbsten Unwahrheiten kommentieren wir im untenstehenden Kasten.
Rollen von Markt und Politik verwischen
Auffallend ist einmal mehr das Verwirrspiel rund um die Rollen von Markt und Politik. Die Gegner argumentieren damit, dass die Nachfrage nach tierfreundlicheren Lebensmitteln «nicht gross genug ist» (s. Kasten). Dabei geht es in der Abstimmung genau darum, mit verbindlichen Regeln dafür zu sorgen, dass tierfreundliche Lebensmittel kein Nischenmarkt bleiben. Auch BioSuisse macht in diesem Spiel mit. Die Organisation hat zwar die Ja-Parole herausgegeben, aber der Präsident der Organisation lässt sich in der WoZ wie folgt zitieren: «Einmal mehr verlangt man etwas von der Landwirtschaft, das sich im Konsumverhalten nicht spiegelt.» Auch hier: Die Initiative sorgt ja genau dafür, dass die Konsument:innen die tierfreundlichen Produkte kaufen.
Ein Steilpass
Gemäss den Zahlen der Regulierungsfolgenstudie des Bundes ist die überwiegende Mehrheit der Schweizer Landwirtschaftsbetriebe von der Initiative nicht (93%) oder wenig (4%) betroffen. Zudem ist eine Übergangsfrist von 25 Jahren vorgesehen. Wie sich die Bäuerinnen und Bauern vom SBV über den Tisch ziehen lassen, ist bemerkenswert. Da kommt eine Initiative, die für höhere Preise und Schweiz-Prämien sorgt, und die Bauern und Bäuerinnen sagen Nein! Man setzt auf Menge statt Qualität und damit auf einen ruinösen Preiswettbewerb, den die meisten sonst beklagen. Man ist solidarisch mit Betrieben mit industrieller Tierproduktion, die den Preiswettbewerb befeuern. Problematisch ist das insbesondere bei den Schweinen und Rindern. Weil die Schweiz nur wenig Schweine- und Rindfleisch importiert, kann der zukünftig abnehmende Fleischkonsum nicht mit einer Reduktion der Importkontingente ausgeglichen werden. Die Preise werden dadurch unter Druck kommen. Für die grosse Mehrheit der Tierhaltungsbetriebe ist die Initiative deshalb ein Steilpass.
Notwendige Entwicklungen
Wie steht diese Tierwohl-Initiative in Beziehung zu Entwicklungen in weiteren Bereichen? Ist sie mit solchen kompatibel, oder gibt es Konflikte?
Hinsichtlich Umwelt, Klima und Ernährung unterstützt die Initiative die Entwicklungen, die ohnehin notwendig sind. Die MTI verlangt aber auch grosszügigere Stall- und Auslaufflächen für die Tiere. Die Ställe sind ein Problem für die Landschaft. Andererseits vermindert die vermehrte Weidehaltung Emissionen, und Emissionen durch Stallausläufe können gemäss einer Studie mit baulichen Massnahmen reduziert werden.
Auch in der Handelspolitik unterstützt die Initiative anstehende Entwicklungen. Die Handelsregeln der WTO haben im Umwelt- und Tierwohlbereich einen grossen Nachholbedarf. Die Regelungen in Umweltbelangen stammen aus den 1970er und 1980er Jahren. Die Expertin für Handelsrecht, Elisabeth Bürgi von der Uni Bern, diskutiert seit vielen Jahren gangbare Wege. Sie erläuterte dies auch im Zusammenhang mit der Initiative, im oben zitierten Artikel in der WoZ .
Politische Kultur
Der Bauernverband hat mit Economiesuisse, dem Arbeitgeber- und dem Gewerbeverband ein Tauschgeschäft vereinbart: «Ihr stimmt gegen die MTI und wir dafür für die Abschaffung der Verrechnungssteuer auf inländischen Obligationen.» Die Verbände praktizieren einen Abstimmungs-Kuhhandel, der die Meinungsbildung manipuliert und der schweizerischen Demokratie schadet. Schliesslich nutzen sie einmal mehr die fragwürdige rechtliche Situation aus, dass Landwirtschaftsland für politische Werbung zur Verfügung steht. Auch diese Aspekte können bei der Abstimmung in Rechnung gestellt werden.
Halbwahres und Unwahres auf der Webseite der Gegner (nach Themen)
(Quelle der Zitate: Webseiten der Gegner, 07.08.2022.)
Tierwohl
«Alles schon da», «Kein Mehrwert fürs Tierwohl im Ausland», «Es gibt bei uns keine systematische Verletzung des Tierwohls», «Als Herdentier wird das Huhn durch eine Vielzahl von Artgenossen in seinem Befinden nicht beeinträchtigt.», «Mehr Tiere bedeutet deshalb nicht weniger Tierwohl.»
Kommentar:
Unbelegte Behauptungen. Nur ein paar Beispiele: Masthühner mit am Ende 2 kg Gewicht haben Anspruch auf 1/15 Quadratmeter. Das entspricht der Fläche eines A4-Blatts. 40% werden in Betrieben mit über 12'000 Individuen gehalten. 8% sehen jemals den freien Himmel. Um Kannibalismus zu verhindern, werden die Schnabelspitzen entfernt. In der letzten von 5 Lebenswochen sind gesundheitliche Probleme oder Schäden normal. Ein Mastschwein von 110 kg hat Anspruch auf 0,9 Quadratmeter, 40% leben unter solchen Verhältnissen (Quelle: Seite der Initiative)
Eine Serie sehr informativer Videos zur Nutztierhaltung findet sich auf ARTE.
Umwelt
«Hält die Schweiz zu viele Tiere und muss deshalb viel Futter aus dem Ausland zukaufen? - Nein.»
Kommentar:
Diese Aussage ist irreführend, die Schweiz hält sehr viel mehr Tiere, als sie mit inländischem Futter versorgen kann. Ohne die umfangreichen Futterimporte müssten die Tierbestände deutlich reduziert werden. Die für den Standort zu hohen Tierbestände führen zu einer Verschmutzung der Umwelt mit Stickstoff und Phosphor, die in weiten Teilen der Schweiz das geltende Umweltrecht verletzt.
Industrielle Tierproduktion
«Stimmt es, dass nur 5 Prozent der Betriebe von der Initiative betroffen wären? […] Wenn man die indirekten Auswirkungen wie das Wegfallen von Beiträgen miteinbezieht, sind alle Tierhaltungsbetriebe tangiert.»
Kommentar:
Es fallen keine Beiträge an die übrigen Tierhaltungsbetriebe weg. Gemäss Schätzungen des Bundes müssten etwa 3’300 von rund 48'000 Landwirtschaftsbetrieben in der Schweiz den Tierbestand reduzieren oder die Betriebsflächen vergrössern. Das entspricht 7 Prozent der Betriebe. Die Auswirkungen der Initiative betreffen somit nur einen begrenzten Teil der Landwirtschaft. Das Futter für diese industrielle Tierproduktion wird zum grössten Teil importiert; beispielsweise gäbe es ohne kontinuierliche Importe von Kraftfutter und Tieren in der Schweiz keine Mastpouletproduktion. Diese Tierproduzenten arbeiten faktisch als Lohnmäster für die Fleischindustriebetriebe wie Bell (Coop) und Micarna (Migros).
Regionale Produktion
«Wir sind zur Versorgung der Bevölkerung auf umfangreiche Importe angewiesen».
Kommentar:
Bleibt der Fleischkonsum unverändert hoch, so nehmen die Fleischimporte zu. Dafür fallen Hunderttausende von Tonnen Kraftfutterimporte (Weizen, Soja etc.) weg. Ginge der Fleischkonsum zurück, so wären keine Fleischimporte mehr nötig. Aber genau das wollen die Gegner:innen verhindern.
Marktnachfrage und Bauernfamilien
«Nur wenn die Nachfrage nach noch tierfreundlicheren Lebensmitteln gross genug ist, können es sich die Bauernfamilien leisten, ihre Produktion anzupassen.»
Kommentar: s. Haupttext.
Berglandwirtschaft
«Dann würden auch die Alpenweiden nicht mehr genutzt und stattdessen verwalden. Die Landschaft im Berggebiet würde sehr eintönig.»
Kommentar:
Diese Aussage ist falsch. Die heutige industrielle Tierhaltung ist weitgehend bodenunabhängig, v.a. bei Geflügel und Schweinen. Bei einer Annahme der Initiative sind nicht weniger Tiere auf der Weide, sondern mehr, und es braucht nicht weniger, sondern mehr Weiden. Die Nutzung der Alpweiden und der Flächen im Berggebiet wird durch die Annahme der Initiative nicht verändert.
Für die nationale Agrarpolitik besteht die Klimastrategie aus dem Jahr 2011. Daraus wurden zwar mögliche Handlungsfelder und Visionen abgeleitet, aber bisher keine Massnahmen verabschiedet. Der Entwurf für die nationale Klimastrategie liegt Vision Landwirtschaft vor. Der Massnahmenplan dazu wird aktuell vom BLW und einer Begleitgruppe ausgearbeitet. Abschluss und die Publikation beider Teile ist Ende 2022 vorgesehen. In der nationalen Agrarpolitik ist das Ziel klar definiert: Der Treibhausgas-Fussabdruck in Bezug auf die Ernährung soll um mindestens zwei Drittel reduziert werden bis 2050. Das ist kein besonders ambitioniertes Ziel, aber um es überhaupt zu erreichen, braucht es rasche, umsetzbare und wirksame Massnahmen. Die Entwicklung der landwirtschaftlichen Treibhausgas-Emissionen zeigt, dass die Ziele aktuell verfehlt werden. Es sind somit zusätzliche Anstrengungen nötig, um die Emissionen wieder auf Kurs zu bringen.
In einigen Kantonen, wurden bereits einige Massnahmen zum Klimaschutz in der Landwirtschaft verabschiedet. Interessant ist, dass dort die landwirtschaftlichen Massnahmen einen breiten politischen Konsens erreichen. Diese Massnahmen gehen in verschiedene Richtungen und daher bietet sich ein Vergleich der kantonalen Klimastrategien an (Tabelle Klimaschutz in den Kantonen Vision Landwirtschaft).
Die meisten Kantone haben in ihren Klimastrategien den Bereich Landwirtschaft anders behandelt als die Bereiche Mobilität und Wohnen. Die Zielvorgaben sind weniger streng. Auffällig ist, dass einige Kantone auch Massnahmen zu Ernährung und Konsum verabschiedet haben, andere hingegen verfolgen einen rein technischen Ansatz, die Treibhausgase auf den Betrieben zu reduzieren. Die meisten der Kantone verfolgen zudem Anpassungsmassnahmen an die bereits heute akuten Probleme der Landwirtschaft durch den Klimawandel, die jedoch keine Senkung der Emissionen bringen. In Kantonen mit hohen Tierbeständen ist eine Senkung der Emissionen jedoch nur möglich, wenn die Tierbestände reduziert werden. Dies wiederum ergibt nur Sinn, wenn gleichzeitig das Ernährungsverhalten der Konsument:innen sich anpasst, weil sonst einfach mehr tierische Produkte importiert werden. Im Kanton Luzern wird auch die Massnahme «Tierbestände reduzieren» vom Luzerner Bäuerinnen und Bauernverband mitgetragen.
Spezialfall Graubünden
Im interkantonalen Vergleich wurden im Kanton Graubünden die ehrgeizigsten und konkretesten Klimaschutz-Ziele für den Bereich Landwirtschaft beschlossen (s. Tabelle Vision Landwirtschaft). Am 3.Mai 2022 wurde der Bericht Treibhausgase aus der Bündner Landwirtschaft präsentiert, in dem die Resultate und Erkenntnisse aus der Klimabilanzierung von 52 Pilotbetrieben vorgestellt werden. Bezüglich der analysierten Betriebszweige und Anbaumethoden kommt der Bericht zum Schluss, dass aus systemischer Perspektive insbesondere eine standortangepasste Tierhaltung erfolgsversprechend ist. Dies bedeutet: Tierhaltung ausschliesslich auf Flächen, die nicht für den Anbau von Kulturen für die direkte menschliche Ernährung geeignet sind (Feed-no-Food). Im Rahmen einzelner Betriebszweige liegt hingegen ein grosses Potential im Bereich der Hofdüngersysteme und im Humusaufbau. Die Autor:innen halten fest, dass die gegenwärtig verfügbaren Handlungsoptionen nicht ausreichen werden, um eine «klimaneutrale» Landwirtschaft zu erreichen.
Nationale Agrarpolitik
Die Treibhausgasemissionen aus der schweizerischen Land- und Ernährungswirtschaft wurden auch von der Agroscope untersucht. Sie haben die technischen Lösungen analysiert und zeigen auf, dass die Emissionsreduktion in der Produktion mit technischen Möglichkeiten begrenzt ist. Die Studie zeigt, dass mit einem veränderten Konsumverhalten viel mehr Emissionen eingespart werden können. Die Reduktion des Konsums von tierischen Produkten ist dabei der entscheidende Hebel.
Im Entwurf zur Klimastrategie des BLW wird der Ansatz der gleichzeitigen Veränderung von Konsum- und Produktionsmustern wie folgt beschrieben: «Mit einer Ernährung, welche sich an den Empfehlungen der Schweizer Lebensmittelpyramide ausrichtet, können neben der Förderung der Gesundheit der Bevölkerung gleichzeitig der Treibhausgas-Fussabdruck der Ernährung sowie weitere negative Umweltwirkungen mehr als halbiert werden. Die Produktion passt sich dahingehend an, dass die ackerfähigen Flächen für die direkte menschliche Ernährung genutzt und die verbleibenden Tiere mit Gras der natürlichen und nicht-ackerfähigen Grünlandflächen sowie Abfällen aus der Lebensmittelproduktion versorgt werden. Insgesamt könnte so bei gleichbleibender Bevölkerungszahl der Selbstversorgungsgrad um 20 Prozentpunkte anwachsen.»
Es braucht griffige Massnahmen
Gemäss Pyramide essen wir heute dreimal zu viel Fleisch. Um das zu ändern, müssen zuerst einmal die Fehlanreize in der Agrarpolitik beseitigt werden und die Produktion von pflanzlichen Produkten mehr Förderung erhalten. Kostenwahrheit bei den Lebensmitteln führt den Konsument:innen die wahre Gewichtung der Nahrung vor Augen. Zudem braucht es eine konsequente Nutzung der ackerfähigen Flächen für die direkte menschliche Ernährung. Weitere Massnahmen wie Lenkungsabgaben auf importierte Futtermittel und Reduktion der Tierbestände sind nötig. Interessant wird es nun sein, ob die Entscheidungsträger:innen und auch die Bevölkerung bereit sein werden, die deutlichen Resultate aus Forschung und Pilotprojekten umzusetzen. Damit Massnahmen in der Ernährung auch Wirkung zeigen, braucht es einen umfassenden Einbezug der Bevölkerung und der gesamten Wertschöpfungskette vom landwirtschaftlichen Betrieb über die Verarbeiter, den Handel bis zu den Konsument:innen. Projekte wie der nationale Bürger:innenrat für Ernährungspolitik können dazu einen Beitrag leisten. Entscheidend sind aber die Massnahmen aus der Agrarpolitik, denn die zukünftige Entwicklung der Treibhausgas-Emissionen aus der Landwirtschaft ist abhängig davon, ob Vorschriften und eine Verstärkung der Anreizprogramme in der Agrarpolitik etabliert werden können.
Quellen:
Treibhausgasemissionen aus der schweizerischen Land- und Ernährungswirtschaft, - Bretscher et al. (2014)
(VL) Die Schweiz lagert im Auftrag des Bundesamtes für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) 17’000 Tonnen importierten Stickstoffdünger in Pflichtlagern. Gleichzeitig müssen Landwirt:innen aus der Zentralschweiz, die wegen zu hohen Tierbeständen Hofdünger-Überschüsse haben, Hofdünger in andere Kantone oder sogar ins Ausland exportieren (s. Agrarbericht 2021, Hoduflu Datenauswertung).
Da stellt sich die Frage, ob es eine Option für die Schweizer Landwirtschaft wäre, wenn Betriebe vermehrt anstatt importiertem Kunstdünger tierischen Hofdünger wie Mist und Gülle einsetzen würden? Aus Sicht der Klima- und Umweltperspektive ist eines klar: Zuviel Dünger, ob Hofdünger oder Kunstdünger, schädigt die Umwelt massiv, was in der Schweiz seit Jahren der Fall ist. Um die natürlichen Ressourcen Wasser, Boden, Luft und Biodiversität zu schützen, muss die Düngermenge in der Landwirtschaft reduziert werden.
Zu viel Dünger schadet der Umwelt und bringt kaum Mehrerträge
Eine Studie der ETH (ETH News 2020/11) zeigt auf, dass mit extrem hohen Düngemengen nur wenig mehr Ertrag herausgeholt werden kann. Die ETH-Forscher David Wüpper und Robert Finger von der Professur für Agrarökonomie und ‑Politik kommen zum Schluss, dass die Düngung in vielen Ländern verringert werden könnte, ohne dass die Erträge markant einbrechen würden. Es stellt sich also die Frage, wo das Optimum unter ganzheitlicher Systembetrachtung liegt (Erträge, Kosten/Nutzen, Umweltschädigung), ob es Optimierungen beim Einsatz von verschiedenen Düngertypen gibt und wo die Vor- und Nachteile bei Alternativen für Kunstdünger liegen?
Vor- und Nachteile von Kunst- und Hofdünger
Kunstdünger sind mineralische Düngemittel, die in der Schweiz primär im Ackerbau verwendet werden. Der Vorteil von Kunstdünger ist, dass er sehr gezielt eingesetzt werden kann und von den Pflanzen schnell aufgenommen wird. Der Nachteil von Kunstdünger: Die Herstellung von Kunstdüngern verbraucht grosse Mengen an Energie für die Stickstoffherstellung, beutet endliche fossile Lagerstätten aus für die Phosphor-Gewinnung, zerstört Landschaften und verschmutzt Gewässer. Pro Tonne produziertem Ammoniak werden zwei Tonnen klimaschädliches Kohlenstoffdioxid freigesetzt.
Das Verfahren zum Synthetisieren von Stickstoffverbindungen aus Luftstickstoff ist so energieintensiv, dass es sich wirtschaftlich nur bei extrem günstigen Energiepreisen lohnt. Wenn also die Energiekosten durch Krisensituationen steigen oder Importe erschwert sind, steigen die Preise von Kunstdünger massiv und die Verfügbarkeit sinkt. Umgekehrt sind Hofdünger wie Gülle und Mist in der Schweiz wegen der zu intensiven Tierhaltung im Überfluss vorhanden. Der Nachteil von Hofdünger ist, dass die Nährstoff-Zusammensetzung sehr stark variiert, ein Teil der Nährstoffe für Pflanzen nicht direkt verfügbar ist, und eine zeitlich präzise Düngung von Ackerkulturen erschwert ist. Hinzu kommt, dass Hofdünger bei falscher Lagerung und Ausbringung die Umwelt stark belastet. Viele Landwirt:innen klagen auch über zunehmende Schwierigkeiten bei der Ausbringung von Hofdünger, wenn - wie im letzten Sommer - Dauerregen und Überschwemmungen angesagt sind. Auch lange Trockenperioden machen die Hofdüngerausbringung schwierig, und die extremen Wettersituationen werden mit der Klimakrise weiter zunehmen. Wohin mit dem Hofdünger in solchen Situationen, wenn die Lagerkapazität auf dem Hof erreicht ist? Viele Landwirt:innen sind damit überfordert und es braucht Unterstützung und Beratung in der Praxis.
Ersatz von Kunstdünger durch Hofdünger bedingt Systemanpassungen
Weil Kunstdünger in der Handhabung und hinsichtlich Wirkung viel einfacher sind, setzen viele Acker- und Gemüsebaubetriebe vor allem Kunstdünger ein. Denn Acker- und Gemüsekulturen lassen sich mit Kunstdünger einfacher und präziser düngen. Dies mindert das Risiko von Ertragsreduktionen. Zudem ist vielfach das Know-how nicht mehr vorhanden, um ein effektives und umweltschonendes Hofdüngermanagement umzusetzen. Eine Umstellung von Kunstdünger auf Hofdünger ist anspruchsvoll und setzt eine fachkundige Beratung voraus. Es braucht dazu u.a. eine Anpassung der Fruchtfolge (mehr verschiedene Kulturen und Kunstwiesenanbau) und ein Anbau von Leguminosen. Um den Stickstoff für die Pflanzen verfügbar zu machen, braucht es zudem eine lebendige, vielfältige Bodenfauna (u.a. Regenwürmer, Mikroorganismen), die den Stickstoff mineralisieren und damit freisetzen. Ein solches System zu entwickeln, braucht Zeit, Wissen und Erfahrung. Dass das aber möglich ist, beweisen viele Betriebe schon heute, z.B. Biobetriebe oder Betriebe, die konservierende oder regenerative Landwirtschaft betreiben. Diese Betriebe erwirtschaften auch mit Hofdünger stabile Erträge. In der Schweiz wäre ein weiterer Hebel für eine Umstellung das Subventionssystem, das heute starke Anreize für hohe Erträge setzt und Umweltbelastungen durch Überdüngung in Kauf nimmt – auch weit über die gesetzlichen Grenzwerte hinaus.
Ernährungssicherheit ohne Kunstdünger?
Die zentrale Frage bleibt: Können wir die heutige Ernährungssicherheit mit deutlich weniger Kunstdünger gewährleisten? Über kurz oder lang kommen wir nicht darum herum, den Einsatz von Kunstdünger – aber auch Hofdünger – massiv zu verringern. Denn die Herstellung und Beschaffung von importiertem Kunstdünger ist unter Krisenzeiten ein grosses Risiko. Wir kommen also nicht darum herum, unseren Ackerbau auf innovative Anbausysteme umzustellen und natürliche Kreisläufe und Dienstleistungen der Natur intelligenter zu nutzen. Das vorhandene Wissen muss noch breiter Eingang in die Praxis finden. Fachleute sind der Meinung, dass es möglich sein sollte, auch ohne Kunstdünger und durch eine effizientere Nutzung von Hofdünger (moderne Lager‑, Ausbring- und Aufbereitungstechnik) gute bis hohe Erträge erzielen zu können. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist auch, dass ein Wandel im Ackerbau in direktem Zusammenhang mit unserem Ernährungsverhalten steht. Wenn wir unsere Ernährung verstärkt von tierischer auf pflanzliche umstellen, bietet das viel mehr Spielraum für die Entwicklung nachhaltiger und standortangepasster Anbausysteme. Zudem würden dadurch die schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt massiv reduziert, wir würden deutlich weniger abhängig von Importen und unsere Landwirtschaft damit krisenresistenter und versorgungssicherer.
Die Agronomin Laura Spring wird am 15. März 2022 die Nachfolge von Mirjam Halter antreten. Die 37jährige konnte nach ihrem Studium an der ETH Zürich zuerst bei Bio Suisse und danach bei deren Tochterfirma ICBAG viel Erfahrung in der nachhaltigen Landwirtschaft im In- und Ausland sammeln. «Die Landwirtschaft ermöglicht uns ein gutes Leben, weil sie Nahrungsmittel produziert. Gleichzeitig trägt sie eine grosse Verantwortung gegenüber unseren Lebensgrundlagen. Dieses Spannungsfeld birgt immer Zielkonflikte, und für diese Lösungen aufzuzeigen, das sehe ich als Aufgabe von Vision Landwirtschaft!», sagt die designierte Geschäftsleiterin.
Neben ihrem früheren Engagement als Geschäftsleitungsmitglied und Leiterin Qualitätsmanagement der ICBAG konnte Laura Spring auch in ihren politischen Tätigkeiten für die Grünen (aktuell Kantonsrätin im Kanton Luzern) und für verschiedene NGO's Erfahrungen in Kampagnen- und Öffentlichkeitsarbeit sammeln.
Nach Swissmilk fällt auch Proviande mit irreführender Werbung auf. Dieser Newsletter beleuchtet die rechtliche Situation, die Beschwerdemöglichkeit bei der Schweizerischen Lauterkeitskommission (SLK) und die neusten Entscheide der SLK im Zusammenhang mit Landwirtschaftsprodukten. Eine Beschwerde zur Proviande-Werbung soll zeigen, ob auf diesem Weg dem verbreiteten Greenwashing Grenzen gesetzt werden können. Als problematisch stellt sich heraus, dass die SLK für die Beurteilung Monate benötigt – länger als viele Werbekampagnen dauern.
(VL) Die zunehmende Sensibilisierung bei den Konsumentinnen und Konsumenten ist definitiv bei den landwirtschaftlichen Produzentenorganisationen angekommen. Das grüne Marketing ist unübersehbar, gerade bei tierischen Erzeugnissen mit ihren problematischen Umweltauswirkungen. Wenn der grüne Anstrich mit dem Inhalt nicht übereinstimmt, spricht man von «Greenwash», und davon gibt es viele Ausprägungen. Ein besonders dreistes Werbeprinzip: Lebensmittel mit den Attributen «nachhaltig» und «umweltfreundlich» anhand eines nicht repräsentativen Beispiels anpreisen und bewusst darauf abzielen, dass die gesamte Palette der angebotenen Lebensmittel als nachhaltig und umweltfreundlich wahrgenommen wird. Dabei wird unterschlagen, dass die grosse Mehrheit der angebotenen Produkte aus konventioneller, umweltbelastender und -schädlicher Produktion stammt.
Lauterkeitsrecht und Lauterkeitskommission
Rechtlich gesehen ist jedoch nicht alles möglich. Das Lauterkeitsgesetz (Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb UWG) soll einen lauteren und unverfälschten Wettbewerb gewährleisten. Der Grundsatzartikel in diesem Gesetz (Art. 2 UWG) setzt für die Anwendung des Lauterkeitsrechts zwei Bedingungen voraus, die beide erfüllt sein müssen: Es muss (1) eine Täuschung und/oder ein Handeln wider Treu und Glauben vorliegen, und (2) das unlautere Verhalten muss den Markt beeinflussen. Die folgenden Artikel nennen Beispiele, darunter (Art. 3 b): «Unlauter handelt insbesondere, wer […] über […] seine Waren […] unrichtige oder irreführende Angaben macht […].» In der Schweiz gibt es aber bisher nur wenige gerichtliche Entscheide zum Lauterkeitsrecht. Wie in vielen Bereichen setzt man auf Selbstregulierung.
Die Schweizerische Lauterkeitskommission (SLK) hat selbst einen etwas irreführenden Namen. Sie ist nämlich kein staatliches Organ, sondern die Selbstregulierungsorganisation der Werbe- und PR-Branche. Sie erlässt Empfehlungen, die Werbetreibende umsetzen können, wenn sie rechtliche Risiken, Klagen und Strafverfahren vor staatlichen Behörden vermeiden wollen. Die Empfehlungen sind nicht verbindlich, haben aber über die Reputation eine gewisse Wirkung. Jede und jeder kann bei der SLK Beschwerde gegen unlautere kommerzielle Kommunikation einreichen. Beispiele aus den vergangenen Jahren geben eine Vorstellung davon, wie die Kommission entscheidet und argumentiert (s. Kasten).
«Lovely fördert die Biodiversität»
Aktuell ist bei der SLK eine Beschwerde von Pro Natura pendent. Bei Pro Natura ist die neuste Lovely-Kampagne der Schweizer Milchproduzenten mit Botschaften wie «Lovely fördert die Biodiversität» schlecht angekommen. Die Werbung ist irreführend, denn die Milchproduktion auf dem heutigen Produktionsniveau führt nachweislich zu einer grossflächigen Überdüngung von naturnahen Lebensräumen. Da der Schweizer Milchviehbestand schon heute weit mehr Futter braucht, als Wiesen und Weiden hergeben, kann die Werbung für mehr Milch nur das Gegenteil von dem bringen, was sie verspricht: nämlich mehr Kraftfutterproduktion (Futtergetreide) auf den inländischen Äckern, hohe zusätzliche Kraftfutterimporte und damit mehr Gülle und Ammoniak und damit weniger Biodiversität.
Die Schweizer Milchproduzentenorganisation (Swissmilk) hat nun Gelegenheit, ihre Sicht der Dinge darzulegen. Anschliessend ist die SLK am Zug. Der Entscheid der SLK wird für Februar 2022 erwartet. Man lässt sich also viel Zeit, länger als viele Werbekampagnen dauern.
Fleischwerbung von Proviande
Ähnlich bunt treibt es auch Proviande in Sachen Greenwash. Mit einem Werbefilm, der unter anderem im Vorspann von Kinofilmen und im Fernsehen läuft, bewirbt Proviande Schweizer Fleisch unter dem Titel «Futter direkt vom Hof».
Vorgeführt wird uns ein Rindermastbetrieb mit ausschliesslich hofeigenem Futter: (Bauer) «Ich mach e Weidemast mit de Rinder und mit de Ochse. Si chöme nur das Futter über, wo uf unserem Hof wachst. Wemmer mee Fläche hättet, hette mer vilicht mee Tier, aber mir händ es troches Gebiet und bi üs wachst nid mehr Gras. Das heisst, wemmer nid mehr Gras händ, hämmer eifach au nöd mehr Tier.» (Bäuerin) «Will das einfach au unseri Philosophie isch.» (Cut, Text einblenden): «Der feine Unterschied». «Schweizer Fleisch». (Ende)
Es wird uns suggeriert, dass diese Philosophie der Fütterung typisch ist für Schweizer Fleisch – dies also dem Standard entspreche und Schweizer Fleisch immer nachhaltig und umweltfreundlich produziert würde. Vision Landwirtschaft hat sich bei der eidgenössischen Forschungsanstalt Agroscope nach genauen Zahlen erkundigt. Die Daten von Agroscope zeigen: In der Mutterkuhhaltung und bei «Mastkälbern und Rindermast» wird – basierend auf der Stichprobe der Agroscope – in mehr als neun von zehn Fällen Futter zugekauft.
Irreführung – gekonnt und bewusst
Es ist der bekannte Trick: einen (vorbildlichen) Einzelfall auswählen und hervorheben und den psychologischen Effekt nutzen, dass wir dessen Eigenschaften unbewusst auf andere (nicht vorbildliche) Fälle übertragen. In der Sozialpsychologie spricht man vom Halo-Effekt. Der gezeigte Hof «strahlt» auf alle anderen Rindermastbetriebe ab. Bei den KonsumentenInnen, die den Einzelfall nicht einordnen können, entsteht ein Eindruck, der mit den Tatsachen wenig zu tun hat. Die Marketing-Profis wissen dabei genau: Entscheidend ist, dass Informationen, die eine Einordnung des vorbildlichen Einzelfalls erlauben würden, in der Werbung bewusst zu vermeiden sind.
In Erinnerung zu rufen ist hier auch, dass der Bund die Proviande-Werbung mit Steuergeldern subventioniert, was vielen Leuten nicht bewusst ist.
«Rinder in der Schweiz fressen 91,5% einheimisches Futter»
Neben dem Werbefilm sind auch einige Aussagen auf der Webseite von Proviande zu beanstanden, weil sie irreführend sind oder nicht den Tatsachen entsprechen (vgl. Einzelheiten und Belege im Brief an die SLK):
Die Aussage, dass Rinder in der Schweiz 91,5% einheimisches Futter fressen, bezieht sich auf die Trockenmasse und nicht auf den Energiegehalt oder gar den Gehalt an besonders wertvollen Nährstoffen (Protein). Vereinfacht gesagt: Es wird Gras und Heu mit punkto Energie- und Proteingehalt hochkonzentriertem Sojafutter aufgewogen.
«Bei der Fleischproduktion kann die Schweiz auf ihren sehr hohen Selbstversorgungsgrad stolz sein: Mit 83,8% beim Rind, 92,7% beim Schwein und 67,2% beim Geflügel weist die Produktion bei den drei beliebtesten Fleischarten einen sehr guten Wert aus. Insgesamt beträgt der Inlandanteil über die gesamte Fleischproduktion 81%.» Im Zusammenhang der Versorgungssicherheit (in den der Satz gestellt wird), sind diese Zahlen zumindest irreführend. Denn sie beziehen sich auf den sog. Brutto-Selbstversorgungsgrad, der die Produktion mit importierten Futtermitteln als Selbstversorgung wertet. Gemäss einer Studie der ZHAW wird von den 500'000 Tonnen «Schweizer Fleisch» nur knapp die Hälfte mit Schweizer Futter produziert.
«Die Landwirtschaft in der Schweiz hat eine lange Tradition und wird auch durch staatliche Subventionen gestützt. Denn aus einer rein ökonomischen Perspektive lohnt sich die Landwirtschaft in der Schweiz nicht: Zu teuer wäre die Produktion im Vergleich zum Ausland.» Die Aussage soll vermutlich die Zahlungsbereitschaft für Schweizer Fleisch (und Subventionen für Schweizer Fleisch) erhöhen. Der zweite Satz des Zitats ist schlicht falsch.
Vision Landwirtschaft will wissen, was die Lauterkeitskommission zu diesen Fällen sagt und hat der SLK ein Beschwerdeschreiben zugestellt.
Weitere Hinweise auf Greenwash
Anlass zu diesem Newsletter gab ein Hinweis von einem Mitglied und Newsletter-Abonnenten, dem der Proviande-Werbespot im Kino vorgesetzt wurde. Vision Landwirtschaft will auch 2022 an diesem wichtigen Thema dranbleiben. Wir nehmen gerne weitere Hinweise auf fragwürdige Werbebotschaften entgegen – solche von Branchenorganisationen wie Proviande oder beispielsweise auch von Detailhändlern oder Gastrounternehmen.
«Logenplätze für unser Geflügel» (nicht beanstandet)
«Erhöhte Schlafplätze» (nicht beanstandet)
Auszug aus Begründung SLK: «Der Durchschnittsadressat vermag grundsätzlich zu erkennen, dass die Abbildungen und Darstellung nicht 1:1 den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen. Daher ist vorliegend weder der Gesamteindruck des vorliegenden Werbemittels noch die Bewerbung der erhöhten Schlafplätze zu beanstanden, da diese nicht in tatsächlichem Widerspruch zu den gesetzlichen Grundlagen stehen.»
«Ausserdem hat das Geflügel in BTS-Ställen tagsüber stets Zugang zu einem Wintergarten» (als irreführend beurteilt)
Auszug aus Begründung SLK: «Wie die Beschwerdegegnerin selber ausführt, ist dieser Zugang zu einem Aussenklimabereich für Mastpoulets in den ersten 21 Lebenstagen freiwillig, da es sogar im Sinne des Tierwohles sei, wenn die Tiere in dieser Zeit keinen solchen Zugang haben. Darüber hinaus ist nicht bestritten, dass die Tiere üblicherweise im Alter von 22-37 Tagen geschlachtet werden.»
«90 % der Schweizer Bauernbetriebe bewirtschaften ihre Fläche nach dem ÖLN, dem Leistungsnachweis für eine umweltgerechte und nachhaltige Landwirtschaft. Das beschert Lovely und ihren Freundinnen ein gutes Leben.» (nicht beanstandet)
Auszug aus Begründung SLK: «Der Durchschnittsadressat geht davon aus, dass Schweizer Kühe ein «gutes Leben» führen, sofern die hiesigen Vorgaben der Tierschutzgesetzgebung, welche im Vergleich zu ausländischen Rechtsordnungen als streng gelten, eingehalten werden. Eine Unrichtigkeit der Aussage lässt sich, zumal der Beschwerdeführer keine konkreten Gesetzesverstösse geltend macht, nicht feststellen. Was ein «gutes Leben» ist, ist nicht absolut bestimmbar oder objektiv messbar, sondern letztlich rein subjektive Ansichtssache.»
«Übrigens: Schweizer Kühe sind glückliche Kühe, dank Familienanschluss und Weidehaltung.» (nicht beanstandet)
Auszug aus Begründung SLK: «Nach bisheriger, bereits erwähnter Entscheidpraxis der Lauterkeitskommission erachten die Durchschnittsadressaten Kühe dann als «glücklich», wenn die strikten Vorgaben der Schweizer Tierschutzgesetzgebung eingehalten werden. […] Die Vorstellung des Beschwerdeführers, wann eine Kuh «glücklich» sei, entspricht daher nicht dem Verständnis der Durchschnittsadressaten. Der Begriff «Familienanschluss» im Zusammenhang mit «glücklichen» Kühen wird von den Durchschnittsadressaten in der Schweiz nämlich dahingehendverstanden, dass diese Kühe in den Kreis einer Familie, d.h. einer Bauernfamilie, einbezogen werden. Bei domestizierten Tieren, die durch eine Familie gehalten werden, wird dieser Ausdruck oft verwendet. Die Durchschnittsadressaten sind sich den Tatsachen bewusst, dass einerseits der Grossteil der Landwirtschaftsbetriebe in der Schweiz familiengeführte Betriebe sind, und dass andererseits ein «Familienleben» im Sinne einer Lebensgemeinschaft von Stier, Kuh und Kalb oder auch nur von Kuh und Kalb (Mutterkuhhaltung) oder gar eine Herdenhaltung nach wie vor eine absolute Seltenheit darstellt.»
Die Gastronomie und die öffentlichen Institutionen hätten als Abnehmerin von biologisch zertifizierten Lebensmitteln für den Wandel hin zu einer biologischen Landwirtschaft Vorbildfunktion (vgl. Juli Newsletter). Die Schweiz steckt hier jedoch noch in den Kinderschuhen: vergebens sucht man hier zu Lande Pilotprojekte wie beispielsweise die Stiftung House of Food (von der Stadt Kopenhagen 2007 ins Leben gerufen), welche Wissen zum Wandel von Gross- und Gastronomieküchen hin zu biologischer und nachhaltiger Lebensmittelzubereitung vermittelt und prozessbegleitend tätig ist. House of Food zeigt auf, dass ein Wandel in den institutionellen Küchen und der Gastronomie absolut möglich ist: so haben im Laufe von 10 Jahren in Kopenhagen und Aarhus 1´600 öffentliche Verpflegungsbetriebe zu 90 % auf Bioprodukte umgestellt. In der Schweiz jedoch mangelt es nach wie vor an Druck und Richtungsweisung aus der Politik, damit ein biologisches Liefer- und Produktionssystem für Institutionen und Gastronomie entstehen kann. >> Ganzen Newsletter als PDF lesen
Am Beispiel Murhof Betreutes Wohnen & Pflege in St.Urban im Kanton Luzern wird jedoch sichtbar, dass alternative Wege möglich sind: Der Murhof befindet sich in der Vorbereitung zur Demeter-Zertifizierung. Zertifiziert werden soll nicht nur die Küche, sondern der Gesamtbetrieb als erste Institution in der Schweiz. Die Küche wurde seit der Übernahme durch Heimleiter Hansueli Eggimann 2017 gänzlich auf Bio umgestellt. Doch wie ist dies finanziell realisierbar? Wie schafft der Murhof, was andere als unmöglich deklarieren, nämlich eine Grossküche komplett auf Bio und zukünftig sogar Demeter umzustellen? Im Vergleich mit konventionellen Grossküchen arbeitet der Murhof nicht mit einem einzigen Lieferanten zusammen, sondern baut auf ein Lieferanten-Netzwerk, welches sich über die Jahre entwickelt hat. Der Fokus liegt auf der Verarbeitung von regionalen Produkten. So ist der Kern dieses Netzwerks die aktive und enge Zusammenarbeit mit drei Demeterbauern und weiteren Biobetrieben aus der Region. Dazu kommt ein regionaler Metzger. Ein weiterer Pfeiler ist der Lieferant Biopartner. Das erste Argument grosser Betriebe und Gastronomieunternehmen, sich einer Umstellung zu verwehren, ist stets, dass die Mehrkosten, die durch die Verwendung von Biolebensmitteln entstehen, nicht tragbar seien.
Heimbewohner helfen mit bei der Küchenarbeit
Der Murhof verfolgt hier auf mehreren Ebenen einen integrativen Gedanken: Der Mehraufwand, der bei der Aufbereitung der Frischprodukte (schälen, rüsten, reinigen) anfällt, wird hier zum einen durch die BewohnerInnen des Heimes mitgetragen. Sie werden in die Küchenarbeit eingebunden. Dies entspricht dem ganzheitlichen Ansatz des Heimes: möglichst viel Selbstbestimmung und Mitgestaltung des gemeinschaftlichen Lebens. Zudem arbeitet der Murhof mit IV-gestützten MitarbeiterInnen zusammen – auch hier wird dem integrativen Ansatz Rechnung getragen. Durch den Einkauf bei den Bauern aus der Region sind die Preise tiefer, da kein Zwischenhandel stattfindet. Aber auch die Bauern profitieren: sie haben einen zuverlässigen Abnehmer und erhalten einen höheren Preis, als wenn sie an den Handel liefern würden. Vom Küchenchef des Murhofs werden Kreativität und Flexibiltät verlangt. Er steht im ständigen Austausch mit den Produzenten und erstellt die Küchenplanung basierend auf deren Angebot. Dies ist für beide Seiten ein Gewinn.
Gelebte Kreislaufwirtschaft
Dies bestätigt auch der Biobauer Pirmin Bucheli (aktuell in der Umstellung zum Demeterbetrieb). Der Murhof ist Abnehmer seiner Fleischprodukte. Bucheli legt Wert darauf, dass sein Hof möglichst nachhaltig und im Sinne der regionalen Kreislaufwirtschaft bewirtschaftet wird. Auf den artenreichen, extensiven Weideflächen hält er Rinder. Die Legehennen für die Eierproduktion haben einen artgerechten Auslauf und 50 Hähne. Seine Vision ist es, auf Zweinutzungshühner und Bruderhahnaufzucht umzustellen. Als ersten Schritt hat er die Lebensdauer seiner Hybrid-Legehennen um 6 Monate auf 2 Jahre verlängert. Zudem lässt er die Legehennen zu wertvollen Fleischprodukten verarbeiten: er produziert Fleischkäse, Würste und Suppenhühner, anstatt das schmackhafte Fleisch in einer Biogasanlage entsorgen zu lassen. Des Weiteren produziert er einen beachtlichen Teil seines Futtergetreidebedarfs auf dem eigenen Betrieb. Seine Vorstellung ist eine Kreislauflandwirtschaft und die regionale Entwicklung hin zu einem lokalen Ernährungssystem. Als Bauer und Gemeinderat der Gemeinde Pfaffnau weiss er, wie wichtig eine enge Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten ist – denn nur so kann eine regionale Wertschöpfungskette aufgebaut werden. Eingebettet in ein solches Netzwerk, kann jeder der beteiligten Akteure – seien es ProduzentInnen oder AbnehmerInnen – Schritt für Schritt seinen Betrieb hin zur nachhaltigen Bewirtschaftung weiterentwickeln.
v.l.n.r.: Ueli Eggimann (Projektleiter), Laura De Sousa (Küche), Hansueli Eggimann (Institutionsleiter), Pirmin Bucheli (Landwirt, Gemeinderat) Ideelle Unterstützung durch Gemeinde
Wie sieht denn am Beispiel des Murhof die Rolle der Politik – hier der Gemeinde – aus? Der Impuls und die Vision kommen ganz klar vom Murhof, also aus dem Betrieb selbst. Dieser wird von der Gemeinde jedoch gefördert, dies nicht zuletzt, weil sich der Murhof wirtschaftlich trägt. Die Gemeinde unterstützt das Projekt ideell, sie anerkennt den Leuchtturmcharakter und damit die überregionale Bedeutung des Projektes Murhof. Zu Beginn war der jetzige Küchenchef des Murhofs dem Unterfangen Biozertifizierung gegenüber skeptisch eingestellt, weil er sämtliche gewohnten und gelernten Abläufe verwerfen und neu überdenken musste. Doch seit der erste regionale Produzent mit seinen Produkten in der Grossküche stand und damit ein persönliches Zusammentreffen stattfand, steht er zu 100% und als treibende Kraft hinter dem Umstellungs- und Zertifizierungsprozess. Heute liegt der Anteil regionaler Frischprodukte bei 70%, mit zunehmender Tendenz.
Gemeinschaftsverpflegung regional und ökologisch
Am Beispiel des Murhof, seiner Kollaboration mit den Landwirtschaftsbetrieben und dem Dorfmetzger, wird deutlich, dass auch in der Schweiz eine Gemeinschaftsverpflegung mit regionalen und ökologisch produzierten Lebensmitteln möglich ist. Es ist also höchste Zeit, diesen strukturellen Wandel anzupacken. Noch ist es so, dass die Schweizer Gastronomie-Zustellgrosshändler wie Howeg und Saviva (ehem. Scana) keine zwischenverarbeiteten Produkte anbieten, die nachhaltige und biologische Kriterien erfüllen. Den Grossküchen fehlen also Alternativen, wenn sie nicht - wie der Murhof - die Möglichkeit schaffen möchten, Frischprodukte selbst zu verarbeiten. Anders gesehen, zeichnet sich hier jedoch ein neuer Betriebszweig ab: So könnte der Bauer selbst die Zwischenverarbeitung in die Hand nehmen oder aber es bietet sich die Chance, dass sich in der Gemeinde ein neues Unternehmen aufbaut, welches die Zwischenverarbeitung der regionalen und biologisch nachhaltig produzierten Produkte übernimmt. Dadurch würden regionale Arbeitsplätze geschaffen und der CO2 Verbrauch, welcher durch die überregionale und übernationale Verarbeitung entsteht, reduziert.
Visionäres handeln - jetzt und heute
Im Denken und Handeln des Murhofs spürt man die Weite. Der Murhof versteht sich als Impulsgeber und vertraut darauf, dass die gesetzten Impulse langfristig greifen. So wird z.B. durch das Einbinden des regionalen Metzgers in die Lieferkette dessen Interesse geweckt, ebenfalls auf Bio umzustellen. Das Netzwerk wird also stetig wachsen und dadurch die Produktions- und Lieferbedingungen für die beteiligten Akteure immer einfacher. Der Murhof setzt dabei für den Ausbau seiner Projekte und Vorhaben ganz bewusst auf ein prozessorientiertes, nachhaltiges und organisches Wachstum. Eine Studie des Verbandes Curaviva (Branchenverband der Institutionen für Menschen mit Unterstützungsbedarf) bestätigt, dass «Nachhaltigkeit im Alter» zukünftig zunehmend zum Thema werden wird – der Murhof ist also auf dem richtigen Weg.
Wenn es um das Thema nachhaltige, gesunde und umweltbewusste Lebensmittel und Ernährung geht, werden die Konsument*innen, der Detailhandel und die Landwirtschaft in die Verantwortung genommen. Wer dabei selten erwähnt wird: die Gastronomie. Dabei hat sie eine grosse Reichweite, um Produkte aus nachhaltiger Landwirtschaft, sei das Bio oder sogar regenerative und andere agrarökologische Produktionsweisen, in der breiten Masse zu etablieren.
(VL) Tatsächlich gibt es in der Schweiz sehr wenige komplette Bio-Restaurants. Drei Projekte für mehr Bio in der öffentlichen Verpflegung (Kindergarten, Schule, Universität, Krankenhaus, Altersheim, Behörde) sind in der Schweiz in Planung. So schreibt zum Beispiel das Projekt in Biel ab 2023 mit einer neuen zentralen Produktionsküche vor, nur mit biologischen und regionalen Produkten für Kindergärten, Spitäler etc. zu kochen.
Neben Kosten noch weitere Hindernisse
Welche Gründe stecken hinter dem geringen Bio-Anteil in der Schweizer Gastronomie? Anhand von Gesprächen mit den Verantwortlichen von zwei Restaurants sowie Personen aus der Branche versuchten wir die Gründe zu ermitteln.
1. Das vegetarische und vegane Restaurant tibits spricht aus eigener Erfahrung, denn sie sind bestrebt, das Angebot an Bio-Produkten laufend auszubauen. Der weitaus grösste Teil der tierischen Produkte wie Milch oder Käse ist bereits Bio sowie auch alle Backwaren. Doch die Bio-Zertifizierung ist mit Hindernissen verbunden. Diese ist aufwändig und verursacht sowohl Kosten als auch personellen Aufwand. So müssen zum Beispiel das Warenlager sowie die Warenflüsse logistisch von konventionellen Produkten oder anderen Labels getrennt sein. Zudem gibt es, neben den vom Gesetz vorgeschriebenen Kontrollen durch das Lebensmittelinspektorat, jährliche Nachkontrollen durch den Bio-Inspektor.
2. tibits stellt auch fest, dass der Preis für Bio je nach Produkt um 20 – 50 % höher ist als für konventionelle Produkte, was sich schlussendlich auf die Verkaufspreise auswirkt. Bio-Suisse unterstreicht diese Aussage: „Der Aufschlag für Bio-Produkte schwankt zwischen 0 und 300 %. Es wird also rasch klar, dass gewisse Produkte kaum je in der Gastronomie eingesetzt werden. Umgekehrt heisst das aber auch, dass es Bio-Produkte gibt, wo der Preis allein kein Hindernis darstellt.“
3. Nach kurzer Recherche bemerkt man schnell, dass die Verfügbarkeit von nachhaltig produzierten Produkten für die Gastronom*innen eine grosse Unsicherheit darstellt. Hauptsächlich, weil heutzutage dem Gast jederzeit alles angeboten werden möchte. Viele Restaurants arbeiten mit vorgefertigten Lebensmitteln, die sie von einem grossen Rüstbetrieb ankaufen. Selber regionale und saisonale Frischprodukte einzukaufen und zuzubereiten, dazu fehlen oft die Kenntnisse und Strukturen.
4. Automatisch stellt so auch die Ausbildung von Gastronomen und Köchen ein Knackpunkt dar. Bio-Suisse bestätigt die Aussage eines Kochlehrlings, dass der Umgang mit nachhaltigen Produkten und Konzepten nicht unterrichtet oder nur selten angesprochen wird.
5. Für die Umstellung auf saisonale, regionale und agrarökologische Produkte gibt es keine Anlaufstellen oder gebündelte Informationsquellen. So hat es auch ein regeneratives Zero Waste Pop-Up Restaurant erlebt. Als Wirt*in müsse man viel Zeit und Aufwand in die Recherche, Umsetzung und später die Planung des Menüs investieren. Sie haben keine Plattformen oder Organisationen gefunden, die Informationen zur Umstellung für Gastronomen bereits aufgearbeitet hätten.
6. Zu guter Letzt spielt auch die Logistik eine Rolle: Bio Suisse erklärt, dass es in der Schweiz im Bio-Bereich zum Beispiel noch keinen Anbieter für gerüstetes Gemüse gebe. Das bedeutet, der Gastronom würde es eventuell kaufen, wenn es ein Anbieter verarbeiten würde und umgekehrt. Damit die Bio-Landwirt*innen mit dem Rest des Marktes mitspielen könnten, meint Bio Suisse, bräuchte es die Einbindung in die Shop- und Küchenplanungssysteme der Grossen.
Damit wird sichtbar, dass die Wirt*innen zuerst viele Hürden überwinden müssen, um das ihnen beigebrachte Wissen und System hinter sich zu lassen.
Beratung und enge Zusammenarbeit sind zentral
Martin Ott, Schulleiter der bio-dynamischen Ausbildung in Rheinau, stellt in einem Gespräch fest: Das Verhalten und die Logistik müssten sich im Handel sowie der Gastronomie grundlegend ändern. Diesen Wandel jedoch umzusetzen, sagt Martin Ott, sei nichts Leichtes. Nebst dem Wandel, der im Kopf der Menschen stattfinden müsse, sollten die Landwirt*innen und Gastronom*innen mehr und viel enger zusammenarbeiten. Aus der Schwäche gegenüber der Logistik und Komponentenlieferung von Weltkonzernen und grossen Betrieben könne man so eine handwerklich orientierte, regionale und vielfaltgestützte Stärke machen.
Diese Wertschöpfungsketten müssen jedoch zuerst erarbeitet werden. Anhand von Dänemark lässt sich erahnen, welche Schritte auch in der Schweiz Wirkung zeigen könnten. Innert zehn Jahren haben es in Kopenhagen und Aarhus 1‘600 öffentliche und private Küchen vollbracht, bis zu 90 % Bio-Anteil zu erreichen – und dies weitgehend ohne höhere Kosten. Möglich wurde dies durch eine grundlegende Umstellung: Mehr frische Zutaten, neue Rezepte, selbst verarbeitete Lebensmittel, weniger Fertigprodukte und weniger Fleisch sowie drastisch reduzierte Lebensmittelverluste. Wichtige Faktoren für diese erfolgreiche Umsetzung waren zielführende Impulse aus der Politik, eine starke Mitarbeit von allen Beteiligten und eine direkte Unterstützung vor Ort in den Küchen durch die Stiftung „Copenhagen House of Food“.
Dänemarks Erfahrungen zeigen: Es lohnt sich, Geld in Schulungen und Beratungen zu investieren. So ist es mit Hilfe der Beratung durch das Kopenhagener House of Food gelungen, besonders in kleinen Küchen (wie beispielsweise in Kindergärten) 90 % Bio-Produkte einzusetzen. Sogar grosse Zentralküchen erreichen 60-70 %.
Ein Systemwandel ist angesagt
Das Problem ist also nicht der einzelne Player, sondern das System. Es muss wie in vielen Bereichen ein Systemwandel stattfinden. Viele Köch*innen kaufen im Grosshandel ein, weil dadurch das Menü einfacher planbar und die Menge gesichert ist. Diesem Verhalten muss mit Wissen über Saisonalität, Regionalität, neuen Rezepten und Menüplanungen entgegengewirkt werden. Dabei steht der direkte Kontakt zu den Landwirt*innen im Mittelpunkt, weil eine enge Zusammenarbeit das Planen und Umstellen erleichtert. Denn klar ist – man kann im Grosshandel nicht einfach die bisher verwendeten Produkte in Bio bestellen. Es wird ebenfalls ersichtlich, dass in der Schweiz ein Ansprechpartner für die Umstellung fehlt. Von Anfang bis zum Schluss von jemandem begleitet zu werden, der sich auskennt und einem hilft, macht die Hürde für eine Umstellung um einiges kleiner.
Tatsächlich hat sich Bio Suisse nun dieser Aufgabe angenommen und möchte den erwähnten Problemen entgegenwirken.
Die Bedeutung der Politik
Für uns, und vielleicht auch für Sie als Leser*in, ist anhand von Dänemark eindeutig sichtbar, dass vor allem die Politik eine wichtige Rolle spielt, um eine wirksame Umstellung in der Gastronomie zu erreichen. Die Schweizer Politik kann an vielen Ecken den Wandel ganz konkret vorantreiben. Sie kann nachhaltig investieren in Bildung, Logistik und Verarbeitungsstrukturen, eine Organisation wie das Kopenhagener House of Food aufbauen, welche die Weiterbildung und Unterstützung in den Küchen übernimmt, Initiativen gegen Lebensmittelverschwendung ausbauen, einen Innovationscampus ins Leben rufen oder eine agrarökologische Landwirtschaft anstelle der konventionellen Landwirtschaft fördern. Nicht zuletzt sollte die Politik auch ein Ziel definieren, wie viel Prozent Bio-Speisen bzw. Produkte aus agrarökologischer Produktion wir in welchem Zeitraum in der öffentlichen Verpflegung mindestens haben wollen.
Die Möglichkeiten und Handlungsschritte sind vorhanden und bereits erarbeitet worden, weshalb wir in der Schweiz keinen Grund haben, diesen Wandel zu verzögern oder nur halbpatzig ausführen zu wollen. Sträubt sich die Schweizer Politik weiterhin gegen einen nachhaltigen Wandel (nicht nur in der Gastronomie), werden wir bald das Schlusslicht in Europa darstellen, zumal der Fortschritt besonders bei unseren Nachbarn Frankreich, Deutschland und Österreich zügig voran geht.
Jeder Mensch hat das Recht auf gesunde Nahrung und die Schweiz hat sich dazu völkerrechtlich verpflichtet. Es ist an der Zeit, gesundes Essen jedem zugänglich zu machen.
Eine historische Auseinandersetzung um die Zukunft unserer Land- und Ernährungswirtschaft nimmt heute einen vorläufigen Abschluss. Das Abstimmungswochenende ist aber auch aus einem zweiten Grund historisch: Eine Bürgerin, eine Frau ohne jegliche Verbindung zur Landwirtschaftsszene, hat es gewagt, mit einer eigenen Initiative an den Grundfesten des seit 20 Jahren praktisch festgefahrenen Agrarsystems zu rütteln. Für die mächtigen Herren der etablierten Agrarkreise und die verbandelten Profiteure aus der Agrarindustrie war Franziska Herren mit der Volksbewegung, die sie auslöste, eine unerhörte Provokation. Entsprechend unerbittlich war die 2xNein-Mobilisierung all der Institutionen, die für das Versagen der Agrarpolitik eigentlich die Verantwortung tragen müssten.
Mit diesem Wochenende ist klar: Ein grosser Teil der Bevölkerung hat genug von Pestiziden im Grundwasser, in den Böden, überall in den Ökosystemen und in unserem Körper; hat genug von der überintensiven Tierhaltung und einer Landwirtschaft, die ihre eigenen Lebensgrundlagen mit Milliardensubventionen zerstört. Mit dem Nein zu den Initiativen bleiben diese Probleme vorläufig allerdings weiterhin ungelöst.
Auch unter Bäuerinnen und Bauern gibt es einen grossen schweigenden Teil, für den es keine Frage ist, dass es eine Umkehr aus der Sackgasse braucht, in welche die Landwirtschaft und Agrarpolitik geraten ist. Sie erwarten, dass die Ursachen der Fehlanreize bekämpft werden, dass sie nicht ständig als Umweltsünder angeklagt werden, sondern dass die endlose, erfolglose Pflästerlipolitik von Parlament und Verwaltung endlich durch wirksame Reformen ersetzt wird.
Der konkrete Wandel beginnt im Stillen
Viele Bäuerinnen und Bauern sagten mir im Gespräch: "Was die Initiativen wollen, das wollen wir auch". Aber es war in den verfahrenen, immer konfrontativer geführten Diskussionen für viele nicht mehr möglich, für die Initiativen einzustehen. Viele äusserten zudem Zweifel über den von den Initiativen vorgegebenen Weg, bekannten sich aber explizit zum Ziel. Das ist bedeutsam für die Zeit danach.
Kaum eine Volksinitiative hat über so viele Jahre so viel Aufmerksamkeit in der Landwirtschaft, in der Bevölkerung und bei den Medien auf sich gezogen; hat so viel Bewusstsein geschaffen zu bisher kaum bekannten Fakten und Zusammenhängen; hat einen dermassen grossen Handlungsdruck erzeugt wie die Trinkwasserinitiative. Offensichtlich hat das Duo von TWI und Pestizidinitiative ins Schwarze getroffen. Es hat gravierende Probleme aufs Tapet gebracht, welche die Politik während Jahrzehnten unter den Tisch gekehrt hat.
Im Stillen hat sich, quasi im Windschatten der Initiativen, durch diesen Bewusstseinsprozess enorm viel Positives entwickelt. Das Bewusstsein auf den Bauernhöfen, bei den Konsumentinnen und Konsumenten ist durch die ständig präsenten Diskussionen um die (fehlende) Nachhaltigkeit der Land- und Ernährungswirtschaft ein anderes geworden. Weit über ein Dutzend neue Gruppierungen sind entstanden, die sich auch nach dem Abstimmungswochenende einer nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft annehmen werden. In unzähligen Projekten und Initiativen bläst heute ein neuer, frischer Wind.
Jeder Wandel beginnt zunächst im Unscheinbaren. Es gilt jetzt, diese vielen positiven Energien, denen die Initiativen Mut machten und Inspiration gaben, zu stärken, zu bündeln, sie zu unterstützen, damit sie zum Beginn einer enkeltauglichen Zukunft werden können. Ich bin überzeugt, auf diesem konstruktiven, konkreten Weg werden die Gräben, welche der verbitterte, oft extrem unsachlich geführte Widerstand gegen die Initiativen aufgerissen haben, bald kein Thema mehr sein.
Wandel auch bei Vision Landwirtschaft
Vision Landwirtschaft hat sich bei den öffentlichen und politischen Auseinandersetzungen um die Initiativen stark engagiert. Die Initiativen waren für uns ein ebenso zentrales wie wirksames Vehikel, um den Wandel des Landwirtschafts- und Ernährungssystems weiter voranzubringen. Unzählige Medienartikel haben wir angeregt, phasenweise wurden wir täglich von Medien kontaktiert und um Hintergrundinformationen, Kontakte, Ideen oder Einschätzungen gebeten. Dem TWI-Initiativkomitee standen wir mit fachlichem Rat, mit Recherchen, Auskünften und Medienarbeit intensiv zur Seite.
Mit diesem Engagement, das Geschäftsstelle und Vorstand oft bis an die Grenzen gefordert hat, geht für mich bei Vision Landwirtschaft eine bewegte, enorm spannende Zeit zu Ende. Nach langer Vorbereitungsarbeit gebe ich das Zepter der Geschäftsführung am Abstimmungssonntag an meine Nachfolger weiter. Mirjam Halter wird nun die Leitung der Geschäftsstelle übernehmen, unterstützt wird sie weiterhin von Ralph Hablützel, Andrea Hablützel und Edith Häusler.
Bei allen Newsletter-LesernInnen, vor allem aber natürlich bei den Mitgliedern, bei den Sponsoren, bei den vielen Medienschaffenden, den Partnerorganisationen, bei unzähligen Bäuerinnen und Bauern, mit denen wir im regen Austausch standen - ihnen allen möchte ich für die inspirierende, offene und intensive Zusammenarbeit herzlich danken. Ich selber werde mich in anderen Zusammenhängen weiterhin für den Wandel einsetzen und freue mich, mit vielen engagierten Kräften weiterhin im Austausch stehen zu dürfen.
Andreas Bosshard
Mitbegründer von Vision Landwirtschaft und langjähriger Geschäftsführer
Andreas Bosshard - ein „Animale agronomique“ übergibt das Zepter
Es gibt sie in der Politik, in der Forschung, in der Kunst, in der Wirtschaft etc. die ausgewöhnlichen Persönlichkeiten. Ihr Tun prägt. Es sind Charakterköpfe. Sie wollen verändern, sind kritisch, unbequem, hartnäckig und ecken da und dort an, polarisieren und dienen als Projektionsfläche. Ein solcher Charakterkopf ist auch Andreas Bosshard. Er war die treibende Kraft bei der Gründung von Vision Landwirtschaft und der Veröffentlichung des Weissbuchs Landwirtschaft Schweiz. Als mutiger Vordenker hatte er eine klare Vision: Er wollte mit einer unabhängigen Kraft und ähnlich Denkenden die verkrustete Schweizer Landwirtschaft reformieren. Seine Mission war und ist: Die Schweizer Landwirtschaft muss neue Wege beschreiten. Er ist der Analytiker, der Ideenlieferant, der Hartnäckige, der Aufmüpfige, der unermüdliche und effiziente Chrampfer der überzeugt ist, dass neue Wege für die Landwirtschaft möglich sind. Andreas war seit der Gründung des Vereins Vision Landwirtschaft im Jahr 2007 das Gesicht unserer Denkwerkstatt. Dank Andreas hat sich Vision Landwirtschaft zur breit anerkannten, durchaus auch mächtigen Reformkraft in der Schweizer Landwirtschaftsszene entwickelt.
Nach 15 Jahren unermüdlicher Schaffenskraft und nach reiflicher Überlegung hat Andreas Bosshard entschieden, sich aus der Geschäftsstelle von Vision Landwirtschaft zurückzuziehen und seine vielfältige berufliche Tätigkeit und sein Engagement für eine enkeltaugliche Landwirtschaft neu auszurichten. Die Geschäftsstelle von Vision Landwirtschaft wird neu von der bisherigen Stellvertreterin von Andreas Bosshard, Mirjam Halter, geleitet. Durch den Weggang von Andreas verliert Vision Landwirtschaft eine sehr starke, umtriebige Persönlichkeit, einen wichtigen Ideengeber und den zentralen Networker.
Andreas, wir ziehen den Hut vor dir, dein Mut und dein Engagement für Vision Landwirtschaft und für die Schweizer Landwirtschaft sind aussergewöhnlich. Wir danken dir von ganzem Herzen für deine jahrelange, unermüdliche und erfolgreiche Tätigkeit bei Vision Landwirtschaft. Deine Leistungen und Verdienste verdienen höchste Wertschätzung und Anerkennung.
In den vergangenen Jahrzehnten hat der Bund die Agrarpolitik mit Subventionen und Zollerleichterungen für Futtermittel weitgehend auf die Interessen der vor- und nachgelagerten Industrie ausgerichtet und dabei wichtige weitere gesellschaftliche Anliegen vernachlässigt. Auch das Berggebiet war dieser Entwicklung unterworfen, und es ist davon sogar besonders stark betroffen. Denn die intensive Tierproduktion mit importierten Futtermitteln passt im Berggebiet besonders schlecht zu dem, was wir als Konsumentinnen und Steuerzahler von der Landwirtschaft erwarten. Die Trinkwasserinitiative ist für die Berglandwirtschaft deshalb eine riesige Chance. Die Chance, ihr Einkommen wieder mit Produkten und herausragenden gemeinwirtschaftlichen Leistungen zu erwirtschaften, die ihrem natürlichen Potenzial entsprechen.
(VL) Spontan würde man meinen: Die Bauern und die Bevölkerung der Bergkantone gehören zu den klaren Befürwortern der Abstimmungsvorlagen vom 13. Juni – insbesondere der Initiative für sauberes Trinkwasser. Diese will ja die Direktzahlungen umlagern – weg von umweltschädlichen Produktionsweisen und hin zu echten gemeinwirtschaftlichen Leistungen, von denen das Berggebiet viel mehr erbringt als die übrige Landwirtschaft. Warum sind dann viele Bergbauern gegen die TWI?
Mehrwerte werden unterlaufen
Der Grund sind die zugekauften Futtermittel. Die gemeinwirtschaftlichen Leistungen und das gute Image der Produkte aus dem Berggebiet werden zunehmend unterlaufen. Die Politik hat die Betriebe mit gezielten Zollerleichterungen für importierte Futtermittel – beispielsweise im Rahmen der Agrarpolitik 2011 – Schritt für Schritt in die Abhängigkeit geführt. Vertreter von Fenaco und Co. im Parlament haben zu dieser Entwicklung entscheidend beigetragen. Die Anreize wurden so gesetzt, dass es sich lohnt, Unmengen an Futter in die Berge zu karren. Viele Bergbäuerinnen und Bergbauern haben sich darauf eingestellt und scheuen sich nun, einen anderen Weg zu gehen, der klima- und umweltkompatibel ist. Sie werden unterstützt durch die vielen Profiteure dieser Entwicklung.
Mit ihren Futtermittelimporten richtet die Landwirtschaft heute die Biodiversität auch in der montanen und subalpinen Stufen des Berggebiets zugrunde, so wie vor Jahrzehnten im Tal- und Hügelgebiet.
Wird das Berggebiet seinem guten Image bei der Bevölkerung und den Konsumentinnen noch gerecht? Vision Landwirtschaft hat im neu erschienenen Bericht „Landwirtschaft und Umwelt in den Kantonen“ eine Auswertung von bestehenden Statistiken und Datensätzen gemacht, um regionale Unterschiede bei Produktionsweisen, Umweltbelastungen durch Nährstoffe und Pestizide in naturnahen Lebensräumen, Gewässern und Grundwasser sowie Auswirkungen auf die Landschaft zu analysieren.
Gemeinwirtschaftlichen Leistungen nehmen ab
Die Zahlen der regionalen landwirtschaftlichen Gesamtrechnung zeigen: Im Bereich der Futtermittel stehen die Bergkantone heute nicht besser da als die im Mittelland. Vom Erlös aus dem Verkauf von Fleisch und Milch landet jeder zweite Franken beim Futtermittelhändler oder beim Tierarzt. Auch bei den Auswirkungen auf die Landschaft sind die Zahlen mittelmässig. Gemäss der neusten Arealstatistik hat sich die Zunahme des landwirtschaftlichen Gebäudebestands angetrieben durch die Futterimporte, praktisch unvermindert fortgesetzt.
Besser sieht es bei den Umweltbelastungen durch Nährstoffe (Phosphor, Stickstoff) und Pestizide aus. Die Nährstoffeinträge in die Gewässer sind deutlich geringer. Die Stickstoffemissionen in die Luft sind in einigen Bergkantonen ebenfalls hoch. Weit überhöht sind sie - im Gegensatz zum Tal- und Hügelgebiet - aber nur sehr lokal. Umweltbelastungen des Grundwassers mit Nitrat und Pestiziden sind ohnehin kaum ein Thema. Über alle betrachteten Umweltwirkungen gesehen, liegen die Bergkantone mit ihrer Grasland-dominierten Nutzung weit vorne (Tabelle unten). Sie halten die Umweltgesetze bereits heute ein.
Das unterstreicht ihr Potenzial für echte, darüber hinausgehende Leistungen zugunsten der Gesellschaft. Nur: Die Futtermittel aus aller Welt stellen diese Leistungen und Mehrwerte zunehmend in Frage.
Solide Perspektive – wirtschaftlich und imagemässig
Die Entwicklung ist absehbar. Die Agrarpolitik wird aufgrund der Klimaziele in Richtung Kostenwahrheit gehen, die Konsumentinnen und Konsumenten werden also zunehmend für die vollen Kosten der Nahrungsmittel aufkommen. Im Talgebiet werden dann zwangsläufig umfangreiche Pauschalzahlungen frei, und auch die Zahlungen für die Vermeidung von Umweltschäden werden dann obsolet.
Diese Gelder werden echte gemeinwirtschaftliche Leistungen «suchen». Bergbetriebe, die sich konsequent an ihren hohen Potenzialen für Gemeinwohlleistungen orientieren, erbringen im Rahmen der Nahrungsmittelproduktion einwandfrei begründete Mehrwerte für die Gesellschaft – für die Landschaft, die Biodiversität, den Tourismus.
Für Bergbetriebe ist die TWI deshalb eine grosse Chance: Sie verzichten nach der Übergangsfrist auf die importierten Futtermittel und beenden die laufende Intensivierung der Produktion und Degradierung der Biodiversität auf ihren Flächen. Im Gegenzug erhalten sie für ihre Leistungen einen namhaften Teil der durch die TWI und die Klimapolitik frei werdenden Beiträge.
Diese Perspektive ist sicherer als die Fleisch- und Milchproduktion am Tropf der Futtermittelkonzerne und Sonderzolltarife für Futtermittel – wirtschaftlich und vor allem auch imagemässig. Und darüber hinaus wird damit die Versorgungssicherheit des ganzen Landes gestärkt.
Landwirtschaft und Umwelt in den Kantonen: Gesamtbewertung
Rang
Kanton
Durchschnittlicher Rang1
1
GL
6.75
2
GR
7.65
3
OW
9.04
4
UR
9.65
5
AI
10.35
6
JU
10.85
7
NW
11.12
8
BB
11.31
9
VS
12.08
10
BE
12.23
11
NE
12.38
12
TI
12.62
13
SH
13.00
14
ZG
13.42
15
AR
13.88
16
SZ
13.88
17
LU
14.00
18
VD
14.08
19
GE
14.15
20
AG
14.31
21
SG
14.60
22
ZH
14.92
23
FR
15.54
24
SO
16.31
25
TG
16.96
1 Durchschnittlicher Rang über alle Kennzahlen. Ranggleichen Kantonen wurde der Mittelwert der auf sie fallenden Ränge zugeordnet. Quelle: VL (2021), Landwirtschaft und Umwelt in den Kantonen.
Im Juni stimmen wir über die Trinkwasserinitiative (TWI) ab. Die Initiative ist mehr als nur ein dringend nötiges Signal. Sie setzt auch am richtigen Ort und mit den richtigen Mitteln an, und sie ist massvoll. Letztlich will sie nichts anderes, als was der Bundesrat und das Parlament selber wollen – gemäss Verfassung, Umweltgesetzen, internationalen Verpflichtungen und offiziellen Erklärungen und Strategien. Trotzdem wird die Initiative vom Bundesrat und weiteren Kreisen als radikal oder extrem bezeichnet. Wie passt das mit den heute populären Bekenntnissen – vom Bundesrat bis BioSuisse – zu einer nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft zusammen?
(VL) Es ist bemerkenswert: Die TWI will Probleme lösen, die alle lösen wollen – oder das zumindest von sich sagen. Sie ist auch liberal: Anstelle von Verboten will sie staatliche Fehlanreize beenden und öffentliche Mittel sorgfältig einsetzen. Sie ist sogar in diesem liberalen Ansatz massvoll und lässt viel Zeit und Spielraum für die Umsetzung. Und dennoch behaupten die Gegner, die Initiative sei radikal.
Umweltrecht einhalten
Der Handlungsbedarf bei den Pestiziden ist unterdessen fast allen klar. Um nach der Sistierung der Agrarpolitik 22+ am 13. Juni nicht mit leeren Händen dazustehen, hat das Parlament im März noch rasch ein «Bundesgesetz über die Verminderung der Risiken durch den Einsatz von Pestiziden» beschlossen. Die Risiken sollen bis 2027 halbiert werden. Das ist ein bescheidenes Ziel. Die ökotoxikologischen Grenzwerte werden gemäss Studien der Eawag verbreitet um einen Faktor zehn bis dreissig überschritten. Bei den wichtigen Zuströmbereichen von Trinkwasserfassungen wurde noch nichts entschieden.
Einmal abgesehen davon, dass man das bestehende Problem beim Trinkwasser, Oberflächengewässern und wildlebenden Tieren und Pflanzen mit «Risiken durch den Einsatz von Pestiziden» schön redet, ist das Reduktionsziel ein Schritt in die richtige Richtung. Es macht die TWI aber nicht unnötig, ganz im Gegenteil. Nur mit weiteren konkreten Massnahmen wird es möglich sein, das Reduktionsziel zu erreichen. Auch mit der TWI wird es weitere Massnahmen brauchen, um im Bereich Pestizide die Umweltgesetze einzuhalten.
Das zweite wichtige Thema der TWI sind die Umweltbelastungen durch Stickstoff. Verbindliche Ziele für die Stickstoffüberschüsse hat das Parlament im März abgelehnt. Die Ammoniakemissionen der Landwirtschaft verletzen das Schweizer Umweltrecht massiv, im Mittelland und Hügelgebiet fast flächendeckend. Von 17'000 Tonnen Überschuss, die naturnahe Wälder, Moore und artenreiche Wiesen schädigen, stammen etwa zwei Drittel aus importierten Futtermitteln.
Die TWI will, dass geltendes Umweltrecht eingehalten wird und wählt einen denkbar liberalen Ansatz. Sie will nichts verbieten, sondern nur die Direktzahlungen für nicht nachhaltige Produktionsweisen beenden. Ein vernünftiger Schritt, keine Spur von Radikalität. Weitere Stützungen wie Milchzulagen und Grenzschutz sind von der Initiative nicht betroffen.
Klimaziele ernst nehmen
Indirekt geht es bei der TWI auch um die Klimaziele. Die viel zu hohe Tierproduktion ist nicht nur für die Umwelt in der Schweiz ein Problem, sondern auch für den weltweiten Klimaschutz (wegen Methan und Lachgas). Gemäss der «Klimastrategie Landwirtschaft» des Bundes müssen Landwirtschaft und Ernährung den Ausstoss von Klimagasen bis 2050 um zwei Drittel verringern. Im Widerspruch dazu bekämpft der Bund die TWI aber mit Studien, die davon ausgehen, dass (a) der Fleischkonsum auch in Zukunft nicht abnehmen wird und (b) auch weiterhin in grossem Umfang Produkte importiert werden, für die in den Herkunftsländern Urwälder gerodet werden. So kommt er zum Schluss, dass eine geringere Fleischproduktion in der Schweiz zwingend zu mehr Importen und global gesehen zu mehr Umweltbelastung führt.
Wenn wir die offiziellen Ziele im Bereich Klima, Foodwaste und nachhaltige Importe ernst nehmen, werden wir in Zukunft aber nicht mehr, sondern weniger importieren. Die jährlichen Kraftfutterimporte von 1.2 Millionen Tonnen sind mit den Zielen nicht vereinbar. Für die Beurteilung der TWI ist das hochrelevant. Wenn der Bundesrat mit heute zunehmenden Importen argumentiert, wird klar: Er nimmt in der Landwirtschaftspolitik seine Klimaziele ebenso wenig ernst, wie in den vergangenen Jahrzehnten das Umweltrecht (mehr dazu).
Übrigens: am gleichen Wochenende stimmen wir über das CO2-Gesetz ab. Der Bund erhält die Kompetenz, die Lenkungsabgabe auf fossilen Brennstoffen von heute rund hundert Franken pro Tonne CO2 auf rund zweihundert Franken zu erhöhen. In der Agrarpolitik wird die Produktion von Rindfleisch und Milch, auch die mit Importfutter, pro Tonne CO2-Äquivalent derweil mit rund dreihundert Franken subventioniert (ohne die Direktzahlungen für die Landschaftspflege). Bundesrat und Parlament denken Klima, Landwirtschaft und Ernährung noch nicht zusammen.
Kosten den Verursachern anlasten
Heute fordern alle, dass die Land- und Ernährungswirtschaft nachhaltig werden muss. Viele sehen auch ein, dass dies nur möglich ist, wenn die Direktzahlungen und weiteren Subventionen sowie die Preise nicht völlig falsche Anreize setzen. Was das für die Landwirtschaftspolitik konkret bedeutet, hat aber noch kaum jemand detailliert durchdacht.
Vision Landwirtschaft skizziert deshalb in einem neuen Papier, wie der Weg zu einer nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft im Sinn der offiziellen Klimaziele und weiteren Ziele des Bundes aussehen könnte. Und zeigt auf, welche entscheidende Rolle dabei der Umbau der Subventionen und allgemeiner das Verursacherprinzip oder «Kostenwahrheit» spielen (s. Box 1 unten).
Die TWI ist jedenfalls auch in dieser langfristigen Perspektive auf dem richtigen Weg: Sie ist ein erster Schritt hin zu mehr Kostenwahrheit in unserer Land- und Ernährungswirtschaft. Zu weniger Verschwendung von Ressourcen und zu mehr Fairness gegenüber denjenigen, die nachhaltige produzieren und konsumieren. Und zwar generell, nicht nur in Nischenmärkten. Ohne eine faire Anlastung von Kosten bleibt ein nachhaltiges Land- und Ernährungssystem eine Illusion.
Fazit
Die TWI ist notwendig, damit Parlament und Bundesrat das Umweltrecht ernster nehmen als bisher. Darüber hinaus räumt die Initiative erste Steine aus dem Weg hin zu einer nachhaltigen Landwirtschaft und Ernährung.
Wenn man Anspruch und Wirklichkeit der Agrarpolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte vergleicht, muss man leider feststellen: Der Bundesrat hat die Bevölkerung bei den Umweltauswirkungen eines ums andere Mal getäuscht (s. Box 2). Man hat Besserung gelobt und dann doch die Umsätze in der Tierproduktion und der landwirtschaftsnahen Industrie über das Umweltrecht, die Klimaziele und das Verursacherprinzip gestellt.
Wenn der Bundesrat und das Parlament die TWI ablehnen und es nicht für nötig halten, einen Gegenvorschlag anzubieten, so ist die Botschaft klar: Die flächendeckende Verletzung von Umweltrecht und die Abnahme der Biodiversität sollen weiterhin in Kauf genommen werden. Die Steuerzahler sollen weiterhin umweltschädigende Produktionsweisen subventionieren. Nachhaltige Konsummuster sollen weiterhin systematisch benachteiligt werden. Die Kollateralschäden werden der Allgemeinheit aufgebürdet.
Wir finden das radikal, nicht die TWI. Wer gut informiert ist und die TWI dennoch als radikal oder extrem bezeichnet, zeigt keine Bereitschaft, auch nur einen ersten Schritt hin zu einer nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft zu gehen.
Box 1: Diskussionspapier «Kostenwahrheit in Landwirtschaft und Ernährung»
Wie Vision Landwirtschaft vor einem halben Jahr in einer Studie aufgezeigt hat, arbeitet die Schweizer Agrarpolitik in weiten Teilen gegen das Verursacherprinzip und fernab von «Kostenwahrheit». Mit Blick auf Umweltrecht und Klimaziele wird das immer mehr zum Problem.
Dabei ist das Verursacherprinzip im Umweltschutz in der Verfassung verankert (Art. 74 BV): «Der Bund erlässt Vorschriften über den Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt vor schädlichen oder lästigen Einwirkungen. Er sorgt dafür, dass solche Einwirkungen vermieden werden. Die Kosten der Vermeidung und Beseitigung tragen die Verursacher.» Die Landwirtschaftsgesetzgebung setzt sich allerdings gerne darüber hinweg.
Was herauskommt, wenn man das Verursacherprinzip auf den Kopf stellt, lässt sich anhand der Direktzahlungen für «graslandbasierte Milch- und Fleischproduktion (GMF)» erklären. Anstelle von Vorgaben, die für die Einhaltung des Umweltrechts ausreichen, oder Lenkungsabgaben auf übermässigen Emissionen gibt der Bund den Betrieben Geld, wenn sie nicht noch mehr Kraftfutter einsetzen. Und dies auch dann, wenn die Emissionen weit über dem umweltrechtlich verträglichen Niveau liegen. Die Beiträge fliessen seit 2014 (s. auch Box 2) so flächendeckend, wie die Grenzwerte für Stickstoffeinträge in naturnahe Ökosysteme überschritten werden.
Gemäss einer Evaluation durch die Forschungsanstalt Agroscope ist die Umweltwirkung praktisch Null – bei Kosten von 110 Millionen Franken pro Jahr. Im Evaluationsbericht und Newsletter des Bundesamts wird das Null-Resultat unterschlagen und das Programm als Erfolg verkauft. Ebenso im Text auf der Webseite zum GMF-Beitrag.)
Vor zwei Jahren wurde der problematische Ansatz, der klar gegen das Verursacherprinzip in der Verfassung und in den Umweltgesetzen verstösst auf den Einsatz von Pestiziden ausgeweitet. Der Bund bezahlt seit 2019 «Ressourceneffizienzbeiträge» für emissionsmindernde Ausbringverfahren. Er subventioniert Spritzmittelgeräte und besondere Applikationstechniken.
Aufgrund dieser Erfahrungen legt Vision Landwirtschaft nun ein Diskussionspapier vor, das die wichtige Rolle des Verursacherprinzips und der Kostenwahrheit für den Übergang zu einer nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft herausarbeitet. Der erste Schritt in Richtung Verursacherprinzip oder Kostenwahrheit ist der Abbau von Subventionen für umweltschädliche Produktionsweisen – genau das fordert die TWI im Bereich Pestizide, Nährstoffüberschüsse und prophylaktische Antibiotika.
Box 2: Agrarpolitik, Tierbestände und Nährstoffüberschüsse in bundesrätlichen Prognosen und in Wirklichkeit
In der Botschaft zur AP 14-171 schrieb der Bundesrat: «In der Tierhaltung ist mit der AP 14–17 ein Rückgang der gehaltenen GVE von rund 9 Prozent zu erwarten […]» und «Da aber […] der Kraftfutterimport gegenüber der Referenz rund 10 Prozent tiefer zu liegen kommt, wird mit der AP 14–17 die Nettokalorienproduktion gestärkt.» In Wirklichkeit ist der Tierbestand kein bisschen gesunken (+0.3%), genauso wenig wie der Kraftfutterimport (+0.2%).2
Bei den Stickstoff-Überschüssen wiederholte sich die Diskrepanz von Vorhersagen und Wirklichkeit in den bundesrätlichen Botschaften von 2002 bis 2018 ohne irgendeinen erkennbaren Lerneffekt (Details s. hier und hier, S. 30 ). Daraus lässt sich schliessen, dass der Bundesrat die Umsätze in der Tierproduktion und der landwirtschaftsnahen Industrie über das Umweltrecht gestellt hat (vgl. Haupttext).
Ganze Wirtschaftssysteme werden derzeit in atemberaubendem Tempo umgekrempelt. Der Finanzsektor, die Autoindustrie, die Energiewirtschaft, alle stehen mitten in einem fundamentalen Umbruch, der sie um fünf vor zwölf aus einer selbstzerstörerischen Dynamik hinausführen soll. Nur in der Land- und Ernährungswirtschaft geben bis heute die Kräfte den Ton an, die einen Wandel unter allen Umständen verhindern wollen. Mit grosser Hartnäckigkeit verkaufen sie Kosmetik als Lösung. Doch hinter den Kulissen ist ein ebenso grundlegender Wandel hin zu einem neuen Land- und Ernährungssystem im Gange. Mit einer Serie von Newslettern wollen wir ihn besser sichtbar machen, in den grossen Kontext einordnen und mithelfen, ihm so die für den Wandel nötige Kraft zu verleihen.
(VL) Im Diskussionsforum einer internationalen Konferenz zur Zukunft des landwirtschaftlichen Pestizideinsatzes sagte eine Wissenschaftshistorikerin, die über die Agrargeschichte in Deutschland forscht: «Ich staune, wie in der Landwirtschaft noch die genau gleichen Fragen und Probleme debattiert werden wie vor 30 Jahren.» Genau dasselbe kann auch über die Schweizer Landwirtschaft gesagt werden. Pestizide, Biodiversität, Nährstoffüberschüsse, abnehmende Bodenfruchtbarkeit, Klimagasemissionen, negative Energieeffizienz, Gewässerverschmutzung etc. etc. Alle diese existenziellen Baustellen sind jahrzehntealt, ohne dass wesentliche Fortschritte erzielt werden konnten, nicht selten im Gegenteil. Die konventionelle Landwirtschaft zerstört in atemberaubendem Ausmass die eigenen Lebensgrundlagen, und dies mithilfe von Milliarden an staatlichen Beihilfen.
Viele Wirtschaftsbereiche haben den hochgradigen Handlungsbedarf erkannt - oder wurden von der Politik dazu gezwungen. Sie befinden sich in einem ebenso tiefgreifenden wie unglaublich raschen Wandel. Die Autoindustrie investiert Milliarden in die Ablösung des Verbrennungsmotors, der bis vor wenigen Jahren während rund eines Jahrhunderts den Strassenverkehr scheinbar alternativlos beherrscht hat. Ebenso grundlegend ist der Wandel im Energiesektor, wo ganz Verbrauchergruppen aufgrund von Effizienzgewinnen weitgehend wegbrechen und Sonne/Wind plötzlich günstiger werden als die «alten» umwelt- und klimazerstörerischen Energiequellen, die noch vor kurzem absolut unverzichtbar erschienen. Der Kontrast zur Landwirtschaft könnte deutlicher nicht sein.
Landwirtschaft: Kosmetik wird noch immer als Lösung verkauft
Statt quasi den «Verbrennungsmotor» zu ersetzen, wird noch immer mit riesigen Investitionen daran geforscht, den gleichen «Motor» effizienter und besser zu machen. Die Traktoren werden jedes Jahr noch etwas stärker, damit sie ihr schweres Gerät weiterhin durch die immer stärker verdichteten Böden ziehen können. Laufend hält noch mehr Technik Einzug in die bereits heute weitgehend industrialisierte bäuerliche Tätigkeit und vergrössert ihre Abhängigkeit von der Industrie noch mehr. Selbst in den letzten Winkeln der Alpentäler ersetzen heute dröhnende Laubbläser die Handrechen, Helikopter die Heutransportbähnchen, Roboter die bescheidenen Melkmaschinen. Die Pestizide sollen dank Robotertechnik «noch gezielter» eingesetzt und «ihr Risiko weiter minimiert» werden. Dieser jahrzehntealte Spruch der Agrochemie hat sogar Eingang gefunden in den «Aktionsplan Pflanzenschutzmittel» des Bundes und prägt noch immer jede parlamentarische Debatte zur «Lösung» des Pestizidproblems.
Die Probleme werden nicht geringer wenn wir sie mit denjenigen Mitteln zu lösen versuchen, die sie verursacht haben. Die Kosten für diese Lösungsansätze steigen laufend, die Erlöse aus der Produktion sinken entsprechend. Die Rechnung bezahlen die Bäuerinnen und Bauern, die sich im Hamsterrad des «Fortschrittes» fangen liessen. Viele Höfe lassen sich in die Schuldenfalle treiben. Nirgends ist die Verschuldung der Landwirtschaft höher als in der Schweiz. In die Bresche springt der Staat, der das System mit Zahlungen in Milliardenhöhe am Leben erhält, während die Umweltdefizite und die Schulden laufend weiter zunehmen.
Kontrast Energieumbau
Hinter dieser eigentlich grotesken Entwicklung in der Landwirtschaft steht ein Narrativ, das bis heute tief in allen Köpfen verankert ist und das von der Agroindustrie mit grossem Aufwand weiter gepflegt wird. Denn sie verdient daran enorm viel Geld. Allein in einem kleinen Land wie der Schweiz entzieht sie den Bauernhöfen jährlich über ein halbes Dutzend Milliarden Franken.
Wie andere Branchen das alte Wachstumsparadigma erfolgreich überwunden haben zeigt ein Blick in die Energiewirtschaft. Stellen Sie sich vor, die Energiekonzerne würden bei jeder sich bietenden Gelegenheit warnen, dass der Menschheit in Zukunft wesentlich mehr Energie zur Verfügung stehen müsse, da sie weiter stark wachse und ihr Energiebedarf deshalb stark zunehmen würde. Es müsse deshalb mehr Erdöl gefördert, mehr Atomstrom produziert und auch die letzten Wasserkraftreserven noch genutzt werden – natürlich alles möglichst schonend, mit modernster Technik und nachhaltig. Und natürlich mit Ergänzung erneuerbarer Energien, die aber angesichts des Bedarfs aber leider nur Nische bleiben könnten.
Eine solche Denkweise - noch vor wenigen Jahren unhinterfragter Standard – würde heute kaum mehr ein Politiker zu vertreten wagen, der ernst genommen werden will.
Alte Denkmuster blockieren Wandel
Es ist längst im allgemeinen Bewusstsein angekommen, dass wir trotz stark zunehmender Bevölkerung in der Schweiz nicht zusätzliche Energiequellen benötigen. Sondern dass die Energiesparmöglichkeiten viel grösser sind als der Bevölkerungszuwachs, und dass wir den verbleibenden Bedarf so rasch als möglich aus nachhaltigen Quellen beziehen müssen, die quasi vor der Haustüre liegen und die völlig anders funktionieren als das alte Energieversorgungssystem. Dieser Paradigmenwechsel ist längst in der Realität angekommen. Denken wir nur an den Beleuchtungssektor, wo heute bei gleichem Komfort und höherem Bedarf an Licht 80% der früher benötigten elektrischen Energie eingespart werden kann dank dem Ersatz der Glühbirne durch die LED-Technik. Oder denken wir an den Gebäudesektor, wo heute moderne Bauten nicht mehr nur viel weniger Energie verbrauchen, sondern bei Ausschöpfung aller Möglichkeiten unter dem Strich sogar Energie produzieren. Damit wird das bisherige Denken auf den Kopf gestellt und hat einer neuen Realität Platz gemacht.
Noch tief im alten Narrativen verhaftet
In der der Land- und Ernährungswirtschaft dagegen wird das uralte, sachlich längst überholte Narrativ weiterhin bei jeder sich bietenden Gelegenheit von Landwirtschaftsvertretern in die Medien, die Politik und die öffentliche Debatte gedrückt. Die Menschheit wächst, darum brauchen wir dringend mehr Nahrungsmittel. Agrarkonzerne und die tonangebenden PolitikerInnen tragen diese längst überholte Mär des weltweit steigenden Nahrungsmittelbedarfs unhinterfragt in die politischen Debatten, die Medien, in unzählige wissenschaftliche Forschungsprojekte und selbst in die Schulstuben hinein: Die Menschheit sei gezwungen, auf den verfügbaren Flächen noch mehr aus den Böden und den Tieren herauspressen – deshalb brauche es noch mehr und noch bessere Technik, Hilfsstoffe, Roboter, Drohnen...
Noch immer werden enorme private und staatliche Mittel dafür verschwendet, das alte Narrativ weiter zu bewirtschaften. Für die Entwicklung der Land- und Ernährungswirtschaft wirkt sich die Weigerung des Neudenkens katastrophal aus. Mit Dutzenden Millionen an Staatsgeldern werden Forschungsprojekte finanziert, die in den alten Netzwerken und Paradigmen verhaftet sind, oft verbandelt mit der Industrie und den Profiteuren des alten Systems. Sie haben keinerlei Interesse, den unumgänglichen Wandel herbeizuführen.
Systemwechsel braucht Vielfalt der Lösungen
Das ist umso fataler, als das Wissen, wie ein Systemwechsel gelingen könnte, genauso wie im Energiesektor eigentlich längst weitgehend vorhanden ist. Genauso, wie der Systemwechsel in der Energiewirtschaft nicht einfach Solarpannels sind, ist der Systemwechsel in der Landwirtschaft nicht einfach Bio. Bio ist ein Label, ein gutes Label. Aber kein Systemwechsel wird von nur einer Marke, einem Konzept allein bewerkstelligt. Die Solarbranche war enorm wichtig für den Umbau des Energiesystems, Tesla war enorm wichtig für den Umbau in der Autobranche – aber die Zukunft der Energieversorgung heisst nicht einfach Solar und die Zukunft der Automobilität nicht einfach Tesla, und die Zukunft der Landwirtschaft ist kein Bioland. Es braucht eine Vielfalt an Lösungen, die insgesamt den Systemwechsel ermöglichen und die alle an ihrem Ort ihren Beitrag leisten.
Dabei sei mit aller Deutlichkeit darauf hingewiesen: Bio hat enorm viel zum aufkeimenden Systemwechsel beigetragen. Bio ist quasi der Tesla der Landwirtschaft. Viele andere Ansätze, die teilweise deutlich über die Bio-Anforderungen hinausgehen und weitere grundlegende Verbesserungen mit dem «über den Tellerrand hinaussehen» bringen, bleiben derzeit aber weitgehend unter dem Radar. Dahinter steckt oft (das) System. Grossverteiler und selbst etablierte Nachhaltigkeitslabels haben kein Interesse, Konkurrenz aufkommen zu lassen. Sie haben sich bequem im System eingerichtet. All die neuen Ansätze werden in den Agrarmedien meist in die Kuschelecke gestellt mit der Standardbehauptung: «Interessante Nische, aber um die Massen zu ernähren untauglich». Gegen die SRF-Sendung «Netz Natur», welche zukunftsweisende Landwirtschaftsmethoden vor wenigen Wochen in einem ausgezeichneten Beitrag portraitierte, gehen die etablierten Agrarkreise über den Schweizer Bauernverband nun sogar mit einer Klage vor. So weit haben wir es in der Landwirtschaft gebracht: Wer weiterdenkt, wird von der tonangebenden Lobby sofort zurückgebunden, lächerlich gemacht oder gar eingeklagt.
Aber so ungewöhnlich ist das nicht. Genau so wurden die ersten Elektropioniere in der Autobranche damals lächerlich gemacht, verhöhnt, ausgebremst. Heute geben sie den Ton an. Ihre Investitionen führten sie mithilfe staatlicher Vorgaben aus der Nische heraus und ermöglichten den Systemwechsel.
Die Lösungen sichtbar machen
Die oft noch unsichtbaren Nischenpioniere möchten wir mit unserer Arbeit unterstützen und fördern. Manchmal sind es erstaunlich einfache, sowohl wirtschaftlich wie ökologisch äusserst effektive Handlungsansätze, die aber gerade deshalb enorm viel Potenzial aufweisen, weil sie aus den gängigen Denkschemen fallen. Die oft unspektakulär scheinenden «Nischenlösungen», die letztlich den Systemwandel erst ermöglichen werden, werden wir in einer Serie von Beiträgen vorstellen und damit aufzeigen, welche Vielfalt an Lösungen bereits vorliegen und wie sie zusammenwirken können, um den Systemwechsel zu schaffen. Wir haben gar keine andere Wahl. Und es ist (fast) alles parat. Packen wir’s jetzt an!
Kästchen: Ihre vier persönlichen Beiträge, die für die Landwirtschaft der Zukunft den Unterschied ausmachen.
Reduzieren Sie den Fleischkonsum auf 200-300 Gramm pro Woche und Person!
Kaufen Sie lokal produzierte Produkte ein. z.B. Bio- und IP-Suisse-Produkte. Achten Sie darauf, dass diese ohne Pestizide und ohne importierte Futtermittel produziert worden sind.
Reduzieren Sie den Food Waste. 50% der produzierten Nahrungsmittel werden weggeworfen, davon über die Hälfte im Haushalt. Das ist eine enorme Verschwendung, die wir selber ändern können – und dabei erst noch das Portemonnaie schonen.
Unterstützen Sie die Trinkwasser- und die Pestizidinitiative. Diese beiden Volksinitiativen werden die Politik zwingen, erste entscheidende Schritte hin zum dringend nötigen Systemwandel einzuleiten. Nicht umsonst werden sie von der Agrarlobby mit allen Mitteln bekämpft.
(VL) Wer soll die Kosten der Produktion von Gütern und Dienstleistungen tragen? Grundsätzlich ist die Antwort klar und weitherum anerkannt: Zahlen soll, wer die Kosten verursacht. Wenn dies der Fall ist, liegt «Kostenwahrheit» vor. In der Landwirtschaft und Ernährung wird dieses Prinzip heute auf den Kopf gestellt. Um-weltschädigende Produktionsweisen und Konsummuster werden vom Staat massiv begünstigt. Nicht nachhaltig produzierte Güter werden so viel zu günstig, nachhaltige zu teuer. Das Problem ist also nicht der Konsument, der nicht bereit ist, für nachhaltige Nahrungsmittel deutlich mehr zu bezahlen, sondern ein agrarpolitisches System, das die Preise zugunsten eines nicht nachhaltigen Konsums verzerrt und damit nachhaltiges Konsumverhalten systematisch behindert. In einer neuen Studie von Vision Landwirtschaft wird der Umfang dieser Verzerrungen erstmals quantifiziert. Um die agrarpolitischen Ziele im Bereich Umwelt und Ernährungssicherheit zu erreichen, wird es unumgänglich sein, das heutige System grundlegend neu auf Kostenwahrheit auszurichten.
Kostenwahrheit ist ein Grundprinzip einer transparenten, fairen Marktwirtschaft. Wer Kosten verursacht, soll dafür aufkommen. Im Bereich des Verkehrs wurde schon vor vielen Jahren erkannt: die Kosten umfassen neben den privaten Kosten der Fahrzeuge und Treibstoffe weitere Kostenbereiche: Kosten für die Steuerzahler, z.B. durch den Strassenbau, und Kosten zulasten der Allgemeinheit durch Umweltbelastungen und Verkehrsunfälle, sog. externe Kosten. Das Bundesamt für Statistik (BFS) publiziert regelmässig, wie hoch die Gesamtkosten des Verkehrs sind und wer sie trägt.
Wie sieht die Situation in der Land- und Ernährungswirtschaft aus? Neben den Konsumenten tragen auch die Steuerzahler und die Allgemeinheit einen Teil der Kosten. Doch wie hoch diese sind, ist bisher in der Landwirtschaft im Gegensatz zum Verkehr nie ermittelt worden. Vision Landwirtschaft legt nun erstmals eine Statistik vor, welche die Gesamtkosten der Nahrungsmittelproduktion transparent erfasst und nach Kostenträgern aufschlüsselt. Als Grundlagen dienten offizielle Statistiken des Bundes und eine wissenschaftlich fundierte Berechnung der externen Kosten der Schweizer Landwirtschaft.
Von Kostenwahrheit weit entfernt
Die Ergebnisse der Studie zeigen: Landwirtschaft und Ernährung sind heute vom Prinzip der Kostenwahrheit weit entfernt. Von den fossilen Energieträgern über Beiträge für Pestizidspritzgeräte und Fleischwerbung bis zur Entsorgung der Schlachtabfälle wird die Nahrungsmittelproduktion vom Bund auf alle erdenklichen Arten subventioniert. Hinzu kommen die Umweltkosten zulasten der Allgemeinheit, die beispielsweise durch Pestizide oder Ammoniakemissionen verursacht werden und kostspielige Gegenmassnahmen erfordern.
Besonders problematisch: die Produkte, welche für die Allgemeinheit die grössten Umweltbelastungen verursachen, werden am stärksten subventioniert. Die Produktion tierischer Nahrungsmittel, welche die Hälfte der Kalorienproduktion ausmacht und drei Viertel der Umweltkosten der Landwirtschaft von 3,6 Milliarden Franken verursacht, wird vom Bund viermal stärker subventioniert als die Produktion pflanzlicher Nahrungsmittel. Beim Rindfleisch beispielsweise zahlen die Konsumenten deshalb weniger als die Hälfte der wahren Kosten.
Widerspruch zu Zielen und Strategien
Wenn Bohnen oder Vegi-Burger mehr kosten als Poulet oder Hackfleisch, kommt nachhaltiges Verhalten einem Schwimmen gegen den Strom gleich. Die in Landwirtschaftskreisen beliebte Sichtweise, dass das Problem bei den Konsumentinnen und Konsumenten liege, die nicht bereit seien, für nachhaltige Produkte mehr zu bezahlen greift zu kurz. Landwirtschaft und Ernährung sind durchsetzt von ökonomischen Fehlanreizen, die gesunde und nachhaltige Produktionsweisen und Konsummuster systematisch behindern.
Die Politik des Bundes steht auch im Widerspruch zu dessen eigenen Zielen und Strategien, und zwar nicht nur im Bereich Umwelt. Gemäss der Schweizer Ernährungsstrategie (BLV 2017) werden zu viel Fleisch sowie Milchprodukte mit hohem Fettgehalt und zu wenig Getreideprodukte, Kartoffeln, Hülsenfrüchte und Gemüse konsumiert. Der Bund trägt mit seinen Rahmenbedingungen für die Landwirtschaft also zu ungesunden und umweltschädigenden Konsummustern bei.
Die fehlende Kostenwahrheit liefert auch die Erklärung, warum die Agrarpolitik trotz ihrem hohen Mitteleinsatz die Vorgaben des Umweltrechts weit verfehlt (s. Bericht «Indikatoren für die Beurteilung der Agrarpolitik»). Der Bund zahlt heute jährlich hunderte Millionen Franken zur Schadensbegrenzung, also allein dafür, dass die Umweltziele nicht noch umfassender verfehlt werden, wie eine aktuelle Studie der Forschungsanstalt WSL am Beispiel der Biodiversität aufzeigt.
Frage der Fairness
Kostenwahrheit in der Landwirtschaft ist aber nicht nur Voraussetzung für die Erreichung der Umweltziele, sondern auch eine Frage der Fairness. Die heutige Politik weitab vom Verursacherprinzip bestraft beispielsweise diejenigen, die sich umwelt- und tierfreundlich ernähren, oder Landwirte, die mit ihrem Verhalten sehr viel für die Umwelt leisten.
Wie Kostenwahrheit erreichen? Kostenwahrheit in der Landwirtschaft bedeutet konkret:
Subventionen, die an landwirtschaftliche Inputs wie fossile Energie oder Outputs wie Milch oder Schlachtabfälle gebunden sind, sind eliminiert.
Kosten zulasten der Allgemeinheit durch Emissionen aus importierten oder künstlich hergestellten Produktionsmitteln (fossile Energie, importierte Futtermittel, Mineraldünger, Pestizide) werden ihren Verursachern angelastet.
Umweltbelastungen, die im Rahmen guter fachlicher Praxis auf Basis der regionalen Produktionsgrundlagen und unter Anwendung ressourcenschonender Technik entstehen, haben keine finanziellen Konsequenzen für die Produzenten.
Als gemeinwirtschaftliche Leistungen unterstützt werden weiter gehende Leistungen wie pestizidfreie Produktion, Reduktion von CO2-Emissionen durch Umwandlung von Äckern auf Moorböden in Grünland, etc.
Bei importierten Nahrungsmitteln werden die Umweltauswirkungen der Produktion deklariert und mit Abgaben belegt, um eine Benachteiligung der einheimischen Produktion zu verhindern. Pauschale Zölle können in diesem Umfang reduziert werden.
Das Resultat davon ist, dass der nachhaltige wirtschaftende Landwirt günstiger produzieren kann als der umweltschädlich produzierende. Dadurch werden umweltfreundliche Nahrungsmittel im Laden günstiger als umweltschädlich produzierte.
Masterplan benötigt
Um Kostenwahrheit auch in der Agrarpolitik zu verankern und damit einer nachhaltigen Landwirtschaft nicht weiterhin Milliarden an Steuergeldern in den Weg zu stellen, ist ein Masterplan nötig. Sein Horizont geht dabei über die vierjährigen Etappen der Agrarpolitik hinaus. Zudem muss er mit den offiziellen Zielen und Strategien des Bundes in den Bereichen Umwelt, Klima, Gesundheit und Ernährung eng koordiniert werden.
Zitierte Literatur: BLV (2017). Geniessen und gesund bleiben. Schweizer Ernährungsstrategie 2017–2024. Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV, Bern.
Eine Annahme der Trinkwasserinitiative (TWI) hätte in der Schweiz auf Umwelt und bäuerliches Einkommen positive Auswirkungen. Dies zeigt eine frühere Studie von Agroscope. Mit einer heute publizierten Ergänzungsstudie bezieht Agroscope auch die Umweltwirkungen im Ausland ein. Und siehe da: Im Ausland soll die TWI nun sehr negative Auswirkungen auf die Umwelt haben. Doch dieses Resultat kommt nur mit einer Reihe von Tricks und völlig unrealistischen Annahmen zustande.
(VL) Punktgenau zu den Verhandlungen der WAK-Ständerat zur Trinkwasserinitiative (TWI) veröffentlichte die Forschungsanstalt Agroscope heute ihre zweite Analyse zu den Auswirkungen der Trinkwasserinitiative.
Doch nicht nur mit ihrem exakten Timing macht Agroscope Politik. Auch der Inhalt ist mehr Politik als Wissenschaft. Die Studie bestätigt zwar eine Vorläuferstudie, die bereits feststellte: Eine Annahme der Trinkwasserinitiative würde in der Schweiz den Pestizideinsatz um zwei Drittel verringern und die Wasser- und Umweltqualität entsprechend massiv verbessern.
Mit der neuen Studie will Agroscope nun aber herausgefunden haben, dass die Trinkwasserinitiative letztlich eben doch schlecht für die Umwelt sei. Grund: die Schweiz müsste aufgrund verringerter Erträge mehr Nahrungsmittel importieren. Und jede aus dem Ausland importierte Kalorie sei massiv umweltschädlicher als die in der Schweiz produzierten Lebensmittel.
Mit Tricks zum gewünschten Resultat Um diese abenteuerliche Aussage zu belegen – mit der Agroscope im übrigen zahlreichen anderen Studien widerspricht – legt die Forschungsanstalt der Modellierung geradezu haarsträubende Annahmen zugrunde.
Vision Landwirtschaft war Teil der Studien-Begleitgruppe und kritisierte diese Annahmen vehement. In keinem einzigen Fall hat Agroscope die kritisierten Punkte aus der Begleitgruppe berücksichtigt und keine der völlig unrealistischen Modellierungsannahmen korrigiert.
Ein Beispiel: Agroscope nimmt in ihrem Modell an, dass im Inland durch die TWI eine Extensivierung erfolgt, was ökobilanzmässig relativ wenig Auswirkungen hat, aber in einer Minderproduktion resultiert. Das führt zu mehr Importen. Im Ausland nimmt Agroscope dagegen an, dass für jede deshalb zusätzlich importierte Kalorie zusätzliches Landwirtschaftsland auf Kosten von naturnahen Flächen beansprucht wird. Das ist komplett unrealistisch. Es werden Äpfel mit Birnen verglichen. Diese abenteuerliche Modellannahme führt zu einem extrem negativen Resultat der Umweltwirkung im Ausland. Agroscope folgert, dass die TWI die Abholzung fördere und auch fast alle übrigen Umweltaspekte negativ beeinflusst würden.
Die Studie ist voller solcher Absurditäten (Details siehe Kästchen), die letztlich zu genau dem Resultat führen, das herauskommen sollte.
Glaubwürdigkeit untergraben Die Resultate der Agroscope-Studie müssen unter dem Stichwort «Politik einer Bundesanstalt» abgebucht werden, mit Wissenschaft haben sie nichts zu tun. Vision Landwirtschaft distanziert sich deshalb in aller Form von der Studie.
Das Bekenntnis von Agroscope-Direktorin Eva Reinhard in ihren einleitenden Worten zur Studie wirkt vor diesem Hintergrund wie ein schlechter Witz:
"Sie (die Wissenschaft) erarbeitet wissenschaftlich fundierte Grundlagen und vermittelt diese Informationen. Damit unterstützt sie die sachliche Diskussion und hilft mit, gemeinsam nachhaltige Lösungen zu finden."
Kästchen: Die wichtigsten Mängel der neuen TWI-Studie von Agroscope
1. Die Studie geht davon aus, dass nach Annahme der TWI im Ausland zusätzliche Landwirtschaftsfläche in Anspruch genommen werden muss, und zwar auf Kosten von Wald und naturnahen Gebieten. Diese – komplett unrealistische Prämisse (s. Hintergrundinformationen) – führt zu einer extrem schlechten Ökobilanz der zusätzlich importierten Lebensmittel.
2. Die Studie berücksichtigt die Auswirkungen der 2017 vom Volk angenommenen Ernährungssicherheitsinitiative nicht. Die Massnahmen, die beim Bund bereits in Vorbereitung sind, werden dazu führen, dass umweltschädigend produzierte Nahrungsmittel gar nicht mehr importiert werden dürfen. Die Umsetzung des Ernährungssicherheitsartikels wird längst abgeschlossen sein, wenn die TWI nach achtjähriger Übergangsfrist, also ab 2029, ihre Wirkung entfaltet. Die von Agroscope ermittelte negative Umweltbilanz zusätzlicher Importprodukte hat dann keine Grundlage mehr. Ohne Berücksichtigung des Ernährungssicherheitsartikels sind die Resultate der Studie daher bedeutungslos.
3. Die Studie berücksichtigt zudem nicht, dass die Schweiz bis 2030 die vermeidbaren Lebensmittelverluste (Food Waste) um 50% reduziert haben muss (Sustainable Development Goal SDG 12.3). Dadurch müssen viel weniger Nahrungsmittel produziert werden und der Importbedarf dürfte um über 20% zurückgehen. Selbst wenn die TWI zu etwas geringeren Erträgen in einzelnen Kulturen führen sollte, wäre dieser Produktionsrückgang durch den vermiedenen Food Waste um ein Mehrfaches kompensiert.
4. 90% der heutigen landwirtschaftlichen Forschungsarbeiten in der Schweiz beschäftigen sich mit pestizidabhängigen Anbautechniken. Die TWI fordert, dass die Forschungsmittel im Agrarbereich konsequent umgelagert werden zur Weiterentwicklung von nachhaltigen, pestizidfreien landwirtschaftlichen Produktionsweisen. Experten gehen davon aus, dass bei einer Umlagerung der Forschung auf agrarökologische Anbauverfahren schon in einigen Jahren die Erträge bei pestizidfreiem Anbau kaum mehr tiefer ausfallen dürften. Damit wären keine zusätzlichen Importe mehr nötig.
Immer mehr Bauern und Bäuerinnen hinterfragen das Credo: «Nur wenn wir düngen und spritzen sind gesunde Kulturpflanzen und hohe Erträge möglich». Braucht die Pflanze für ihr Gedeihen nicht etwas ganz anderes, nämlich einen gesunden, lebendigen Boden? Diese Überzeugung steht hinter der «regenerativen Landwirtschaft». Sie ist mittlerweile zu einer Bewegung angewachsen, zu der sich immer mehr LandwirtInnen hingezogen fühlen. Sie verzichten dabei freiwillig auf Pestizide und Kunstdünger. Im Zentrum steht ein gesunder, fruchtbarer Boden. Was regenerative Landwirtschaft ist, zeigt das Portrait eines Pionierbetriebes.
(VL) Was würde passieren, wenn man als Bauer darauf vertraut, dass das System Pflanze und Boden keinerlei Zusätze und Spritzmittel bedarf, um produktiv zu sein? Würden ein gesunder, lebendiger Boden und geschlossene Nährstoffkreisläufe für das gute Gedeihen der Pflanze genügen? Genau dies ist das Grundprinzip der regenerativen Landwirtschaft. Doch wie sieht es bei den Erträgen aus? Einige Produzenten, die regenerativ wirtschaften, sind überzeugt, mit den Erträgen der konventionellen, Landwirtschaft mithalten zu können. Doch wie ist das möglich?
Boden und Pflanze: ein System
Der Boden und die Pflanze stehen in einem permanenten Austausch, viel mehr noch: sie interagieren sozusagen als Gesamtorganismus. Die Pflanzen produzieren mittels der Photosynthese Zucker. Damit versorgen sie nebst dem eigenen Bedarf auch den Boden und die darin lebenden Mikroorganismen wie Bodenbakterien und Bodenpilze. Ganze 90% ihrer Photosynthese-Leistung gibt die Pflanze an den Boden weiter. Die Pflanze ist so Teil einer symbiotischen Beziehung. Sie ernährt die Bodenorganismen und bekommt ihrerseits von diesen genau das zur Verfügung gestellt, was sie braucht – nämlich Bodennährstoffe, die sie aufschliessen und pflanzenverfügbar machen. Der Landwirt muss im Prinzip nichts weiter tun, als den Boden und das Ökosystem so aufzubereiten, dass die Wechselwirkungen zwischen Pflanze und Boden optimal gelingen können. Ein zentraler Faktor ist dabei der Humusgehalt des Bodens. Denn die Bodenorganismen benötigen humusreichen Boden. Ab dem Moment, ab dem ein Bodenklima herrscht, in dem sich die Bodenlebewesen wohl fühlen, versorgen sie die Pflanze mit all dem, was diese für ein gesundes und kräftiges Wachstum braucht.
Hof Stucki
Nach diesen Grundprinzipien produziert die Familie Stucki auf ihrem Hof bei Dägerlen im Bezirk Winterthur.
Bauer Ralf Stucki in einem seiner Gemüsefelder.
Mit dem Boden arbeiten
Wir spazieren über die 26,5 Hektaren Land der Stuckis. In erster Linie wird Gemüse- und Obst angebaut. Nebst den Wollschweinen, Hühnern, Enten und Truthähnen weiden auch 24 Milchkühe. „Hier siehst du die ersten Gemüsefelder“, sagt Ralf Stucki. Wie ich mich umdrehe sehe ich lange Streifen, welche mit geschnittenem Gras überdeckt sind. Stucki kniet sich nieder und gräbt seine Finger in den Mantel aus Gras. Dies sei Mulch, erklärt er. Ich tue es ihm gleich, und bohre meine Finger in die Grasschicht: Unter dem Gras ist es angenehm warm und dies, obwohl die Temperatur in den letzten Tagen nochmals fast bis zur Null-Grad Grenze gesunken ist.
Unter der Mulchschicht ist es angenehm warm.
Aus der Nähe kann ich erkennen, wie kleine Selleriepflänzchen ihre hellgrünen kräftigen Blätter aus der Mulchschicht schieben. Der Mulch, so Stucki, muss beim Austragen frisch geschnitten und grün sein, damit die durch die Photosynthese gewonnene Energie im Gras gänzlich enthalten ist. Ausgetragen auf das Feld, wird das Gras innerhalb eines Jahres langsam abgebaut. Während dieses Prozesses gehen die Nährstoffe, welche im Gras enthalten sind, in den Boden über. Bevor es soweit ist, wirkt die Schicht aus Mulch isolierend – das heisst sie speichert die Wärme. Das ist besonders im Frühjahr wichtig und schützt den Boden zugleich vor dem Austrocknen. Dank der Mulchschicht, erklärt Ralf Stucki, wächst kaum Unkraut, welches die noch kleinen Pflänzchen konkurrieren könnte. Dadurch, dass die Erde von praller Sonne und starkem Regen geschützt bleibt, verklumpt und verdichtet sie sich nicht.
Selleriepflänzchen im Mulch.
Ralf Stucki ist zufrieden mit dem Resultat, die Pflanzen gedeihen in der Mulchschicht prächtig. Zudem sei der Arbeitsaufwand gering, nach dem Setzen und Überdecken mit Mulch sei alles getan, sagt er zufrieden. Er müsse den Boden nicht mehr befahren, nicht weiter bearbeiten, müsse nicht düngen und schon gar nicht spritzen. Da die Mulchschicht die Wasserverdunstung minimiere, müsse er die Setzlinge auch kaum je wässern. Er hätte eigentlich, schmunzelt er, nichts mehr mit der Pflanze zu tun, bis dass er sie ernten könne. Für eine Hektare Mulch bedarf es vier Hektaren stehendes Gras, fügt Ralf Stucki hinzu. Damit die Arbeit mit dem Mulch machbar bleibt und sich in Bezug auf den Ertrag lohnt, werden nach dem Ernten neue Setzlinge in den Mulch gepflanzt.
In der Reihe direkt neben den Selleriepflänzchen wachsen Zwiebeln und Meerrettich. Stuckis arbeiten mit Mischkulturen. Nicht umsonst sagt man „gute Nachbaren wachsen zusammen“. Krankheiten und Schädlinge haben in Mischkulturen geringere Chancen sich auszubreiten. Zudem hat jede Pflanze einen anderen Nährstoffbedarf. Als Mischkultur angebaut, nehmen sie sich gegenseitig nichts weg. Auch dies ist ein Weg, um einer Auslaugung des Bodens vorzubeugen und zu vermeiden, dass Dünger zugeführt werden muss. Die Pflanzenkombinationen erarbeitet Ralf Stucki im Austausch mit dem Bio-Saatgutproduzenten Sativa Rheinau AG. Aktuell wachsen Quinoa neben Zucchetti und Aubergine, Fenchel neben Linsen, Saubohnen und Perlerbsen.
Mischkultur Aubergine, Fenchel.
Beobachten und lernen
Stuckis Lust zu experimentieren und seine grosse Offenheit, Neues zu lernen, sind beeindruckend und ansteckend. Es wird deutlich, dass genau diese Eigenschaften Basis dieses Betriebes sind, der 280 verschiedene Produkte hervorbringt. Da sie nicht an den Grosshandel liefern, sondern ihre Produkte direkt verkaufen, können Stuckis statt auf Menge auf Vielfalt setzen. Dies wiederum ist eine ideale Ausgangslage, um mit Mischkulturen zu arbeiten und zu experimentieren.
Zweimal im Jahr widmet sich Ralf Stucki dem Boden in ganz besonderem Masse. Dazu erstellt er eine Art Sud aus frischer Brennnessel, angereichert mit Meerrettich- und Algenextrakt. Diese Pflanzenfermente, sogenannte Rottenlenker spritzt Stucki mit einem Tiefenlockerer in den Boden, um damit die Mikroorganismen im Boden direkt zu ernähren. Auch der Tiermist findet eine ähnliche Verwendung. Dieser wird bei Stuckis nicht direkt aufs Feld gebracht, denn dies wäre viel zu aggressiv für den Boden und die darin lebenden Organismen, sondern er wird zuerst fermentiert und erst dann in die Kulturen eingearbeitet. Man könne es regelrecht riechen, wenn der Fermenter oder Komposttee ausgebracht sei und der Boden anfange zu arbeiten: «Der Boden riecht wie nach einem frischen Sommerregen, er beginnt zu atmen», sagt Stucki. Seine Erfahrung bestätigt: die Pflanzen profitieren von dieser Bodenpflege, sie seien deutlich vitaler.
Lockere Struktur und dunkelbraune Färbung zeigt einen optimalen Belebungszustand.
Der Landwirt als «Forscher»
Nebst dem ständigen Beobachten und Auswerten experimentiert Stucki auch: Den Mulch in die Erde einzuarbeiten, statt ihn als Mantel auf den Boden zu legen, bringt beispielsweise weniger Ertrag – das hat Stucki alles ausprobiert. Dass die Weihnachtsbäumchen in Kombination mit den Aprikosenbäumen wachsen, hat sich hingegen bewährt. Die Tannen schützen den Boden im Sommer vor dem Austrocknen, die Obstbäume beschatten die Tännchen und im Winter hausen die Hühner zwischen den Bäumen. So bleiben die Weisstannen frei von Schädlingen wie den Schildläusen und der roten Spinne. Ja sogar die Mäuse bleiben dank den Hühnern weg. Nebst allem Experimentieren ist es Stucki jedoch wichtig, dass alles machbar bleibt und der Hof mit seinen fünf Angestellten sich auch wirtschaftlich trägt. Und das tut es auch.
Christbäume zwischen den Aprikosenbäumen.
Der Hof – ein in sich geschlossenes System
Vertieft man sich mit Stucki ins Gespräch, merkt man rasch, welche Visionen sein Tun prägen. Nebst der Experimentierfreude ist Stuckis Denken dem Ansatz der regenerativen Agrikultur nahe. Ralf Stucki verfolgt eine Landwirtschaft im Sinne der Natur, er strebt nach gesunden Böden, die einen guten Wasserhaushalt aufweisen. Zudem ist es ihm wichtig, ganzheitliche Entscheidungen zu treffen, die ökologische, soziale aber auch wirtschaftliche Interessen gleichzeitig berücksichtigen.
Sein Hof funktioniert als ein in sich geschlossener Kreislauf. So wird beispielsweise das Tierfutter (Gras, zudem ergänzend etwas Gerste, Mais, Weizen und Soja) bei Stuckis alles selbst produziert, so dass nichts Weiteres dazu gekauft werden muss. Im Juli, wenn die Tomaten kurz vor der Ernte stehen, werden die Stauden zum Schutz vor Pilzbefall mit Milchwasser behandelt. Das saure Klima, welches durch die vergärende Milch auf den Blättern entsteht, verhindert, dass sich Pilze auf den Blättern ansiedeln. Für Stucki heisst regenerativ, dass alles zusammen als einheitliches System gedacht wird: die Böden, die Pflanzen, die Tiere und der Mensch. Alle diese Pfeiler stehen in Wechselwirkung miteinander und können sich gegenseitig nähren und stützen.
Der stetig voranschreitende Klimawandel wird neue Anforderungen an die Landwirtschaft stellen und ein Umdenken fordern. Gerade auch hier ist der Ansatz der Regenerativen Landwirtschaft vielversprechend, z.B. dann, wenn es darum geht, die Böden vor dem Austrocknen zu schützen oder Anbauflächen als mögliche CO2-Senke zu bewirtschaften.
Der Weg, den Stuckis beschreiten, ist also aus verschiedenen Blickwinkeln hochaktuell. Oder wie Stucki selbst sagt: «Ich weiss nicht, was richtig ist, aber ich habe definitiv das Gefühl, dass es richtiger ist, diesem Weg zu folgen, anstatt der immer abhängigeren konventionellen Landwirtschaft, und uns dieser Weg weiterführen kann als der bisherige.»
Der Bundesrat hat heute seine neuste Botschaft zur Reform der Agrarpolitik präsentiert. Die bisherigen mutlosen Vorschläge wurden deutlich nachgebessert. Doch erneut fehlt die Aussicht auf eine Agrarpolitik, die wenigstens die Einhaltung des Umweltrechtes sicherstellt. Bei den Stickstoffemissionen krebst der Bundesrat sogar hinter frühere Zielsetzungen zurück und will mit neuen Programmen die Tierhaltung gar wieder vermehrt fördern. Neben Vision Landwirtschaft wollen jetzt immer mehr Organisationen den Bund bis 2035 wenigstens zur Einhaltung der Umweltziele verpflichten. Dazu braucht es noch grundlegende Nachbesserungen – darunter nicht zuletzt das Weglassen von Zahlungen und Programmen, die mehr schaden als nützen. Weniger ist oft mehr.
(VL) Seit mehr als zwei Jahren wird im Bundesamt für Landwirtschaft intensiv daran gearbeitet und ein guter Teil der personellen Ressourcen in dieses Projekt gesteckt: Die „Agrarpolitik 2022+“. Denn die Erwartungen waren hoch. Schon vor vielen Jahren wurde die AP22+ als substanzieller Reformschritt angekündigt. Die Pestizid-, die Trinkwasser- und die Massentierhaltungs-Initiative, die Klimaziele, aber auch die fast wöchentlich auftauchenden Hiobsbotschaften über pestizidbelastetes Trinkwasser, Insektensterben, Biodiversitätsverlust und Klimawandel erzeugten starken zusätzlichen Druck.
Fehlende Transparenz
Tatsächlich erweckt die umfangreiche Botschaft den Anschein einer Reform. Einige Herausforderungen und Defizite werden minutiös aufgelistet (wie schon in vielen Botschaften und Agrarberichten zuvor), Ziele gesetzt sowie unzählige neue Massnahmen und Änderungen vorgeschlagen. Einige dürften tatsächlich wesentliche Verbesserungen bringen, andere wirken den gesetzten Zielen dagegen diametral entgegen, beispielsweise die vorgeschlagenen neuen Tierwohlprogrammen, welche die Tierhaltung gar wieder vermehrt fördern.
Umweltrecht systematisch verletzt
In den letzten 20 Jahren herrschte weitgehend Stillstand in der Agrarpolitik. Einzig eine gerechtere Verteilung der Mittel zwischen Tal- und Berggebiet und damit ein stark verlangsamtes Einwachsen von Landwirtschaftsflächen in Steillagen ist in dieser Zeit gelungen – ein Erfolg, zu dem Vision Landwirtschaft massgeblich beigetragen hat. Zudem wurde die Tierwohlprogramme weiter ausgebaut, wo die Schweiz heute eine Spitzenstellung einnimmt.
Was aber die anerkannten, auch im internationalen Vergleich gravierenden Umweltdefizite anbelangt, besonders beim Stickstoff, bei den Pestiziden oder bei der Biodiversität, konnten in den letzten 20 Jahren trotz Milliardenzahlungen keine Fortschritte verzeichnet werden. Teilweise verschlechterte sich die Situation gar weiter. Dieser Stillstand soll nun offenbar erstmals angegangen werden. Doch die konkreten Massnahmen bleiben noch weit hinter den rechtlich verbindlichen Umweltzielen zurück.
Die Lösung liegt nicht in einem Wust von neuen, sich teilweise widersprechenden Programmen. Die Landwirtschaft wird auch nach Umsetzung der administrativ aufwändigen Programme weiterhin chronisch Umweltrecht verletzen und dabei jährlich milliardenteure Schäden verursachen. Allein die Sanierung der Trinkwasserfassungen aufgrund von überhöhten Pestizidfrachten dürfte die Steuerzahler in den nächsten zwei Jahren Hunderte von Millionen Franken kosten.
Unmut erfasst weitere Kreise
Die fehlende konsequente Ausrichtung der Agrarpolitik auf eine nachhaltige Landwirtschaft wird letztlich vor allem auf dem Buckel der Landwirtschaft ausgetragen. Der bürokratische Aktivismus hält nicht nur die Landwirtschaftsbetriebe, sondern auch Bund und Kantone mit einem sinnlosen Administrationsaufwand auf Trab. Noch belastender aber empfinden viele Bäuerinnen und Bauern, dass sie immer häufiger zur Zielscheibe der Empörung in der Bevölkerung werden. Die Misserfolge und Umweltschäden werden ihnen in die Schuhe geschoben. Dabei reagieren sie grösstenteils einfach auf die grotesken Fehlanreize des Bundes.
Grundlegende Forderungen breit abgestützt
Der Unmut darüber, dass die teure Agrarpolitik der Schweiz nicht einmal in der Lage ist, wenigstens rechtskonforme Zustände herbeizuführen, während andere Länder in der gleichen Zeit mit viel bescheideneren Mitteln grosse Fortschritte machten, hat in zahlreichen Organisationen stark zugenommen.
Mit weitergehenden Forderungen für einen Wandel der Agrarpolitik ist heute Vision Landwirtschaft zum Glück nicht mehr allein. Erstmals bekennen sich die breit aufgestellten Mitgliederorganisationen der Agrarallianz, einschliesslich sechs bäuerliche Organisationen, in einem neuen Positionspapier einhellig zu den Umweltzielen Landwirtschaft: Sie fordern von der Agrarpolitik konkret die Einhaltung des Umweltrechtes bis ins Jahr 2035 und einen darauf ausgerichteten verbindlichen Absenkpfad mit Zwischenzielen bei den Pestiziden und beim Stickstoff.
Automatismus bei Zielverfehlung
Ebenso neu ist die Forderung, dass bei Nichterreichung der Zwischenziele zwingend Lenkungsabgaben oder ähnlich wirksame Instrumente wie Verbote oder Pauschalzahlungskürzungen einzuführen sind. Mit diesem Automatismus soll verhindert werden, dass nicht erreichte Ziele einfach wie bisher vom Bundesrat endlos in die Zukunft verschoben oder auch mal ganz gestrichen werden können. Dass dies in den letzten 20 Jahren tatsächlich der Fall war und die Bevölkerung immer wieder regelrecht verschaukelt wurde, zeigt Vision Landwirtschaft in einer neuen Analyse am Beispiel Stickstoff.
Wind hat gedreht
Beim Bundesrat bzw. beim Bundesamt für Landwirtschaft scheint der stark gewachsene Unmut der Bevölkerung über die Fehlleistungen der Agrarpolitik noch zu wenig angekommen zu sein. Auf die Trinkwasser-, Pestizid- und Massentierhaltungsinitiativen hat der Bundesrat mit seiner Botschaft jedenfalls noch keine Antwort gefunden. Vision Landwirtschaft wird auch in der kommenden parlamentarischen Diskussion alles unternehmen, damit die AP22+ wie einst in Aussicht gestellt konsequent für Lösungen statt für sinnlosen administrativen Aufwand genutzt wird.
Und Lösungen liegen nämlich längst weitgehend auf dem Tisch. Das zeigen auch Tausende von Bäuerinnen und Bauern, die bereits heute nachhaltig wirtschaften. In der Klimapolitik hat der Wind bereits gedreht. Der agrarpolitische Gegenwind durch Fehlanreize, der nachhaltig wirtschaftenden Landwirtschaftsbetrieben das Leben heute noch schwer macht, muss sich nun ebenfalls 180 Grad wenden und diejenigen konsequent unterstützen, welche ihre Landwirtschaft zukunftstauglich gestalten.
Die Zukunft des Schweizer Zuckers steht zur Debatte. Denn der Anbau von Zuckerrüben droht trotz einer sehr hohen staatlichen Stützung seine wirtschaftliche Attraktivität zu verlieren. Grund: die fallenden Zuckerpreise auf dem Weltmarkt. Wie es mit der inländischen Zuckerproduktion weitergehen soll, wird im Rahmen der Agrarpolitik 22+ entschieden. Bisher drehte sich die Diskussion vor allem um die Wirtschaftlichkeit. Dank einer aufwändigen Imagekampagne der Zuckerindustrie sind die gravierenden ökologischen Probleme bislang untergegangen.
(VL) Dass in der Schweiz heute noch Zucker angebaut wird, ist politisch gewollt. Und kostet den Steuerzahler viel – rund 70 Millionen Franken pro Jahr. Pro Hektare sind das gegen 4000 Franken – mehr als die meisten anderen Kulturen.
Weil die Zuckerpreise auf dem internationalen Markt laufend sinken, kommt der Zuckeranbau in der Schweiz stärker unter Druck. Um dem entgegenzuwirken, wurden in den letzten Jahren die Anbaubeiträge noch weiter erhöht und ein Zollschutzregime eingeführt. Beide Massnahmen sind umstritten, weshalb sie der Bund bis 2021 befristet hat.
Im Rahmen der Agrarpolitik 2022+ muss also ein Entscheid gefällt werden, ob und wie wir in Zukunft noch Zucker produzieren wollen in unserem Land. Neue, von der Zuckerindustrie in Auftrag gegebene Studien zeigen, dass die Wirtschaftlichkeit wesentlich erhöht werden kann durch Optimierungen in der Produktionskette. Damit könnte Schweizer Zucker auch ohne weitere Erhöhung der staatlichen Stützung eine Zukunft haben. Doch bei dieser Betrachtungsweise fehlt ein wichtiger Aspekt.
Grosse Nachhaltigkeitsdefizite
Fast ganz ausgeklammert aus der Diskussion wurden bisher ökologische Aspekte. Dies dürfte vor allem damit zusammenhängen, dass die Zuckerindustrie mehrere Untersuchungen in Auftrag gegeben hat, die dem Schweizer Zuckeranbau ökologisch ein gutes Zeugnis ausstellten. So entstand der Eindruck, dass in diesem Bereich alles im Reinen ist. Die Resultate der Studien wurden von Umweltorganisationen allerdings grundlegend in Frage gestellt und die Aussagen als tendenziös kritisiert.
Tatsache ist, dass beim Zuckerrübenanbau im Vergleich mit anderen Ackerkulturen in der Schweiz besonders viele Pestizide eingesetzt werden. Darunter sind einige der giftigsten Wirkstoffe überhaupt, von denen wiederholt gefordert wurde, dass sie endlich verboten werden. Zum Beispiel das Insektizid Chlorpyriphos, das in extrem kleinen Mengen sowohl für den Menschen wie für Tiere hochtoxisch ist und reproduktions- und nervenschädigend wirkt (vgl. Kästchen 1).
Da der Boden in Zuckerrübenfeldern lange unbewachsen ist, gehören Zuckerrüben zu den erosionsgefährdeten Kulturen. Dadurch werden die eingesetzten Pestizide bei Regen besonders leicht in die Oberflächengewässer abgeschwemmt. Neue Messungen zeigen, dass beispielsweise Chlorpyriphos in den meisten untersuchten Gewässern in Konzentrationen vorkommt, die Kleinlebewesen akut schädigen.
Zum hohen Pestizideinsatz bei konventionell angebauten Zuckerrüben kommt das Problem von Bodenverdichtungen. Die Rübenernte erfolgt meist erst im Spätherbst. Der Boden ist dann, infolge der oft nassen Bedingungen, besonders anfällig auf mechanische Belastungen. Trotzdem kommen in keiner anderen Kultur so schwere Erntemaschinen zum Einsatz wie in den Zuckerrüben. Oftmals hinterlassen sie ein Bild des Schreckens: Irreversible Bodenverdichtungen, welche noch für Jahre das Wachstum der Folgekulturen beeinträchtigen.
Alternativen zum umweltschädlichen Zuckerrübenanbau
Was, wenn wir in der Schweiz keinen Zucker mehr produzieren würden? Ein Import von Rübenzucker aus dem Ausland wäre zwar auch kaum ökologischer, aber um mehr als die Hälfte günstiger als inländischer Rohstoff.
Ökologisch besser sind nur zwei Lösungen: Ein Ersatz mit Fairtrade-Rohrzucker wäre doppelt attraktiv, da dieser mit viel weniger Dünger- und Pestizideinsatz produziert wird und zudem erst noch viel günstiger ist. Eine andere Lösung wäre die Beschränkung der Subventionen auf einen einigermassen ökologischen Zuckeranbau in der Schweiz. Ein solcher ist durchaus möglich (s. Kästchen 2). Dabei könnte die Zuckerrübenfläche etwas zurückgefahren und die Verarbeitung auf eine Fabrik (statt bisher zwei) konzentriert werden. Und der Versorgungssicherheit würde damit noch immer bestens Genüge getan.
Es ist widersinnig, dass wir in der Schweiz die Umwelt mit den giftigsten und problematischsten Pestiziden überhaupt vergiften, nur um hochsubventionierten Schweizer Zucker auf den Markt bringen zu können. Beim konventionellen Zuckerrübenanbau trifft der Leitspruch der Trinkwasserinitiative "Wir subventionieren unsere eigene Trinkwasserverschmutzung" besonders deutlich zu.
Fazit
Die Diskussion, ob es Sinn macht, den Zuckerrübenanbau dermassen hoch zu subventionieren, kam in den letzten Jahren immer wieder auf. Nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund, dass der Bund gleichzeitig Präventionskampagnen zum reduzierten Zuckerkonsum durchführt.
Wenn der Staat schon 70 Millionen Franken pro Jahr in eine inländische Zuckerproduktion investiert, dann muss der Rübenanbau zumindest einigermassen umweltverträglich sein. Alles andere widerspricht auch klar der Verfassung Art. 104. Ein Anbau von Zuckerrüben unter IP-Suisse- bzw. Biobedingungen wird bereits heute praktiziert und vom Bund mit verschiedenen Beiträgen unterstützt. Diese Anbauweisen lösen die meisten Umweltprobleme. Auf eine flächendeckend umweltverträgliche Produktion müssen wir mit Engagement hinarbeiten – oder sonst einen Schlussstrich unter die Schweizer Zuckerproduktion ziehen.
Kästchen 1: Enormer Pestizideinsatz im konventionellen Zuckerrübenanbau
Zuckerrüben gehören zu den produktivsten Ackerkulturen überhaupt, was die Kalorienproduktion pro Hektare anbelangt. Allerdings ist die Kultur anspruchsvoll. Junge Rübenpflanzen sind sehr konkurrenzschwach und daher anfällig auf Verunkrautung. Weil die Blätter der Rübe den Boden sehr lange nicht abdecken, und die jungen Pflanzen anfällig sind auf Herbizidwirkstoffe, werden die Beikräuter in sogenannten «Splits» drei bis sechs Mal mit Herbiziden bekämpft. Die Pestizide werden dabei direkt auf den nackten Boden gespritzt. Dadurch ist das Risiko einer Abschwemmung besonders gross. Neben dem Beikrautdruck stellen auch einige wenige Insektenarten, insbesondere die Erdschnakenlarve, eine Gefahr für die jungen Pflanzen dar. Nicht selten werden darum direkt nach der Saat Insektizide mit dem Wirkstoff Chlorpyriphos in Form von Granulatkörnern ausgebracht. Der Wirkstoff Chlorpyriphos ist nicht nur sehr giftig für Wasserorganismen mit langfristiger Wirkung, sondern auch für den Menschen, insbesondere für die Entwicklung des ungeborenen Kindes im Mutterleib. Während der Einsatz von chlorpyriphos-haltigen Insektiziden in Deutschland bereits seit zehn Jahren verboten ist, dürfen die Produkte in der Schweiz noch immer ausgebracht werden.
Neben den für Mensch und Tier gesundheitsgefährdenden Insektiziden werden im konventionellen Zuckerrübenanbau auch Unmengen an Fungiziden versprüht. So werden die Wurzelfäule, Blattkrankheiten wie Cercospora, Ramularia, echter Mehltau und Rost mit Pestiziden wie z.B. Amistar Xtra behandelt. Das Produkt enthält die Wirkstoffe Azoxystrobin und Cyproconazol, welche sehr schädigend auf Wasserorganismen wirken und ungeborenen Kindern lebenslängliche Schäden zuführen können. Im Bioanbau werden dagegen in Zuckerrüben keinerlei Pestizide eingesetzt. Allerdings sind dadurch die Erträge geringer.
Kästchen 2: Herausforderungen und Lösungen des nachhaltigen Zuckerrübenanbaus
Im Zuckerrübenanbau von den Pestiziden wegzukommen, ist eine Herausforderung. Der Weg zum Erfolg beginnt bereits vor der Saat. So spielen der geeignete Standort, die Bodenbeschaffenheit, eine geeignete Fruchtfolge sowie die Wahl der Sorte eine grosse Rolle für eine gesunde Entwicklung und hohe Widerstandskraft der Rüben. Heute sind bereits sehr robuste Sorten auf dem Markt, welche wenig anfällig sind auf Cercospora-Blattflecken und auch eine gute Toleranz auf Wurzelbärtigkeit aufweisen.
Damit im nachhaltigen Zuckerrübenanbau auf Pestizideinsätze verzichtet werden kann, müssen diverse weitere Massnahmen ergriffen werden. Bei einem Herbizidverzicht ist ein sauberes Saatbeet unabdingbar. Später können die Rüben «blindgestriegelt» und gehackt werden. Bis heute fehlt es jedoch an einer zuverlässigen Technik, mit der auch maschinell in den Reihen gehackt werden kann. So nimmt das Jäten von Hand noch immer viel Zeit in Anspruch (bis zu 200h pro ha). Mit einer entsprechend angepassten Fruchtfolge, z.B. keine Zuckerrüben nach Wiesenumbruch, können die Erdschnakenlarven in Schach gehalten werden. Dadurch kann auf den Einsatz von Insektiziden ganz verzichtet werden. Ein weiteres, von vielen Rübenpflanzern gefürchtetes Problem, ist der flächenübergreifende Befall durch Cercospora-Blattflecken. Dieses kann durch eine frühe Ernte verhindert werden. Dadurch wird zwar der Ertrag etwas gemindert, dafür wird dabei auch der Boden geschont, weil dieser im frühen Herbst meist besser befahrbar ist, als bei späten Ernteterminen.
Die landwirtschaftliche Produktion von nachhaltigen Zuckerrüben ist möglich und erprobt. Dazu ist jedoch ein Umdenken des Anbaus wie auch der Subventionspraxis nötig.
Dänemark gilt als agrarpolitisches Vorzeigeland. Nirgendwo sonst konnten beispielsweise die Stickstoffemissionen oder der Pestizideinsatz bei gleichbleibender Produktivität in den letzten Jahren so stark reduziert werden. Und kaum ein anderes Land verfolgt auch beim Klimaschutz in der Landwirtschaft so ehrgeizige Ziele. Vision Landwirtschaft wollte vor Ort erfahren, was es mit diesen Erfolgen auf sich hat.
(VL) Hochprofessionell, spezialisiert und in einem kaum geschützten Markt auf immer höhere Effizienz und Umweltschonung getrimmt: So lässt sich die politische Vision für Dänemarks Landwirtschaft zusammenfassen. Wie zielorientiert die Dänen diese Herausforderung angehen, erfahren wir schon am ersten Nachmittag der Recherchereise beim Besuch des riesigen Agrarforschungsinstitutes in Folum.
In aufwändigen Versuchen auf grossen Feldparzellen werden verschiedenste Ackerkulturen auf ihre Produktivität und ihre Umwelteffekte untersucht, besonders auf die Energieeffizienz und die Stickstoffverluste. Die weitaus höchste Produktivität, noch höher als Mais, bei gleichzeitig deutlich geringeren Stickstoffverlusten und einer höheren Energieeffizienz, erreicht eine mehrjährige Kunstwiese mit einem Bastardraygras-Schwingel-Bestand. Dieser wird pro Jahr lediglich 3x gemäht – kaum halb so oft wie eine Intensivwiese in der Schweiz.
Künstlicher Kuhmagen
Mit dieser arbeitsextensiven Nutzung können zwar viel Energie und Kosten gespart und gleichzeitig die Ertragsdepressionen, die in Wiesen nach jedem Schnitt eintreten, reduziert werden. „Das maximiert den ökonomischen wie den Biomasse-Ertrag“, erklärt der Versuchsleiter Sillebak Kristensen. Nachteil: Das Futter ist schwer verdaulich und damit nur beschränkt tauglich für die Hochleistungskühe, die im Durchschnitt pro Kuh und Jahr rund einen Viertel mehr Milch geben als in der Schweiz.
Um diesen Nachteil zu beheben, entwickelte die Forschungsanstalt in enger Kooperation mit Maschinenbaufirmen eine Art künstlichen Kuhmagen, bei dem das grün eingebrachte Mähgut quasi vorverdaut wird. Unter hohem Druck wird das Gras zerquetscht und aufgetrennt in eine flüssige und eine feste Fraktion. Aus der flüssigen Fraktion werden die Eiweisse extrudiert, die feste Fraktion wird zu energiereichen Futterwürfeln aufbereitet. Diese technischen Verfahren kosten zwar Geld und sind derzeit ökonomisch noch nicht ganz selbsttragend – beinhalten aber interessante Perspektiven. Das extrudierte Eiweiss kann nämlich nicht nur als hochwertiges einheimisches Futter für die Milchproduktion verwendet werden, sondern ist von der Zusammensetzung her auch für Nicht-Wiederkäuer geeignet. Das Verfahren könnte für die Schweiz besonders interessant sein, weil so aus Grünland ein Teil der laufend weiter ansteigenden Sojaimporte für Schweine und Hühner ersetzt werden könnte.
Hohe Umweltanforderungen fördern Innovation
Dieser rationale, technisch orientierte Optimierungsansatz ist charakteristisch für die Vorgehensweise in der Land- und Ernährungswirtschaft Dänemarks. Ebenso typisch ist die enge, teilweise institutionalisierte Kooperation zwischen staatlicher Forschung, halbprivater Beratung und privaten Firmen der Agroindustrie. Viele Innovationen gehen aus solchen Kooperationen hervor. Neben der Forschungsanstalt in Folum wurde vor 30 Jahren ein riesiger Agro-Innovationspark auf die grüne Wiese ausserhalb von Aarhus gebaut, wo Beratung und private Firmen aus dem Agro- und Foodbereich unter einem Dach intensiv zusammenarbeiten.
Stark präsent ist dort beispielsweise der dänische Landmaschinenbauer Samson, der sich auf effiziente Hofdüngerausbringung spezialisiert hat. Aufgrund der äusserst strengen Vorschriften in Bezug auf die Stickstoffverluste sind die Landwirte auf Techniken angewiesen, welche die Erreichung dieser Ziele erst ermöglichen. Eine der Spezialitäten von Samson sind Güllefässer, mit denen Hofdünger fast ohne Verluste in den Boden eingearbeitet werden kann. Die Firma baut ihre Maschinen in einem modernen, neu erstellten Fabrikgebäude bei Viborg. Die auf Hochglanz polierten Grossraumbüros erinnern weit mehr an Banken oder Pharmafirmen als an einen landwirtschaftlichen Maschinenbauer. Samson floriert und expandiert. Wegen der hohen Anforderungen in Dänemark ist die Firma weltweit führend im Bereich der effizienten Hofdüngerausbringung und wartet derzeit nur darauf, bis weitere Länder in der EU mit ihren Vorschriften nachziehen und die Nachfrage nach Samsons Produkten weiter ansteigt.
Samson zeigt damit exemplarisch, wie strenge Umweltvorschriften Innovationen antreiben und damit den Firmen helfen, sich mit effizienter Technik weltweit einen Spitzenplatz und Exportmöglichkeiten zu erarbeiten. Demgegenüber sind die ehemals florierenden Landmaschinenbauer der Schweiz wie Rapid oder Bucher heute nur noch ein Schatten ihres einstigen Glanzes. Die Zeiten, als Schweizer Firmen bei der Mechanisierung der Berglandwirtschaft eine ähnlich starke Führungsrolle innehatten, sind längst Geschichte.
Politischer Ansatz bei den Pestiziden
Einen anderen Ansatz verfolgt Dänemark bei den Pestiziden. Da technische Innovationen beim Versprühen bereits weitgehend ausgereizt sind, setzt das Land in diesem Bereich auf ein politisches Instrument: Lenkungsabgaben. Damit werden die Kosten von Pestiziden so stark verteuert, dass die Giftstoffe heute viel zurückhaltender eingesetzt werden. In Dänemark wird heute kaum mehr vorbeugend oder nach fixen Spritzplänen gespritzt, sondern nur noch, wenn es für die Sicherstellung des Ertrages unumgänglich ist. Da giftigere Mittel höher besteuert werden als weniger giftige, konnte zudem eine markante Reduktion der Toxizität erreicht werden, was die Umweltbelastung zusätzlich reduziert hat. Mit dieser einen, relativ einfachen Massnahme der Einführung einer Lenkungsabgabe konnte der Pestizideinsatz in wenigen Jahren um 40% verringert werden.
Davon kann die Schweiz nur träumen: Im bereits vor drei Jahren erstellten Aktionsplan Pflanzenschutzmittel des Bundes sind zwar beeindruckende 50 Massnahmen vorgesehen. Mit diesen soll der Pestizideinsatz aber gerade mal um 12% reduziert werden. Der Ansatz der Dänen wurde in einer vom Bund in Auftrag gegebenen Studie der ETH Zürich genau untersucht und als sehr wirksam beschrieben. Hartnäckige Widerstände des Bauernverbandes haben aber bisher verhindert, dass eine Einführung von Lenkungsabgaben in der Schweiz im Aktionsplan auch nur geprüft wurde. Lieber setzt das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) auf unzählige, kaum wirksame Kleinmassnahmen und schiebt so das Problem mit viel administrativem Aufwand weiter vor sich her.
Landwirtschaft und Trinkwasser
Pestizide und Nitratauswaschung sind in der dänischen Landwirtschaft auch deshalb ein zentrales Thema, weil über 70% der Landfläche intensiv landwirtschaftlich genutzt werden und gleichzeitig praktisch alles Trinkwasser aus landwirtschaftlich genutzten Böden stammt. Für die Dänen ist eine nachhaltige, das Grundwasser schonende Landnutzung deshalb existenziell. Im Gegensatz zur Schweiz, wo verschmutztes Trinkwasser so lange durch andere Quellen aus weniger intensiv landwirtschaftlich genutzten Regionen verdünnt werden kann, hat Dänemark diese Ausweichmöglichkeit nicht. Diese besondere Voraussetzung des Landes ist ein zentraler Treiber für die konsequent umweltorientierte dänische Agrarpolitik.
Agrarpolitik als Bürgerpolitik
Ein weiterer grundlegender Unterschied zur Schweizer Agrarpolitik wird in Dänemark rasch deutlich. Trotz der intensiven Produktion und dem gegenüber der Schweiz viel höheren Anteil an landwirtschaftlicher Nutzfläche hat die Agrarlobby im Parlament nur einen geringen Einfluss. Der Bezug zur Landwirtschaft ist bei den Bürgern, die zu fast 90% in städtischen Gebieten leben, deutlich kleiner als in der Schweiz. Die Landwirtschaft gilt als Branche wie jede andere auch. Landwirtschaftspolitik ist in Dänemark Sachpolitik und kaum von Mythen und dem in anderen Ländern Europas bis heute dominierenden agrarindustriellen Filz bestimmt. Entsprechend wird der Agrarmarkt praktisch nicht geschützt, und die Flächenbeiträge betragen weniger als 10% derjenigen der Schweiz. Und auch beim Vollzug bestehen keine Berührungsängste mit einem zielorientierten Vorgehen, welches - im Gegensatz zur Schweiz mit ihren ausgeprägten Vollzugsdefiziten - auf einem ausgeklügelten, gut funktionierenden Kontroll- und Sanktionssystem beruht.
Hoher Strukturwandel
Wie jeder Erfolg hat die dänische, bürgernahe Agrarpolitik und die rasante Entwicklung der dänischen Landwirtschaft hin zu einer umweltfreundlicheren, effizienteren Produktion auch ihre Schattenseiten. Der Strukturwandel bei den dänischen Bauernhöfen ist ein Vielfaches höher als in der Schweiz. Im praktisch ungeschützten Markt können oft nur hochprofessionell geführte Betriebe mit Flächengrössen von meist mehreren Hundert Hektaren überleben. Diese verdienen zwar auch heute noch Geld, aber eine Nebenerwerbslandwirtschaft existiert fast nicht mehr, und die vielfältigen Hofstrukturen, wie wir sie in der Schweiz kennen, sind weitgehend verschwunden.
Biodiversität: Segregation statt Integration
Auch im Bereich Biodiversität kann Dänemark gegenüber der Schweizer nicht nur punkten. Neben den noch immer verbreiteten Hecken als Landschaftselemente sind kaum weitere Strukturen und artenreichere Flächen auf Landwirtschaftsland aufzufinden. Denn entsprechende Anreizprogramme fehlen weitgehend. Die Biodiversitätspolitik konzentriert sich auf die – allerdings grosszügig bemessenen – Schutzgebiete. Diese sind von der produzierenden Landwirtschaft weitgehend abgekoppelt, und die Massnahmen sind dort kompromisslos biodiversitätsbezogen. So werden Ammoniakemissionen, welche Schutzgebiete schädigen können, bei den umliegenden Höfen mittels Emissionslimiten und strengen Abstandsregeln individuell festgelegt. In der Schweiz dagegen werden beim Ammoniak die Critical Loads fast flächendeckend um ein Vielfaches überschritten. Dies hat irreversible Schäden für die Biodiversität auch in ansonsten geschützten Naturschutzgebieten zur Folge. Trotz teuren, auf Freiwilligkeit basierenden Anreizprogrammen hat sich bei uns die gegen das Umweltgesetz und internationale Vereinbarungen verstossende Situation in den letzten 20 Jahren nicht verbessert.
Austausch geplant
Die Schweizer Agrarpolitik muss das Rad nicht neu erfinden, um die vielen, seit Jahrzehnten vor sich hergeschobenen Umweltprobleme endlich zu lösen. Sie kann von Dänemark einiges lernen. Einen entsprechenden Austausch will Vision Landwirtschaft nun anschieben. In Arbeitsgruppen soll zusammen mit dänischen Spezialisten unter Einbezug interessierter Amtsstellen abgeklärt werden, wie die erfolgreichen dänischen Programme auf unser Land übertragen werden können. Dass ein solcher Austausch bisher kaum stattgefunden hat, erstaunt. „Wir haben regen Besuch aus vielen Ländern Europas und Asien. An Schweizer erinnere ich mich dagegen nicht...“ meinte Beratungsleiter Martin Hansen grinsend.
Konsequenter Vollzug ohne Schlupflöcher: Eine von der Kontrollbehörde direkt ansteuerbare Kamera im Tank (vor dem modernen Offenlaufstall, s. Pfeil) dokumentiert, ob die zur Ammoniakreduktion vorgeschriebene Schwefelsäure auch tatsächlich zur Anwendung kommt. Foto: Peter Maly
Kästchen 1: Die dänische Landwirtschaft auf einen Blick
2,7 Mio Hektaren, das sind 60% der Landfläche Dänemarks, werden landwirtschaftlich genutzt. Damit weist Dänemark fast drei Mal so viel Landwirtschaftliche Nutzfläche (also ohne Alpflächen) auf wie die Schweiz, aber etwas weniger Landwirtschaftsbetriebe. Entsprechend ist der durchschnittliche Hof über drei Mal so gross wie in der Schweiz.
90% des Landwirtschaftslandes werden ackerbaulich genutzt, nur 200'000 ha sind Wies- und Weideland. Die Böden sind überwiegend sandig, die Niederschläge sind geringer und die Vegetationsperiode kürzer als in der Schweiz.
Die landwirtschaftliche Produktion ist überwiegend stark spezialisiert und auf Bereiche mit hoher Wertschöpfung und den Export ausgerichtet. Dänemark ist der weltweit grösste Grassamenproduzent und einer der grössten Nerzfellproduzenten. Die wirtschaftlich wichtigsten Standbeine sind die Milch- und Schweineproduktion. Das Agrarbudget, das in den kommenden Jahren zurückgefahren werden soll, beträgt gegenwärtig rund 1 Milliarde Franken pro Jahr, verglichen mit 3,6 Milliarden in der Schweiz.
Kästchen 2: Wie die Dänen die landwirtschaftlichen Stickstoffemissionen in den Griff bekamen
Aus zwei Gründen nahm Dänemark eine Vorreiterrolle bei der Reduktion der Stickstoffverluste in der Landwirtschaft ein. Zum einen übte die EU mit der Nitrat-Richtlinie zum Schutz der Gewässer Druck aus, zum anderen wurde die eigene Trinkwasserversorgung in den 1980er Jahren durch hohe Nitratwerte aus der intensiven Landwirtschaft zunehmend gefährdet. Dänemark führte deshalb zahlreiche Programme zur Nitratreduktion durch.
So ist Gülleausbringung mit Prallteller seit den 1990er Jahren verboten. Seit 2011 ist bis auf Ausnahmen (angesäuerte Gülle und stehende Ackerkulturen) auch der Schleppschlauch nicht mehr zulässig, die Gülle muss mittels Injektionsverfahren in den Boden eingearbeitet werden. Abdeckung aller Güllelager sowie N- und P-optimiertes Tierfutter ist generell Pflicht. Über den Winter sind auf Ackerflächen Zwischenfrüchte obligatorisch. Wird die nötige Anzahl Pflanzen pro Quadratmeter nicht erreicht, gibt es Abzug beim maximal zur Ausbringung erlaubten Stickstoff. Entweder wird dieser auf 90% der wirtschaftlich optimalen Zahlen reduziert, oder die Drainagen müssen über Kleinteiche/Mini-Wetlands geführt werden (70% der Böden sind in Dänemark drainiert), wo Holzschnitzel und Pflanzen das P und auch einen Teil des N absorbieren.
Grosses Gewicht wurde auch auf die Reduktion der Ammoniakemissionen gelegt. Um die vorgegebenen Grenzwerte einzuhalten ist die Ansäuerung der Gülle mit Schwefelsäure eine verbreitete Lösung. Dadurch werden die Emissionen um über 50% reduziert, dafür können etwas mehr Tiere auf dem Betrieb gehalten werden. Die Massnahme ist kostenintensiv, staatliche Unterstützung dafür gibt es nicht.
In Regionen mit überhöhten Ammoniakemissionen wurden darüber hinaus die Tierzahlen auf betriebsindividueller Basis reduziert. Grund für die Massnahmen ist die Biodiversitäts-Direktive der EU. Sie verpflichtet die Länder, zum Schutz der Biodiversität die Critical Loads beim Ammoniak einzuhalten. Das Verpflichtungsziel ist in Dänemark jedoch noch nicht ganz erreicht. Statt bis 2020 soll das Ziel nun bis 2022 erreicht werden, ansonsten werden Strafzahlungen fällig.
Nicht zuletzt ist die Limitierung des Stickstoffeinsatzes auf Betriebsebene ein wichtiges Instrument der Dänen zur Vermeidung von Umweltschäden. Der maximal mögliche N-Einsatz wird berechnet nach "BAT level for the specific farm". Im Gegensatz zur Nährstoffbilanz, welche in der Schweiz diese Rolle einnehmen sollte, es infolge zahlreicher Schlupflöcher aber nicht tut, ist die dänische Lösung weitgehend wasserdicht. So wird in der Bilanzierung immer die Best Available Techniques (BAT) eingesetzt. Nur wer diese besten verfügbaren Techniken tatsächlich einsetzt, hat auf dem Betrieb genügend Nährstoffe zur Verfügung für seine Kulturen. Die Bauern haben also ein Eigeninteresse, die Emissionen zu reduzieren.
Abbildung 1: Stickstoff-Emissionen und -Deposition der Landwirtschaft Dänemarks und der EU. Zum Vergleich: In der Schweiz konnten die Emissionen bis 1997 konstant gesenkt werden, seither bleiben sie weit über den gesetzlichen Zielwerten konstant zu hoch.
Abbildung 2: Effizienz des Stickstoff-Einsatzes in der dänischen Landwirtschaft. Zum Vergleich: In der Schweiz hat sich die Stickstoff-Effizienz der Landwirtschaft zwischen 1990 und 2005 von 22% auf 30% gesteigert werden. Seither konnten keine Verbesserungen mehr erreicht werden.
Neben dem Obst- und Gemüsebau werden im Weinbau die meisten Pestizide eingesetzt. Als entsprechend anspruchsvoll gilt es, auf diese Giftstoffe zu verzichten. Immer mehr Pioniere zeigen, wie dies möglich ist. Einer, der diesen Weg besonders erfolgreich gegangen ist, ist der Winzer Bruno Martin aus Ligerz. Dank seiner sorgfältigen Pflege der Bodenbiodiversität kann er sogar auf Dünger verzichten. Damit weist er den Weg zu einer giftfreien, ressourcenschonenden Landwirtschaft der Zukunft, die mit der Natur statt gegen sie arbeitet und die dadurch auch weniger Kosten verursacht – bei der Produktion wie in der Umwelt.
Bruno Martin - «Visionen sind die Saat für eine Ernte der Zukunft»
Die Grundlagen des pestizidfreien Weinbaus
Wer mit dem Schiff auf dem Bielersee unterwegs ist, kann sie nicht übersehen: Die Rebberge welche die Hänge des linken Bielerseeufers zieren. Traditionell ist das Rebbaugebiet am Jurasüdfuss geprägt von der Weisswein-Produktion. Auf dem standorttypischen Kalkboden fühlen sich Sorten wie Chasselas, Chardonnay oder Sorten der Pinot-Familie sehr wohl. Die Reben profitieren vom Wärmespeichereffekt des Sees und von den mikroklimatischen Vorzügen der Terrassierung.
So idyllisch die sonnenverwöhnte Weinbauregion auch beschrieben werden kann, sie hat auch ihre Schattenseiten: Ein Grossteil der Reben wird nach ÖLN-Richtlinien und somit mit hohem Pestizideinsatz bewirtschaftet. Nur wenige Winzer verschreiben sich aus Überzeugung der Bioweinproduktion. – Bruno Martin aus Ligerz ist einer von ihnen. Mit Herzblut setzt er sich für einen naturverträglichen Weinbau ein und geht dabei deutlich weiter als der Biolandbau selbst: Er verzichtet auf immer mehr Parzellen ganz auf Pestizide und setzt nur noch Pflanzenstärkungsmittel ein. Sein Credo ist ein gesunder Boden, aus dem gesunde Pflanzen hervorgehen, die sich gegen Schädlinge selber schützen können.
Mit grösstem Respekt gegenüber der Natur
Wer mit dem Winzer ins Gespräch kommt, merkt schnell, welche Visionen sein Denken prägen. Sein Pioniergeist, sein Mut und seine oft zäh errungenen Erfolge sind ansteckend.
Bruno Martin führt den Rebbaubetrieb seit 1982. Seine acht Hektaren Reben zieren die Hänge von Ligerz, einem kleinen Winzerdorf am linken Bielerseeufer. Weiter kommen rund 58 Aren Ökoflächen dazu, welche mit vielfältigen ökologisch wertvollen Elementen versehen sind. Seit bald 20 Jahren wird der Betrieb nach den Richtlinien von Bio-Suisse und Demeter bewirtschaftet.
Bruno Martin in seinen Reben neben einer selbsterstellten Trockensteinmauer
Von seiner Grossmutter lernte Bruno Martin schon früh, die Wichtigkeit einer intakten Natur kennen. Sie war es, die ihm die Werte mit auf den Weg gab, die ihn bis heute prägen: der respektvolle Umgang nicht nur mit Mitmenschen, sondern auch der faire und nachhaltige Umgang mit den Produktionsgrundlagen.
Als er die Reben seiner Grossmutter übernehmen durfte, verzichtete er, damals noch als IP-Bauer, als einziger Landwirt weit und breit auf den Einsatz von Akariziden, auf Gifte, die eingesetzt werden gegen die Spinnmilbe. Schon im ersten Jahr bezahlte er ein grosses Lehrgeld, indem durch den Spinnmilbenbefall das Laub seiner Reben grossen Schaden erlitt, was zu hohen Ertragsausfällen führte. Dies bewegte ihn zum Umdenken. Statt in Pestizide begann er, in eine intakte Biodiversität zu investieren, er setzte sich intensiv mit der Produktionsgrundlage Boden auseinander, pflanzte Bäume und Hecken, erstellte Trockenmauern, verzichtete auf Bodenbearbeitung und begrünte seine Rebberge.
Mehr als Bio
Kurz nachdem er auf Biolandbau umgestellt hatte, kam im Jahr 1991 die Rotweinsorte «Regent» auf den Markt, eine der ersten sogenannten «PIWI»-Sorten. Bruno Martin zögerte nicht und setzte seine ersten PIWI-Reben. – Der Anteil davon ist stetig gewachsen. Heute sind es rund 60%. Damit konnte er den Einsatz von auch im Biolandbau erlaubten Pestiziden (Kupfer und Schwefel) massiv reduzieren.
Die ersten Weine von Bruno Martin, die voll und ganz ohne den Einsatz von Pestiziden produziert wurden, werden ab dem kommenden Herbst in den Regalen von Coop zu finden sein. Auf die Frage, warum er mit seiner Idee einer pestizidfreien Produktion weitergeht als die Bio-, bzw. Demeterproduzenten, meint er ganz einfach: «Visionen sind die Saat für die Ernte der Zukunft». Er ist überzeugt, dass Stillstand in eine Sackgasse führt und ist sich daher sicher, dass eine Weiterentwicklung des heutigen «Bio» unabdingbar ist.
Wege zur pestizidfreien Weinproduktion
Der Weg zur Produktion eines pestizidfreien Weins war hürdenreich. Bruno Martin ist ein Macher und weiss, wie er seine Ziele erreichen kann. Eine pestizidfreie Produktion ist nur möglich durch ein Zusammenspiel von diversen Vorbedingungen und Massnahmen:
Standort / Wetterlage / Sorten
Der Standort mit Boden und Klima entscheidet im Rebbau oftmals über Erfolg oder Misserfolg im Zusammenhang mit dem Bekämpfen von Pilzkrankheiten. Auch PIWI-Sorten gedeihen an Top-Reblagen am prächtigsten und können ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Pilzkrankheiten dort am besten ausschöpfen.
Vitalität von Boden und Pflanzen
Bruno Martin erwähnt immer wieder das Wort «Gleichgewicht», wenn er über seine Reben spricht. Werden Boden und Pflanzen überfordert, z.B. mit zu hohen Düngergaben oder einem zu häufigen Pestizid- oder Maschineneinsatz, geraten diese wichtigen Produktionsgrundlagen aus dem Gleichgewicht, was zu Stress, verminderter Widerstandskraft und damit zu Ertragsverlusten führt.
Mähmanagement
Grün soll es sein unter den Reben, die Pflanzenvielfalt soll sich entwickeln, blühen und versamen: Auf dem Betrieb von Bruno Martin werden die Rebstöcke erst dann das erste Mal ausgemäht, wenn sich der erste falsche Mehltau, eine im Rebbau gefürchtete Pilzinfektion, ankündigt. Das hohe Gras um die Stöcke muss sodann in Schach gehalten werden, damit die Pflanzen gut abtrocknen können. Nach diesem ersten Schnitt werden die Rebreihen alternierend gemäht. So haben Kleinlebewesen immer die Chance, in ältere Wiesenstreifen umzusiedeln.
Hagelschutznetze
Durch Hagelschutznetze werden die Triebe der Reben nach oben gerichtet. Dies fördert ein besseres Abtrocknen der Stöcke und senkt so wiederum die Gefahr für Angriffsherde von Pilzinfektionen. Ein weiterer Vorteil der Hagelschutznetze ist zudem die Ableitung des Regenwassers. Das Wasser rinnt entlang der Netze zum äussersten Rebstock, wo es versickert. – Wiederum ein positiver Effekt für ein schnelles Abtrocknen der Reben.
Auslauben
Nach der Blüte der Reben, wenn die Beeren ca. erbsengross sind, werden die Stöcke grosszügig «ausgelaubt». Jegliche Blätter rund um die Trauben müssen entfernt werden, damit sich Feuchte nicht ansammeln kann.
Sind all diese Massnahmen getroffen, so muss auch Bruno Martin manchmal zu Kupfer oder Schwefel greifen (Demeter erlaubt: max. 3kg Kupfer/ha/Jahr) – aber nur bei seinen alten krankheitsanfälligen Sorten. Der falsche Mehltau kann dabei mit Kupferbehandlungen und den Teilwirkungen, die der Einsatz von Schwefel hat, gut in Schach gehalten werden. Gegen den echten Mehltau (weitere in Reben häufige Pilzinfektion) hingegen wirkt Kupfer nicht, ein Einsatz von Schwefel ist da nötig.
Seit Bruno Martin auf eine ganzjährige Begrünung in seinen Reben setzt und seine Pflanzen nicht mehr düngt, ist es in seinen Reben nie wieder zu einem Botrytisbefall (Grauschimmelpilz, der die Traubenbeeren verfaulen lässt) gekommen.
Das Ökosystem im Gleichgewicht oder «regenerative Landwirtschaft»
Im Gespräch mit Bruno Martin fällt immer wieder das Wort «Biodiversität». Seine Rebberge in Ligerz sind einmalig in dieser Region. Hecken, Hochstammobstbäume, blumenreiche Ökowiesen, Vogelhäuser, Trockensteinmauern und sogar ein Wiesel-Hotel zieren seine Rebhänge. Mindestens alle 50 Meter befindet sich ein Strukturelement für die, wie Bruno Martin es nennt, Biodiversität «über dem Boden». Diese Elemente werden mit viel Liebe zum Detail gepflegt, damit unter anderem Kleinlebewesen wie Eidechsen, Hummeln, Wild- und Erdbienen oder auch Schlangen ein Zuhause finden. Beim Ausmähen der Reben, wird zudem Acht gegeben auf besondere Pflanzen. Das Resultat ist beeindruckend. So hat sich in seinen Rebbergen die Bocksriemenzunge, eine sehr seltene, gefährdete Orchideenart, angesiedelt und bildet heute eines der grössten Vorkommen in der Schweiz.
Ein Wieselhotel in den Rebbergen von Bruno Martin
Biodiversität auch im Boden
Genauso wichtig wie die sichtbare Biodiversität «über dem Boden», ist für Bruno Martin die unterirdische Biodiversität, welche auf das Gleichgewicht von Boden und Pflanzen einen enormen Einfluss hat. Bruno Martin bearbeitet seine Böden nicht. Er überlässt diese Arbeit den unzähligen Bodenlebewesen, welche für die Lockerung, Durchlüftung und Sickerfähigkeit des Bodens sorgen.
Konnte Bruno Martin in der Vergangenheit einen Rebberg übernehmen, so stand meist zuerst eine Bodensanierung an. Solch eine Sanierung kann nur in enger Zusammenarbeit mit der Natur und vielen Jahren Geduld erfolgreich enden: Kompost zuführen, Einsaaten von Ölrettich, Zwischenjahre ohne jegliche Massnahmen und Abbruchlockerungen (Auflockerung des Bodens bis in tiefe Bodenschichten) sind nur ein paar der Massnahmen, welche vorgenommen werden, um eine gesunde Bodenstruktur aufzubauen. Befindet sich danach ein Boden im Gleichgewicht, so sind weder Düngergaben, noch Bodenbearbeitungen nötig. Einzig Dolomit, ein Karbonat-Gestein, welches reich an Calcium und Magnesium ist, wird alle 10 Jahre auf die Böden ausgebracht.
Was heute als «regenerative Landwirtschaft» bezeichnet wird, lebt Bruno Martin seit Jahren. Er betont immer wieder: «Wenn sich Boden, Reben und Biodiversität im Gleichgewicht befinden, dann bleiben meine Trauben gesund.»
Mut zu Neuem
Bruno Martin ist überzeugter Winzer, welcher einen konsequenten Weg hin zu einer pestizidfreien Landwirtschaft eingeschlagen hat. Er möchte auch andere Landwirte motivieren, sich über bisherige Produktionssysteme Gedanken zu machen, diese zu hinterfragen und immer wieder neue Wege einzuschlagen.
Die Umstellung auf pestizidfreie Produktion braucht nicht nur Mut und Durchhaltewillen, sondern vor allem eines: Vertrauen in die Natur und deren Prozesse.
Ein heute publiziertes Rechtsgutachten ist brisant. Es kommt zum Schluss, dass der Bundesrat in seiner Botschaft zur Trinkwasserinitiative (TWI) tendenziös und fehlerhaft Stellung bezogen habe, zum Nachteil der Initiative. Die Fehlinformationen ziehen bereits weitere Kreise. Die landwirtschaftliche Fachhochschule HAFL publizierte heute für die Anti-TWI-Kampagne des Bauernverbandes eine Studie, die auf den Fehlinterpretationen des Bundesrates aufbaut. Ein stossendes Beispiel dafür, wie sich Bundesbehörden und Wissenschaft von der Agrarlobby für eine Gängelung des Stimmbürgers einspannen lassen.
(VL) Mit seiner Botschaft zur Trinkwasserinitiative hat der Bundesrat im letzten Dezember weitherum Kopfschütteln ausgelöst. Der Initiativtext wurde darin so extrem einseitig ausgelegt, dass selbst die Initianten feststellten, das ginge viel weiter als ihre eigenen Vorstellungen. Natürlich stand hinter der rigiden Auslegung Kalkül. So konnte der Bundesrat schlussfolgern, „die Initiative hätte weitreichende, schädliche Folgen für die Schweizer Landwirtschaft und Ernährungssicherheit“ und sei damit unter allen Umständen abzulehnen. Vision Landwirtschaft bezeichnete damals die bundesrätliche Botschaft als faktenfreie Angstmacherei.
Bundesrat führt Stimmbürger in die Irre
Dass der Bundesrat Initiativen vor der Abstimmung eher eng und nach der Abstimmung eher weit auslegt, ist nicht neu. Nun kommt ein Rechtsgutachten aber zum Schluss, dass der Bundesrat den Initiativtext der TWI in seiner Botschaft nicht nur tendenziös, sondern gar in rechtlich unzulässiger Weise zu rigide ausgelegt hat. Gemäss den ausführlichen juristischen Analysen lässt der Initiativtext dem Parlament wesentliche Spielräume bei der Umsetzung offen. Diese können grundsätzlich so genutzt werden, dass negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft weitgehend vermieden werden können.
Zusätzliche Brisanz bekommt das Gutachten, das vom Verband Schweizer Abwasser- und Gewässerschutzfachleute VSA und vom Schweizerischen Fischereiverband SFV gemeinsam in Auftrag gegeben wurde, durch ein aktuelles Bundesgerichtsurteil. Am 10. April bezichtigte es den Bundesrat im Vorfeld der Abstimmung zur Heiratsstrafe-Initiative gravierender fehlerhafter Informationen, so dass es zum ersten Mal eine Volksabstimmung annullierte. Auch im Falle der TWI dürften die bundesrätlichen Fehlinformationen die Öffentlichkeit und vielleicht auch die Gerichte in den nächsten Monaten noch etwas beschäftigen.
Eine Hochschule verirrt sich in die Niederungen der Politik
Die fragwürdige Botschaft des Bundesrates zur TWI zieht bereits weitere Kreise. Ebenfalls heute publizierte die Fachhochschule für Landwirtschaft HAFL in Zollikofen eine Studie, die kritiklos und wider besseres Wissen auf den irreführenden Annahmen des Bundesrates aufbaut und darüber hinaus weitere tendenziöse und fehlerhafte Annahmen unterlegt, um die Auswirkungen auf die Landwirtschaft möglichst negativ darzustellen.
Die Studie wurde vom Schweizerischen Bauernverband (SBV) in Auftrag gegeben, als Teil einer millionenschweren Kampagne gegen die Trinkwasserinitiative. Der Bauernverband hat auch inhaltlich gleich selber an der Studie mitgewirkt. So stammt die Auswahl der Landwirtschaftsbetriebe, anhand derer die Auswirkungen der Initiative berechnet wurden, vom Bauernverband. Es sind überdurchschnittlich intensiv produzierende Betriebe, die unterdurchschnittliche Umweltleistungen erbringen und damit von der Initiative viel stärker betroffen wären als durchschnittliche Betriebe. Damit erscheinen die Auswirkungen der TWI dramatischer als bei einer ausgewogenen Betriebsauswahl.
Offenbar war es der HAFL dann doch nicht ganz wohl mit dieser Betriebsauswahl. „Es ist wichtig zu präzisieren, dass die elf ausgewählten Betriebe nicht für die Schweizer Landwirtschaft repräsentativ sind. Folglich können die Ergebnisse unter keinen Umständen verallgemeinert werden“, schreiben die AutorInnen einleitend.
Damit stellt die HAFL die Brauchbarkeit ihrer Studie gleich selber in Frage. Dennoch hat sie die Studie veröffentlicht, und gleichwohl werden in der Publikation weitreichende Schlussfolgerungen gezogen.
So negativ wie möglich
Abgesehen von der tendenziösen Auswahl der Fallbetriebe und einer rechtlich unhaltbar restriktiven Auslegung der Initiative hat die Studie der HAFL weitere gravierende Schwächen. So wurden mögliche Ertragsverluste zu hoch angesetzt und ohne ersichtliche Grundlage eine Reduktion des Direktzahlungsbudgets unterstellt (s. Kästchen 1). Alle Fehler zielen in dieselbe Richtung: Sie stellen die Initiative so dar, dass möglichst negative Auswirkungen auf die Landwirtschaft resultieren.
Es gibt in der Studie aber auch ein paar – allerdings bereits weitgehend bekannte – Erkenntnisse, die von den fehlerhaften Annahmen und Berechnungen nicht betroffen sind. Für besonders intensiv wirtschaftende Betriebe mit Ackerbau und Spezialkulturen sowie solche mit hohen Futtermittelzukäufen ist die TWI eine besondere Herausforderung (s. Kästchen 2). Diese Wirkung entspricht jedoch genau der Absicht der Initianten, nämlich umweltschädigende Betriebsformen nicht mehr weiter mit Staatsgeldern zu fördern und stattdessen nachhaltige, auf einem standortangepassten Niveau wirtschaftende Höfe besser zu unterstützen.
Es bleibt schleierhaft, warum eine renommierte Fachhochschule sich am Gängelband des Bauernverbandes in die Niederungen der Politik ziehen lässt mit einer dermassen fragwürdigen Studie. Die Gegner der TWI haben offenbar solchen Respekt vor der Initiative, dass sie nicht daran glauben, der Initiative mit fairen, sachlichen Mitteln beizukommen. Sowohl Bundesrat wie Hochschule gehen mit ihren irreführenden Informationen ein hohes Risiko ein und setzen ihr wichtigstes Kapital aufs Spiel: ihre Glaubwürdigkeit.
Eine Anfrage an die HAFL, die Berechnungen mit angepassten, realitätsnahen Annahmen und einer repräsentativen Betriebsauswahl im Auftrag von Vision Landwirtschaft durchzuführen, hat die Hochschule übrigens abgelehnt.
Bis heute wird die Wirkung der Agrarpolitik mit Indikatoren gemessen, die mehr verschleiern als klären. Die fehlende Transparenz ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass das Parlament die Agrarpolitik statt auf die gesetzlichen Ziele weitgehend auf die Interessen der landwirtschaftsnahen Industrie ausrichten kann. Um dies zu ändern, veröffentlicht Vision Landwirtschaft heute zusammen mit anderen Organisationen 21 Kennzahlen (sog. Indikatoren). Sie geben erstmals einen breiten Überblick über die Zielerreichung der Agrarpolitik, basierend auf den gesetzlichen Grundlagen. Sie zeigen: Nur 2 von 21 Zielen werden erreicht. Nicht nur alle wichtigen Umweltziele, sondern auch die wirtschaftlichen und sozialen Ziele werden verfehlt, oft in hohem Mass. Gleichzeitig werden für die Ziele, die bereits mehr als erreicht sind, die umfangreichsten Mittel verwendet.
(VL) Seit zwanzig Jahren publiziert das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) eine Reihe von Kennzahlen (sogenannte Indikatoren), um die Zielerreichung der Agrarpolitik zu beurteilen und aufzuzeigen, wo weitere Massnahmen nötig sind.
Die bisher verwendeten Indikatoren orientieren sich allerdings viel zu wenig klar an den gesetzlichen Zielen und sind deshalb wenig aussagekräftig. Beispielsweise wird die sichere Versorgung in Krisen an der Menge der heute produzierten Kalorien gemessen, ohne Bezug zum Bedarf an verschiedenen Nahrungsmitteln und unabhängig davon, ob die Voraussetzungen für die Produktion auch in einer Importkrise vorhanden sind. Für manche wichtigen Ziele der Agrarpolitik wie die Erreichung des Einkommensziels gemäss Landwirtschaftsgesetz (Art. 5 LwG) oder die Wettbewerbsfähigkeit wurden bisher überhaupt keine Indikatoren publiziert.
Vision Landwirtschaft kritisiert die Indikatoren des Bundes schon lange als ungeeignet und hat dem BLW vor einem Jahr Analysen und Vorschläge für neue Indikatoren vorgelegt. Die Vorschläge sowie eine Interpellation im Parlament haben wohl dazu beigetragen, dass das BLW in der Vernehmlassung zur AP 22+ neue Indikatoren vorschlägt. Diese sind aber nicht besser als die alten. Wichtige Themen fehlen, der Bezug zu den Zielen bleibt sehr lose, und die Indikatorwerte werden nicht mit den gesetzlichen Zielwerten verglichen. Die Indikatoren stützen sich zudem kaum mehr erkennbar auf die gesetzliche Grundlage (Art. 185 LwG und Nachhaltigkeitsverordnung).
Neue Indikatoren
Vision Landwirtschaft hat deshalb zusammen mit weiteren Organisationen ein neues Set von 21 Indikatoren entwickelt. Diese 21 Indikatoren umfassen 10 Zielbereiche: 7 Indikatoren sind den Bereichen Soziales / Ökonomie / Versorgung zugeordnet, 7 den Umweltbereichen Boden, Luft und Wasser / Grundwasser, 3 dem Bereich Biodiversität, 2 dem Bereich Landschaft und 2 dem Bereich Tierwohl.
Die Indikatoren wurden nach klaren Prinzipien und aufgrund von vielen Gesprächen mit Fachleuten definiert. Sie sollen auf der Grundlage der aktuell verfügbaren Zahlen eine breite Übersicht über die Zielerreichung der Agrarpolitik in allen wichtigen Zielbereichen, von der Ökonomie bis zum Tierwohl, geben. Die Zielwerte wurden dabei so direkt wie möglich aus den Gesetzesgrundlagen abgeleitet.
Die Indikatorwerte zeigen (Details siehe Abb. 1): 1. Nur 2 von 21 Zielen werden erreicht. Nicht nur alle Umweltziele, sondern auch die wirtschaftlichen und viele weitere Ziele werden verfehlt, oft in hohem Mass. 2. Die Ziele, die erreicht oder mehr als erreicht werden, sind der Beitrag zur Versorgungssicherheit in Krisen und das Einkommensziel gemäss Landwirtschaftsgesetz (Art. 5 Landwirtschaftsgesetz). 3. Ausgerechnet für die bereits mehr als erreichten Ziele fliessen die umfangreichsten Mittel – beispielsweise die Direktzahlungen für Versorgungssicherheit und (weitere) Formen pauschaler Einkommensstützung. 4. Für die gemeinwirtschaftlichen Leistungen der Landwirtschaft, die jeweils als Begründung für die ganzen 7 Mrd. Franken Gesamtstützung herangezogen werden, wird nur ein Bruchteil der Gelder eingesetzt (rund 1,5 Milliarden Franken). 5. Nur ein Bruchteil der nicht an Leistungen gebundenen, also sozial motivierten Stützung, kommt Betrieben zugute, die diese Art von Stützung besonders nötig haben.
Diese Ergebnisse bedeuten, dass die Mittel der Agrarpolitik alles andere als zielorientiert eingesetzt werden.
Stillstand mit System
Die Intransparenz über die Verwendung der Mittel und die Wirkung der Massnahmen hat in der Agrarpolitik System. Damit machen es Bundesrat und Verwaltung dem Parlament leicht, die Steuergelder weiterhin unbemerkt an den Interessen der Konsumentinnen und Steuerzahler vorbei in die Agrarindustrie zu lenken.
Mit der heutigen Intransparenz werden die Steuerzahlerinnen und Konsumenten über die Wirkung der 5 Milliarden öffentlicher Gelder im Dunkeln gelassen – oder im Glauben, den der Bauernverband verbreitet, dass eine stärkere Ausrichtung der Agrarstützung auf eine umweltschonende Produktion die Bauern und die Schweizer Landwirtschaft in ihrer Existenz bedrohe. So lange die Bevölkerung dies glaubt, ist sie bereit, die hohen Kosten und die Umweltschäden in Kauf zu nehmen.
Würden die 5 Milliarden gezielt eingesetzt, wären die 21 Ziele der Agrarpolitik innert weniger Jahre erreichbar, wie Modellrechnungen im Weissbuch von Vision Landwirtschaft bereits 2010 aufzeigten. Stattdessen fliessen bis heute die Stützungsgelder primär an Futtermittelproduzenten, marktmächtige Handelskonzerne und Industrien wie die Fenaco, die im Bundesrat gleich mit zwei ehemaligen Verwaltungsräten vertreten ist.
So fördern die öffentlichen Gelder eine importbasierte, industrielle Schweizer Landwirtschaft, welche die Gewässer überdüngt, die Artenvielfalt weiter schwinden lässt und die Schweizer Landschaft mit Hühnerställen und Gewächshäusern entwertet - und zugleich viele Betriebe zu Investitionen verleitet, die in einer gesamtwirtschaftlichen und oft auch betrieblichen Sicht wenig Sinn ergeben.
Transparenz gefordert
Vision Landwirtschaft fordert, dass der Bund mit seinen eigenen Indikatoren Transparenz hinsichtlich der Verwendung und Wirkung der ganzen 7 Milliarden Franken herstellt. Insbesondere sind die Wirkungen der 5 Milliarden Franken an pauschaler Stützung transparent zu machen. Die Grundlagen dafür sind bei der bundeseigenen Forschungsanstalt Agroscope weitgehend vorhanden, müssen jedoch verständlich aufbereitet werden.
Im Weiteren ist die nicht zielorientierte Stützung in zielorientierte Beiträge umzulagern oder zu streichen. In diesem Sinn zielführend wäre eine Bedarfsprüfung für nicht an Leistungen gebundene (also sozialpolitisch motivierte) Stützung. Antragsteller sollen nachweisen müssen, dass sie (a) ihre Betriebe nach wirtschaftlichen Kriterien führen, (b) ihren Beitrag zur Erreichung der Umweltziele leisten und (c) ein bestimmtes Arbeitseinkommen nicht überschreiten. Damit lässt sich verhindern, dass die Einkommensstützung nicht in eine kostenintensive, umweltschädigende Produktion fliesst, die den Zielen von Verfassung und Gesetzen widerspricht.
AP22+: Viel Aufwand, kaum Wirkung
Mit der Agrarpolitik 2022, deren Vernehmlassung heute endet, stellte der Bund eine effizientere Verwendung der Bundesmittel in Aussicht. Von klaren Zielen, transparenten Indikatoren und wirksamen Massnahmen sind die Vorschläge jedoch weit entfernt. Die unzähligen kleinen Anpassungen auf Gesetzes- und Verordnungsebene bringen viel administrativen Aufwand mit sich, am milliardenschweren Abfluss öffentlicher Gelder an die Agrarindustrie ändern sie jedoch kaum etwas.
Vision Landwirtschaft fordert den Bund auf, die Agrarreform 2022+ von Grund auf zu überarbeiten und die bekannten Probleme mit bereits heute weitgehend bekannten Massnahmen endlich anzugehen (s. Vernehmlassung).
Agrarpolitisch herrschte 2018 Hochkonjunktur. Gleich fünf landwirtschaftliche Vorlagen kamen zur Volksabstimmung – so viel wie seit den 1990er Jahren nicht mehr. 2018 war auch das Jahr, in welchem der Bund mit der sogenannten AP 22+ seine lange erwarteten Visionen zur Weiterentwicklung der Agrarpolitik präsentierte. All diese Aktivitäten markierten unter dem Strich vor allem eines: Stillstand. Bewegung brachte dagegen die Trinkwasserinitiative, die im Januar dieses Jahres eingereicht wurde.
(VL) So viel über Landwirtschaft und Agrarpolitik diskutiert hat die Schweiz schon lange nicht mehr. Fünf Agrarvorlagen, über die das Volk im Laufe des Jahres 2018 abzustimmen hatte, sorgten für permanenten Gesprächsstoff.
Ausser Spesen nichts gewesen, könnte die kurze Bilanz zur Volksbeschäftigung lauten. Mit einer Ausnahme wurden nämlich alle Agrarvorlagen abgelehnt. Umso höher war die Zustimmung für die eine Ausnahme: Die Ernährungssicherheitsinitiative, ein vom Bund ausgearbeiteter Gegenvorschlag zu einer Vorlage des Bauernverbandes, der seine eigene, als chancenlos erkannte Initiative zurückzog. Die Vorlage wurde mit fast 80% angenommen, ein Rekordergebnis.
Der Grund für den Erfolg war so einfach wie ernüchternd: Es liess sich alles in den Abstimmungstext hineininterpretieren. Und dies wurde fleissig getan. Die Umweltverbände sahen darin eine Ökovorlage, die Wirtschaftsverbände eine Chance für einen verminderten Grenzschutz, während sich der Bauernverband umgekehrt eine Stärkung der inländischen Produktion, eine Beschränkung der Ökologie und eine Sicherung des Grenzschutzes erhoffte. Keine einzige grössere Organisation stieg ins Rennen gegen die Vorlage. Auch deshalb, weil sie explizit keinerlei Änderungen auf Gesetzesniveau anpeilte. Ein basisdemokratischer Leerlauf, bei dem die StimmbürgerInnen erstaunlich widerstandslos mitspielten.
Den Leerlauf komplettiert hat der Bundesrat im November 2018, als er seine in den letzten zwei Jahren ausgearbeitete Vision zur Weiterentwicklung der Agrarpolitik präsentierte: Ein 160 Seiten starkes Dossier, schwer zu lesen, mit unzähligen Wiederholungen, und fast bar jeglicher Visionen. Die Probleme und Defizite werden zwar angesprochen und Handlungsbedarf erkannt, aber zum Handeln fehlt der Mut. Einmal mehr wird Stillstand kaschiert unter der üblichen Geschäftigkeit von endlosen Berichten und vielen kleinen Änderungen, welche die Verwaltung die nächsten Jahre weiter in Trab halten werden, ohne dass sie irgend jemandem weh tun.
Verwalteter Stillstand
Dabei ist der fehlende Leistungsausweis der Schweizer Agrarpolitik angesichts der eingesetzten Steuermilliarden eigentlich grotesk. Die Schweiz leistet sich ein Agrarsystem, das im Vergleich mit dem umliegenden Ausland 5-10 Mal mehr kostet. Begründet werden die Ausgaben vor allem mit der Unterstützung einer nachhaltigen Schweizer Landwirtschaft. Doch nicht ein einziges der gesetzlich verbindlichen Nachhaltigkeitsziele hat die Agrarpolitik in den letzten 20 Jahren erreicht, und in wichtigen Umweltbereichen gehört die Schweizer Landwirtschaft europaweit zu den Schlusslichtern, so bei der Biodiversität, bei der Energieeffizienz oder den Emissionen. Auch wirtschaftlich ist sie ein Desaster. Getrieben von staatlichen Fehlanreizen verdient der durchschnittliche Schweizer Bauernbetrieb heute keinen Rappen mehr aus seiner viel zu teuren, oft viel zu intensiven Produktion. Ein Grossteil der Gelder bleibt nicht bei den Bauernfamilien, sondern geht an die vor- und nachgelagerten Branchen, die am Schweizer Agrarsystem Milliarden verdienen, und jedes Jahr werden es mehr.
Die vor wenigen Wochen publizierte Vernehmlassungsunterlage zur Agrarreform 2022+ gibt entgegen dem Versprechen des Bundesrates alles andere als eine befriedigende Antwort darauf, wie die Probleme behoben werden können.
Bewegung von unten
Für das eigentliche agrarpolitische Ereignis sorgte ein kleines Grüppchen ausserhalb der agrarpolitischen Establishments. Der Verein „Sauberes Wasser für alle“ reichte im vergangenen Januar nach kürzester Sammelfrist die Volksinitiative „Für sauberes Trinkwasser und gesunde Nahrung – Keine Subventionen für den Pestizid- und den prophylaktischen Antibiotika-Einsatz“ ein. Kaum eine Initiative vermochte in einem so frühen Stadium so viel Medienecho auszulösen wie die Trinkwasserinitiative. In bäuerlichen Kreisen sorgte sie für erhebliche Unruhe. Unzählige Podien wurden veranstaltet, eine nicht abbrechende Serie von Zuschriften füllte während Monaten die Leserbriefspalten landwirtschaftlicher Zeitungen, und plötzlich wurde in bäuerlichen Kreisen intensiv über Pestizidprobleme, Umweltanliegen oder Gewässerschutz diskutiert.
Nicht ohne Grund. Die Initiative hat das Zeug, die Agrarpolitik grundlegend zu verändern und ihr denjenigen Schub zu verleihen, welche die offizielle Politik mit enormem Aufwand und vielen Vernebelungsaktionen während 20 Jahren verhindert hat.
Angesichts fehlender Lösungsperspektiven der Bundespolitik ist die Trinkwasserinitiative für viele Organisationen zu einem Hoffnungsträger geworden. Im Moment laufen verschiedene Analysen zur Frage, welche Auswirkungen auf die Landwirtschaft bei einer Annahme zu erwarten sind. Erste Resultate zeigen, dass bei einer pragmatischen Umsetzung des Initiativtextes einige der wichtigsten agrarpolitischen Defizite tatsächlich sinnvoll und ohne Schaden für die Landwirtschaft gelöst werden können, insbesondere im Bereich Gewässerqualität, Biodiversität, Pestizide und Tierhaltung/Antibiotika. Dabei ist nicht davon auszugehen, dass die Nahrungsmittelpreise steigen, u.a. weil die Produktionskosten parallel zur Umweltbelastung teilweise massiv gesenkt werden können. Die Ernährungssicherheit kann mit weniger belasteten Böden und Gewässern sogar verbessert werden.
Wiederholung der Geschichte?
Die Flut an Volksinitiativen zur Landwirtschaft und die Handlungsunfähigkeit der offiziellen Politik erinnern an die 1990er Jahre. Damals wie heute hat sich in der Bevölkerung ein diffuser Unmut über ein Agrarsystem zusammengebraut, das viel zu viel kostet und zugleich enorme Kollateralschäden verursacht. Damals wie heute versuchen die gut vernetzten, finanzkräftigen Profiteure des Systems, jegliche Reformbemühungen im Keim zu ersticken. Während diese Blockade bei den Reformschritten der Agrarpolitik 2014-17 weitgehend ins Leere lief, ist sie bei der heutigen Konstellation in Bundesbern wieder erfolgreich. Je länger die politische Blockade andauert, desto mehr dürften das Unbehagen und der Druck von unten zunehmen. Die Trinkwasserinitiative ist ein Vorbote. Weitere Initiativen sind bereits in der Pipeline.
Die agrarpolitische Hochkonjunktur dürfte in den kommenden Jahren also noch etwas anhalten.
Der Erfolg des Weinguts Lenz in Uesslingen (TG) gründet auf vier Säulen: die erste ist die Bewirtschaftung der Reben nach biologischen Richtlinien. Die zweite ist die weit über die Richtlinien hinausgehende Förderung der Artenvielfalt. Drittens setzt Lenz auf eine grosse Diversität an Rebsorten. Die Krönung in seinen Rebbergen stellen schliesslich die neuen pilzresistenten Rebsorten dar. Mit diesen vier Säulen kann er heute fast ganz auf Pestizide verzichten. Auch im Keller probiert Lenz, immer weniger Hilfsmittel einzusetzen.
(VL) Roland Lenz’s Rebberge unterscheiden sich augenfällig vom üblichen Bild eines Schweizer Rebberges. Seine Parzellen sind durchsetzt mit Naturwiesen, Gebüschen und hohen Bäumen. Zwischen den Reihen spriesst es grün und spontan. Um Raum für eine grosse Vielfalt von Lebewesen zu schaffen, hat er 13 Prozent seiner Reben gerodet und zirka 600 Bäume gepflanzt. Dank der hohen Biodiversität hat Lenz praktisch keine Schädlinge. Auch gegen die Kirschessigfliege musste er bisher nie Pestizide spritzen. Seine Reben bieten schlicht keine Angriffsfläche, weil sie durch viele verschiedene Nützlinge geschützt sind, ist er überzeugt.
Bild: Roland Lenz in seinem Rebberg. Foto: VL
Verwirrtechnik Im Biorebbau spritzt man zwar erst, wenn eine höhere Schadschwelle erreicht ist als im konventionellen Rebbau. Aber Roland Lenz goutiert auch Bio-Pestizide wie «Audienz» nicht, ein Insektizid mit dem Wirkstoff Spinosad, der im Biolandbau etwa gegen die Kirschessigfliege eingesetzt werden darf. «Ich will keine sogenannten «Bio-Insektizide» brauchen! Ob natürlichen oder chemisch-synthetischen Ursprungs, Pestizide sind Gifte für Lebewesen», erklärt er. Es gibt andere erfolgreiche Strategien zur Bekämpfung von Schädlingen: «Gegen die Kirschessigfliege arbeiten wir mit Fallen, und den Traubenwickler verwirren wir. Das heisst wir verwenden Ampullen, die weibliche Hormone verströmen, so dass die Männchen die Weibchen nicht finden und keine Begattung erfolgen kann».
Vital durch Vielfalt Roland Lenz ist ein Freund der Vielfalt. Auf seinen 17 Hektaren hat er 34 unterschiedliche Rebsorten. Die Sortenvielfalt mindert zusätzlich den Krankheitsdruck. «Die vitalsten Reben sind innerhalb der gemischten Parzellen zu finden. Haben Sie gewusst, dass Reben eine Art Freundschaft eingehen?», philosophiert er. Sortenvielfalt schaffe nebst vermindertem Krankheitsdruck auch Vorteile bei Trockenheit, die für viele Winzer gerade in diesem Jahr ein grosses Problem war. Gegen Hagel sind seine Reben durch mehrjährige Seitennetze geschützt. Das ergibt zugleich eine erwünschte Beschattung – so kriegen die Trauben keinen Sonnenbrand. Ein weiterer Nutzen: Das Befestigen der Triebe entfällt, was einer massiven Arbeitszeitersparnis gleichkommt. Auch Sturmschäden und Verluste durch Vogelfrass werden verringert. Im Gegensatz zu Einwegnetzen sind die zirka einen halben Meter über dem Boden befestigten Mehrwegnetze für Vögel und Igel unproblematisch.
Die neuen pilzresistenten Rebsorten Auf 11 Hektaren oder 60 Prozent seiner Rebparzellen stehen heute sogenannte «neue Rebsorten». Sie sind widerstandsfähig gegen Pilze (siehe weiter unten Kasten «Resistente Sorten»). Auf diesen Flächen kann Roland Lenz grundsätzlich auf Pestizide verzichten, auch auf das problematische Kupfer, das Biowinzer sonst gegen Pilze einsetzen. Herkömmliche und in der Regel sehr pilzanfällige Sorten wie Pinot Noir stehen bei Roland Lenz nur noch auf 6.5 Hektaren. Eine wirklich gute, widerstandsfähige neue Sorte, die Pinot Noir ersetzen könnte, hat er noch nicht. Heute produziert Lenz 60 Prozent Weiss- und nur 40 Prozent Rotwein. Warum? «Die Zucht von roten Sorten für den pestizidfreien Anbau ist deutlich schwieriger als jene von weissen Sorten. Zudem ist das Klima in der Deutschschweiz perfekt für den Weisswein», antwortet er.
Naturprodukt im Quadrat Statt Pestizide einzusetzen, stärkt Roland Lenz seine Reben mit Algenauszügen. Sie machen die Reben widerstandsfähiger gegen Pilze und begünstigen die Wundheilung, wenn zum Beispiel Blätter abgerissen werden. Falls nötig setzt Lenz gegen den «echten Mehltau» Backpulver ein, und seit kurzem Lärchenextrakte. Er vertraut beim Zeitpunkt der Behandlung auf sein Gefühl. Ausserdem setzt er auf die sogenannten «effektiven Mikroorganismen», mit denen er seine Böden geimpft hat. Sie bilden mit den Wurzeln der Reben ein symbiotisches System. Alle 34 Rebsorten werden separat begutachtet, damit der optimale Zeitpunkt für die Ernte gefunden wird. Aus den Trauben zweier Parzellen, bepflanzt mit den Sorten Souvignier gris und Léon Millot, stellt Lenz den sogenannten »Cerowein» her: Null Hilfsstoffe im Rebbau und Null Hilfsstoffe im Keller kennzeichnen ihn. Bemerkenswert, wenn man bedenkt, wie viele Hilfsstoffe auch in der Bio-Kelterung noch zulässig sind. Wein ist zu einem Designprodukt geworden, das beliebig gestaltet wird, mit Hilfe von vielen, vielen Hilfsstoffen. Die meisten müssen nicht einmal deklariert werden.
Hoher Anspruch ist realistisch Manchmal geht auch etwas schief: «2015 - ein feuchtes und warmes Jahr - konnte ich nach drei Tagen Regenwetter nicht in die Reben, auch die stärkenden Pflanzenauszüge auszubringen war nicht möglich. So habe ich auf zwei Hektaren die Ernte von Cabernet Jura verloren, weil es einen Durchbruch bei der Pilz-Resistenz gab», erzählt Roland Lenz. Sein wirtschaftlicher Erfolg erlaubt ihm Rückstellungen für solche Fälle. Mit dem Forschungsinstitut für biologischen Landbau FiBL und dem Weinhändler Delinat führt Lenz einen Versuch betreffend pestizdfreier Produktion von Pinot Noir durch. Sein Ziel ist es, alle seine Reben komplett pestizidfrei, also auch ohne Kupferspritzungen, zu bewirtschaften. Es sei ein sehr hoher Anspruch, meint er, aber durchaus realistisch, da gerade alle neuen Sorten ganz ohne Pestizide angebaut werden können. Pro Jahr erneuert er drei bis vier Prozent der Rebfläche – und bepflanzt sie mit neuen, pilzwiderstandsfähigen Sorten, versteht sich. Glück hat Roland Lenz dabei mit seinem lebendigen Boden: sein Land war vorher kein Rebgebiet und nicht mit Pestiziden vorbelastet. So musste er das Ökosystem Boden nicht wie andere WinzerInnen jahrzehntelang wiederaufbauen.
Neue Sorten bieten Kostenvorteile Roland Lenz verzichtet auf die meisten Hilfsstoffe nicht nur im Rebberg, sondern auch bei der Kelterung. Dabei spart er viel Geld. Ausserdem fallen dadurch etwa 50 Prozent der Arbeitskosten weg. Der Betrieb mit Karin und Roland Lenz, zwei Winzerlehrlingen, drei Winzern, einer Bürofachkraft und einer Haushaltshilfe steht wirtschaftlich gut da. Pro Hektare Reben rechnet Roland Lenz mit einer Ernteleistung von etwa 90 Stunden oder zirka 1’500 Franken Arbeitskosten. Das ist der gleiche Preis wie für eine Vollerntemaschine. Dabei seien sie schlagkräftiger und flexibler als mit dem Einsatz einer solchen Maschine. Bei der Weinlese helfen jeweils 20 KundInnen mit. Roland Lenz selbst teilt seinen Einsatz auf mehrere Disziplinen auf: Rebzucht und Beratung, Traubenproduktion, Kelterung und Verkauf. Sein Ziel ist es, junge KundInnen zu erreichen, und dafür will er nicht nur im Premiumbereich anbieten. Das schafft er nur, weil er die Kosten im Griff hat, sagt er: «Mit einer Flasche, die ich für 17.50 Franken verkaufe, habe ich immer noch eine gute Wertschöpfung». Roland Lenz produziert mehr als 70 verschiedene Weine pro Jahr.
Preisgekrönt Die International Wine Challenge, AWC Vienna ist der weltweit grösste Weinwettbewerb mit über 12’000 eingereichten Weinen - konventionell sowie biologisch produzierten. In diesem internationalen Umfeld schneiden Lenz’s Weine sehr erfolgreich ab und sind auch der konventionellen Konkurrenz mehr als gewachsen: 2015 und 2016 wurden alle eingereichten Weine ausgezeichnet, je mit zweimal Gold und viermal Silber! In beiden Jahren wurde sein Wein «Panorama» mit 91 Punkten am höchsten bewertet. Ausserdem wurde Roland Lenz schon zweimal als Schweizer Biowinzer des Jahres gekürt, im 2015 und im 2018. Hier geht es zur Homepage des Weinguts Lenz.
Bild: Roland Lenz in seinem Weinkeller. Foto: VL
Kelterung Wie viele und welche Stoffe bei der Produktion der Trauben eingesetzt werden, ist immer wieder Thema in den Medien. Manchmal ist es auch für Laien ersichtlich, ob etwa zwischen den Reihen Herbizide gespritzt wurden oder nicht. Was hingegen danach bei der Vinifizierung passiert, ist in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Vision Landwirtschaft hat recherchiert, welche Stoffe in welchem System oder Label eingesetzt werden dürfen, und die Vorschriften miteinander verglichen. Hier geht es zur Tabelle «Erlaubte Hilfsstoffe bei der Kelterung». Als Inspiration führen wir darin auch auf, welche Hilfsstoffe Roland Lenz braucht, um den «Cerowein» zu keltern: keine.
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- Resistente Sorten Die beiden wichtigsten Rebenkrankheiten, die bei den traditionellen Sorten regelmässigen Pflanzenschutz nötig machen, sind der falsche und der echte Mehltau. Diese Pilzkrankheiten waren ursprünglich in Europa nicht heimisch. Sie wurden im 19. Jahrhundert von Nordamerika nach Europa eingeschleppt und haben sich in jener Epoche explosionsartig ausgebreitet. Der Weinbau in Europa drohte zugrunde zu gehen, auch wegen der Reblaus, die zur selben Zeit in Europa wütete. Seit dieser Zeit müssen alle traditionellen Rebsorten jedes Jahr bis zu 20 Mal – je nach Witterung und eingesetzten Mitteln – mit Fungiziden behandelt werden, denn ein Pilzbefall kann die Traubenernte total vernichten. Die pilzwiderstandsfähigen Reben (auch «PIWI-Sorten» genannt) sind ursprünglich aus Kreuzungen zwischen europäischen Reben und pilzresistenten amerikanischen Arten entstanden. Heute kennt man neue multiresistente Sorten, deren Resistenz gegen Mehltau stabil ist, weil sie auf mehreren Genen basiert. (Quelle: https://www.piwi-international.de/de/informationen.html)
(VL) In der Volksabstimmung vom 23. September befassen sich gleich zwei Vorlagen mit der Landwirtschaft. Die Fair-Food-Initiative will im Rahmen der bestehenden internationalen Handelsabkommen faire und nachhaltig produzierte Nahrungsmittel fördern. Auch die Initiative für Ernährungssouveränität will mehr Nachhaltigkeit und Fairness gegenüber den Bauern. Dies aber vor allem aus einer traditionellen bäuerlichen Perspektive, mit weitgehenden staatlichen Eingriffen und mit Konfliktpotenzial gegenüber bestehenden Handelsabkommen. Was ist von den Vorlagen zu halten? In diesem Newsletter fassen wir einige Überlegungen zu den Initiativen zusammen.
Die Fair-Food-Initiative will, kurz gesagt, faire und nachhaltig produzierte Nahrungsmittel fördern. Produkte aus bäuerlicher Landwirtschaft, fairem Handel sowie aus regionaler und saisonaler Produktion und Verarbeitung sollen einen Marktvorteil erhalten. Die Lebensmittelverschwendung und die Klimabelastung durch Transport und Lagerung sollen reduziert und die Tierhaltungsform auch bei Importen und verarbeiteten Lebensmitteln deklariert werden. Tierquälerisch erzeugte Produkte sollen nicht mehr in die Schweiz importiert werden, und importierte Lebensmittel sollen soziale und ökologische Mindestanforderungen erfüllen, die denjenigen in der Schweiz entsprechen. Herkunft und Produktionsbedingungen sollen zudem transparent deklariert werden.
Die Initiative fördert die Entwicklung von Handelsregeln, die Nachhaltigkeit belohnen statt bestrafen. Dabei setzt sie bei einem entscheidenden Punkt an, nämlich bei den Bestimmungen für den Import von Nahrungsmitteln. Entgegen der landläufigen Meinung und der Argumente von Initiativgegnern besteht ein grosser Handlungsspielraum für handelsbezogene Anreize, wie sie die Initiative anstrebt. Die Befürchtungen der Gegner, dass Handelsregeln verletzt würden, der Staat eine riesige Bürokratie aufbauen müsste und die Lebensmittel teurer würden, sind übertrieben (Details dazu liefert eine interessante Studie über nachhaltige Agrarimporte der Juristin Elisabeth Bürgi Bonanomi von der Uni Bern):
Die geforderten Bestimmungen zur Deklaration und zur Abstufung von Zöllen und Kontingenten nach Nachhaltigkeitskriterien lassen sich so umsetzen, dass sie mit den EU-Verträgen und mit den WTO-Regeln kompatibel sind. Bereits heute gewährt der Bund beispielsweise Steuererleichterungen für nachhaltig produzierte importierte Agrotreibstoffe. Gemäss WTO können Handelszugeständnisse zum Schutz gewisser öffentlicher Interessen, insbesondere von Umwelt- und Sozialstandards, ausgesetzt werden, wenn die Massnahmen nicht-diskriminierend ausgestaltet sind, d.h. wenn alle Marktteilnehmenden die Chance haben, die Standards zu erfüllen. Zudem müssen sie verhältnismässig sein, also nicht stärker eingreifen als nötig ist, um das Ziel zu erfüllen. Glaubwürdig wäre die nicht-diskriminierende Absicht von nachhaltigkeitsbezogenen Importbestimmungen gemäss der Handelsexpertin Bürgi Bonanomi insbesondere dann, wenn die Bestimmungen eine weniger kapitalintensive Schweizer Produktion begünstigen würden, bei der weniger Vorleistungen (z.B. Futtermittel) importiert würden, so dass im Gegenzug ggf. mehr Nahrungsmittel importiert werden müssten. Genau dies fordert Vision Landwirtschaft seit Jahren.
Auch Befürchtungen der Gegner einer überbordenden Bürokratie scheinen übertrieben. Zertifizierungen von Produktionsmethoden müssen nicht durch den Staat vorgenommen werden. Wie bei bestehenden Labels wie Max Havelaar kann die Zertifizierung Privaten überlassen werden. Umgesetzt würden ohnehin nur praktikable Massnahmen. Gemäss Bürgi Bonanomi wären dies etwa Positiv-Listen von Labels, für die Zolldifferenzierungen gelten würden. Die differenzierten Zölle würden einen Anreiz für private Zertifizierungen schaffen und damit international dazu beitragen, dass höhere Produktionsstandards auch ökonomisch attraktiv werden.
Die Befürchtung von höheren Nahrungsmittelpreisen, wie sie etwa von Konsumentenverbänden als Gegenargument angeführt wird, ist sicher nicht ganz unbegründet. Höhere Verkaufspreise treffen in der Schweiz am ehesten die weniger gut verdienenden Bevölkerungsteile. Die Auswirkungen auf die Preise sind aber nicht so eindeutig vorhersehbar, wie oft behauptet wird. Beispielsweise muss nachhaltig produziertes Fleisch aus dem Ausland nicht teurer sein als inländisches Fleisch. Was bisher noch nie thematisiert wurde: Ein freier Import von zertifiziertem Fleisch aus tierfreundlicher Haltung würde voraussichtlich für in der Schweiz produziertes Fleisch einen Preisrutsch nach unten bewirken. Je nachdem könnten nachhaltig produzierte Nahrungsmittel also sogar günstiger werden.
Vor allem indirekt könnte die Initiative dazu beitragen, dass die Schweizer Landwirtschaft ökologischer wird.Der erleichterte Import von besonders nachhaltig produzierten Lebensmitteln könnte dazu führen, dass wenig nachhaltig produzierte Massenware in der Schweiz nicht mehr gleich stark nachgefragt wird. Zudem würde das Image von Importprodukten in der Bevölkerung verbessert.
Der Initiativtext ist sehr offen formuliert. Die Auswirkungen sind deshalb stark abhängig von der Umsetzung durch das Parlament. Im Hinblick auf die Umsetzung durch das Parlament bedeutet die offene Formulierung ein Risiko. Es könnte im schlechtesten Fall dazu kommen, dass die Initiative letztlich eine ökologisch, volkswirtschaftlich und entwicklungspolitisch sinnvolle Produktion in der Schweiz eher behindern als fördern würde – ein Argument allerdings, das bei vielen Initiativen angeführt werden kann.
Fazit: Die Initiative nimmt mit dem Thema der nachhaltigen Importe ein Anliegen auf, das für die Entwicklung nachhaltiger globaler Ernährungssysteme zentral ist. Die Knacknüsse der Initiative liegen bei der späteren Umsetzung in Politik und Verwaltung. - Fundierte Argumente zur Initiative finden sich in einem Interview mit Elisabeth Bürgi Bonanomi im Tages-Anzeiger.
Initiative für Ernährungssouveränität
Die Initiative für Ernährungssouveränität hat zwar Überschneidungen mit der Fair-Food-Initiative, will aber sehr viel mehr. So soll beispielsweise das Einkommen der Landwirte verbessert, für gerechte Preise gesorgt, und die Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Menschen erhöht werden. Und dies alles mit staatlichen Mitteln.
Die Initiative nimmt wichtige Anliegen einer nachhaltigen Landwirtschaft auf, betont dabei aber einseitig die Anliegen und Interessen einer spezifischen Gruppe von Bäuerinnen und Bauern. Sie berücksichtigt nicht, dass arbeitsintensive Produktionsmethoden und eine möglichst hohe Inlandproduktion nicht notwendigerweise im Interesse der Umwelt und der Konsumenten, ja nicht einmal unbedingt im Interesse vieler Bauernfamilien sind. Die Initiative scheint in mancher Hinsicht eine Landwirtschaft anzustreben, wie sie die Schweiz vor fünfzig Jahren hatte. Die Initiative lehnt sich stark an Ideen der Via Campesina an, eines weltweiten Zusammenschlusses von Kleinbauern, die vor allem die Situation von Bauern in Entwicklungsländern verbessern will.
Auch bei der Ernährungssouveränitäts-Initiative sind fast alle Forderungen sehr allgemein formuliert. Im Gegensatz zur Fair Food-Initiative haben die Initianten bisher aber kaum konkrete Lösungen vorschlagen können, wie sie sich eine Umsetzung der Initiative vorstellen. Kommt dazu, dass viele der Anliegen der Ernährungssouveränitäts-Initiative im aktuellen Text der Bundesverfassung und teilweise auch in Gesetzestexten bereits mehr oder weniger enthalten sind, ohne dass sie aber zu einer Landwirtschaft führten, wie sie sich die Initianten vorstellen.
Andere Forderungen sind rechtlich und im Kontext internationaler Vereinbarungen problematisch und, wenn überhaupt, äusserst schwierig umzusetzen. Insbesondere ist die Initiative sehr protektionistisch und verkennt, dass der freie Handel von Nahrungsmitteln bei entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingen (Anliegen Fair-Food-Initiative) durchaus auch positive Aspekte für die Landwirtschaft haben kann.
Fazit: Die Uniterre-Initiative gleicht einem bunten Strauss an Wünschen, bei denen fraglich bleibt, ob sie durch Parlament und Exekutive überhaupt umgesetzt werden (können). Ähnlich wie 2017 bei der Ernährungssicherheits-Initiative würde die Verfassung um Inhalte erweitert, die kaum einen Niederschlag in der Gesetzgebung und staatlichem Handeln finden dürften.
Die Landwirte Christian Meier und Bruno Künzli stehen stellvertretend für viele, die zwar nicht Biolandbau betreiben, denen es aber heute gelingt, IP-Suisse-Brot-Getreide ohne Fungizide, ohne Insektizide, ohne Halmverkürzer und sogar ohne Herbizide zu produzieren. Eine anspruchsvolle Herausforderung zwischen Wirtschaftlichkeit und Ökologie, die viel Beobachtungsgabe, Kalkül und Verstand verlangt. Pestizidfrei anbauende Landwirte zu unterstützen und zu vernetzen ist eines der Ziele des Projekts «Pestizidfreie Schweizer Landwirtschaft» von Vision Landwirtschaft.
(VL) Eine wachsende Zahl von IP-Suisse-Landwirten bauen ihr Getreide pestizidfrei an. Gut 2 Prozent der Brotgetreidefläche sind es derzeit gemäss IP-Suisse-Geschäftsführer Fritz Rothen. Wenig, so scheint es. Die Zahl ist aber umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass es für pestizidfrei angebautes IP-Suisse-Getreide keinen Mehrpreis gibt. Und dass vor allem der Verzicht auf Herbizide eine Herausforderung ist: Getreide reagiert nämlich sehr empfindlich auf die Konkurrenz von Unkräutern. Diese können zu deutlichen Ertragseinbussen führen.
Weniger Pestizide – weniger Kosten
Ein Schlüssel zur Wirtschaftlichkeit beim pestizidfreien Getreideanbau liegt im tieferen Aufwand: «Durch Verzicht auf Herbizide spare ich pro Hektare 121 Franken, davon Traktorkosten 15 Franken, Kosten für die Spritzenmiete 26 Franken und für Herbizide 80 Franken. Zudem habe ich manchmal, je nach Unkrautbefall, weniger Arbeit als mit der Spritze», rechnet Christian Meier, 50-jähriger Bauer in Niederwenigen bei Zürich, vor.
Christian Meier mit Töchterchen Ladina im Weizenfeld. Bild: Vision Landwirtschaft
Unkrautdruck niedrig halten
Damit es ohne Pestizide geht, sei es wichtig, die Unkräuter mit Kulturmassnahmen wie einer ausgewogenen Fruchtfolge mit Kunstwiesenanteil in Schach zu halten. Während Christian Meier eine fixe Fruchtfolge einhält, variiert der 40-jährige Bruno Künzli im thurgauischen Nussbaumen mit der Fruchtfolge und sät sein Brotgetreide nach einer Kultur, die er chemisch oder mechanisch unkrautfrei gehalten hat. 2017 konnte er so 60 Prozent seiner Ackerfläche herbizidfrei bebauen. «Dennoch ist es mein letztes Jahr mit Brotweizen, stattdessen werde ich die Emmer- und Dinkelfläche ausweiten, denn diese Sorten eignen sich dank dem hohen Wuchs deutlich besser für den herbizidfreien Anbau». Ähnlich die Erfahrungen von Bauer Christian Meier mit Roggen. «Roggen wird so hoch, dass er die Keimung der Unkräuter verhindert, weil kein Licht mehr durchkommt». Unkräuter oder Schädlinge konnten seinem Getreide dieses Jahr nichts anhaben. Trotzdem muss er mit Ertragseinbussen leben, weil der Hagel ca. 30 % der Körner «ausgeschlagen» habe.
Vielfältige Betriebsmodelle
Christian Meier muss für ungünstige Wettervorkommnisse Rückstellungen machen. In seinem Betriebsmodell, das ihm ein landwirtschaftliches Einkommen von 45'000 Franken ermöglicht, betreibt er neben Ackerbau auch die Aufzucht von Milchvieh. «Im Sommer, wenn die Aufzuchtrinder auf den Weiden sind, bleibt Zeit für eine Zusatzarbeit». Als Hochzeitsfotograf verdient er etwa die Hälfte seines jährlichen Gesamteinkommens. So kommen er, seine Frau, die als Kindergärtnerin in Teilzeit auch zum Familieneinkommen beiträgt, und die vier Kinder zwischen 16 und 2 Jahren, gut über die Runden.
Immer wieder Neues
Auch Bruno Künzli ist nicht nur Bauer. Er ist zugleich Versicherungskaufmann, Maschinenmechaniker, Tauchlehrer und Tourismusunternehmer. Der Beruf des Landwirtes sei von allen der schwierigste. Bruno Künzli ist ein Mensch, der rechnet und vergleicht. Er tüftelt immer wieder an innovativen Ideen und probiert sie aus – nur so findet er mit seinen Eltern auf dem Betrieb heute noch ein nachhaltiges Auskommen. Und nur so kommt er mit insgesamt weniger Pestiziden aus. Die Landwirtschaft ermöglichte ihm im Jahr 2017 ein Einkommen von etwa 41'000 Franken. Er beschäftigt sich mit neuen Produktionsformen, die er vor allem im Web oder im Austausch mit Biolandwirten recherchiert. Zum Beispiel macht er Versuche mit Salz, um das Getreidehähnchen zu bekämpfen.
Bundesgelder fürs Risikomanagement
Bauer Künzli bekommt einen Preiszuschlag für den herbizidfreien Anbau, wenn er den Boden nicht pflügt. In Frage kommen dann Mulchsaat - ein pflugloses Saatverfahren, bei dem die Pflanzenreste der Vorfrucht vor und nach der Neuaussaat die Bodenoberfläche bedecken - oder Streifenfrässaat. Bei dieser Methode beschränkt sich die Bodenbearbeitung auf einen schmalen Frässtreifen der sofort eingesät wird. Auch Direktsaat ist möglich: die Saat erfolgt ohne Bodenbearbeitung direkt nach der Ernte der Vorfrucht. Beim Verzicht auf den Pflug ist es schwierig, ohne Herbizide auszukommen. Und doch darf Bruno Künzli ab der Ernte der Vorkultur keine Herbizide mehr einsetzen, wenn er Ressourceneffizienzbeiträge erhalten will. Um die Unkräuter mechanisch zu bekämpfen, bedarf es ideales Wetter und einen trockenen Boden. «Das kurze Zeitfenster bedeutet oft Stress», sagt Bruno Künzli. Er muss jeden günstigen Moment ausnutzen, um das Unkraut mechanisch zu bekämpfen. So ergeben sich laut Bruno Künzli Mehrkosten für die mechanische Unkrautkontrolle, sowie ein erhöhtes Anbaurisiko. Diese Faktoren werden aber durch die zusätzlichen Beiträge des Bundes gedeckt. «Ich erhalte für die Mulchsaat pro Hektare 150 Franken und für herbizidfreien Anbau 400 dazu. Zudem spare ich 150 Franken für die Spritzung». Diese Gelder und die Einsparung schaffen es knapp, die zusätzliche Arbeit und den Minderertrag, mit dem es durch den pestizidfreien Anbau zu rechnen gilt, zu decken. Durch die Bundesgelder spielt also der mengenmässige Ertrag bei der Wirtschaftlichkeit eine kleinere Rolle. Die Direktzahlungen helfen, das Risiko eines schlechten Jahres besser zu managen.
Bruno Künzli im Emmerfeld. Bild: Vision Landwirtschaft
Der Markt bestimmt mit
IP-Suisse-Geschäftsführer Fritz Rothen betont, dass KonsumentInnen, aber auch Verarbeiter immer mehr pestizidfreies Getreide verlangen. Das hat Konsequenzen: «Ab Saattermin 2018 gilt bei IP-Suisse-Extenso-Brotgetreide ein Glyphosatverbot. Das gilt auch für die Vorkultur». IP-Suisse-Extenso-Brotgetreide sei damit frei vom umstrittensten und am häufigsten eingesetzten Herbizid. Doch ganz pestizidfrei sei das nicht, weil der Einsatz von anderen Herbiziden noch erlaubt bleibe. Beachtlich immerhin: Allein die Aussicht auf ein Glyphosat-Verbot habe die vor- und nachgelagerte Industrie in Bewegung gebracht. Maschinenhersteller hätten plötzlich präzisere Striegelgeräte zur mechanischen Unkrautbekämpfung auf den Markt gebracht. Diese könnten sowohl vor Auflauf der Getreidekörner wie auch nach der Keimung eingesetzt werden.
Resistente Schweizer Sorten
IP-Suisse-Saatgetreide stammt ausschliesslich aus Schweizer Sorten. Diese seien einerseits resistenter gegen Krankheiten und Schädlinge als viele ausländische Sorten, andererseits ergeben sie qualitativ hochwertiges Mehl, sagt Fritz Rothen. «Pestizidfreies Brotgetreide ist wirtschaftlich zunehmend mit dem konventionellen vergleichbar», ergänzt er. Die Jowa, eine Tochtergesellschaft der Migros, nimmt für ihre Bäckereien 80 Prozent des IP-Suisse Brotgetreides ab und bestimmt damit auch die Qualität und den Preis massgebend mit. Die Migros wirbt aber noch nicht mit pestizidfreiem Getreide. Kleinere Mühlen wie die Firma Bachmann aus Willisdorf (TG), der Bauer Bruno Künzli sein Getreide abliefert, oder die Mühle Steinmaur (AG), die von Bauer Christian Meier das Brotgetreide abnimmt, werben mit dem Slogan «voll Natur». Fritz Rothen ist überzeugt: «Die Zukunft gehört der Resistenzzüchtung, der minimalen Bodenbearbeitung sowie der Robotertechnik für alle Feldarbeiten».
Forschung, sowie Innovationen durch moderne Technik und Züchtung weisen also den Weg in Richtung einer pestizidfreien Landwirtschaft.
René Sgier, Betriebsleiter «Hansjürg Imhof Bioprodukte» in Schwerzenbach (ZH), denkt praktisch. Er baut auf 70 Hektaren Gemüse an – ohne Pestizide. Er führt den grössten Gemüsebetrieb nach Demeter-Richtlinien in der Schweiz. Einen Zauberstab hat er nicht, aber er beobachtet, denkt, wägt ab und trifft intelligente betriebswirtschaftliche Entscheide. Er erklärt ohne Ideologie, dafür mit sehr viel Sachverstand, was er sich unter einer guten Agrarpraxis vorstellt: etwa Sortenwahl, geeignete Standorte und Förderung von Nützlingen. Den Boden pflegt er so, dass er möglichst in seiner Struktur erhalten bleibt und die Lebewesen in ihm gut gedeihen können. Damit schafft er von Anfang an ein gutes Klima für gesunde Pflanzen.
(VL): Herr Sgier, in der Firmenphilosophie von Imhofbio AG stehen Sätze, die auch die Motivation unseres Projektes «pestizidfreie Schweizer Landwirtschaft» sehr gut beschreiben: «Der hohe Einsatz von Pestiziden und die damit verbundene gesundheitliche Gefahr für den Menschen, die Rückstände in Produkten und Boden an Pestiziden, die Resistenzbildung, aber auch die Marktsituation mit einer Überproduktion veranlassten uns, umzudenken …..». Können Sie die Idee der Pestizdfreiheit unterschreiben?
(René Sgier): Wir haben den ganzen Gemüsebau im 2017 von Bio auf Demeter umgestellt. Dabei war aber nicht der Gedanke an den Pestizideinsatz ausschlaggebend, sondern die allgemeinen Grundideen von Demeter, der Bodenschutz und die Bodenfruchtbarkeit. Wir haben schon vorher die meisten Kulturen praktisch nicht gespritzt. Von den Einschränkungen der strengeren Richtlinien von Demeter gegenüber Bio war ich deshalb kaum betroffen: Kupfer darf man bei Demeter nicht mehr anwenden, aber ich produziere kein Obst und keine Kartoffeln - Kulturen, in denen nach Knospe- Richtlinien Kupfer noch erlaubt ist.
War das schon immer Ihre Philosophie, ohne Pestizide auszukommen?
Pestizide waren bisher vor allem eben auch kaum nötig! Pestizide sind Notfallmassnahmen, wenn etwa im Kohl alles voll mit Läusen ist. Im letzten Jahr ist die Spritze für solche Notfälle drei- bis viermal gefahren. Und da habe ich ein erlaubtes Präparat mit Bacillus thuringiensis (Bt) gespritzt[1]. Das ist ein Bodenbakterium, das ein Eiweiss produziert, welches sehr spezifisch für die Larven der Kohleule giftig ist. So wird der Schädling eingedämmt.
Welche Kulturen produzieren Sie?
Salate, Fenchel, Weisskohl, Broccoli, Kohlraben, Tomaten, Zucchini, Schnittblumen und Kürbisse. Diese vermarkte ich mit dem Demeter-Label bei den Grossverteilern, dem Bioeinzelhandel und im Hofladen.
Welche Massnahmen ergreifen Sie, dass Sie nicht spritzen müssen?
Die Sortenwahl ist gerade bei Salaten wichtig. Der Markt verlangt nach grossen, kräftigen, gesunden Salaten. Und die Läuseresistenz ist hier eines der Hauptzuchtziele. So kommen alle paar Jahre neue Sorten heraus, die dank natürlicher Zucht resistent sind, das sind die modernen Lollo-, Batavia-, und Blattsalatsorten. Beim Fenchel, der sowieso kaum anfällig ist, ist es dasselbe. Da haben wir noch nie gespritzt.
Was muss sonst noch gegeben sein, um ohne Pestizide zu produzieren?
Die Lage, die Windrichtung, der Boden müssen für eine Kultur geeignet sein. An windoffenen Lagen, wo die Möhrenfliege keine Probleme macht, geht zum Beispiel der Karottenanbau sehr gut ohne Insektizide, wie ich in meiner Diplomarbeit nachweisen konnte.
Wo liegen die Knackpunkte?
Wir haben etwa herausgefunden, dass man Karotten am besten auf sandigen Böden, in windigen Lagen anbaut. Allgemein sind eine gute fachliche Praxis – Sortenwahl, Fruchtfolge – und ein gesunder Menschenverstand nötig. Wenn meine Nachbarn zum Beispiel Winterbegrünung mit Raps gemacht haben, werde ich meine Broccoli nicht daneben setzen, sonst habe ich mehr Probleme mit dem Rapsglanzkäfer.
Wie bestimmen Sie, wann ein Notfalleinsatz nötig ist?
Für die Bekämpfung von Kohlweisslingen etwa beobachte ich den Flug. Wenn der ganze Acker weiss von Schmetterlingen ist, dann weiss ich, dass da auch Eier gelegt werden und daraus demnächst Larven schlüpfen. Aber der Schlupf ist auch abhängig von den Nützlingen, die da auch noch sind und die ich hege und pflege. Agroscope hat einen guten Vorhersagedienst, der den Schädlingsbefall ankündigt.
Was steht Ihnen im Notfall zur Verfügung?
Natürliche Pyrethroide sind noch als Notfallmassnahme gegen Insekten erlaubt, Fungizide und Herbizide sind keine erlaubt. Da ist eine andere Denkart gefragt. Wir haben zum Beispiel bei Schnitt-Sonnenblumen das Risiko von Pilzbefall, also kalkulieren das Risiko mit und säen mehr Sonnenblumen: Wenn mal ein Satz befallen ist, so hoffen wir, dass der nächste Satz gesund bleibt und wir davon mehr verkaufen. Bisher ging das auf. Da der Demeter-Betrieb ausschliesslich im Freiland produziert, waren in den letzten Jahren Schäden vor allem wetterbedingt - wegen Hagel und Sturm. Dagegen kann man ohnehin nicht spritzen.
Wie sehen Ihre wirtschaftlichen Überlegungen aus?
Letztes Jahr hatte ich grosse Probleme im Weisskohl wegen Pilz-Erregern. Das ist bei uns eine Randkultur und darum überlege ich mir, nur noch Weisskohl zur Frischverarbeitung anzubauen und nicht mehr für die Lagerung. Denn ohne Kupfer kriege ich sie nicht gesund genug, dass sie gelagert werden könnten. Da braucht es bessere, resistentere Sorten. Früher hat man Sauerkraut gemacht und den Kohl so konserviert. Betriebswirtschaftlich gesehen ist klar: Es ist insgesamt alles etwas arbeitsaufwändiger und auch die Biopreise stehen ziemlich unter Druck. Ausserdem haben wir strenge Lieferantenvorgaben vom Handel. Aber für uns geht die Rechnung auf und wir zahlen vernüftige Schweizer Löhne nach Normvertrag. Die Personalkosten sind denn auch der grösste Kostenpunkt.
Sie schaffen es offenbar, den hohen ästhetischen und qualitativen Anforderungen der Grossverteiler und der KonsumentInnen zu genügen!
Ja, und unsere Ware wird nachgefragt und verkauft! Die Gesellschaft entscheidet schlussendlich, wieviel Schorf auf einem Apfel oder einer Kartoffel tolerierbar ist. Ich stelle diesbezüglich eine gewisse Lockerung fest, weil die Menschen von Pestiziden und dessen Risiko genug haben und bereit sind, ein klein wenig Schorf zu übersehen.
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[1] In der Definition im Pestizid-Reduktionsplan Schweiz (2016, S. 6) gilt Bt nicht als Pestizid sondern als nicht toxisches, für die Umwelt unproblematisches Pflanzenschutzmittel.
René Sgier
Broccoli-Jungpflanzen für die Saatgutproduktion einer schädlingsresistenten Sorte
Dass es ohne Pestizide geht, halten viele noch für eine Utopie. Hunderte von Bäuerinnen und Bauern in der Schweiz und weltweit beweisen jedoch täglich, dass auch ohne regelmässigen Gifteinsatz eine wirtschaftliche, produktive Landwirtschaft möglich ist. Einer pestizidbefreiten Schweizer Landwirtschaft zum Durchbruch zu verhelfen ist das ehrgeizige Ziel eines neuen Projektes von Vision Landwirtschaft. Eine grosse Zahl an Organisationen aus den Bereichen Landwirtschaft, Umwelt, Gesundheit und Konsum stehen hinter dieser Vision.
(VL) Fast wöchentlich berichten die Medien über irgend einen Skandal mit Pestiziden, über die fehlenden Kontrollen, das intransparente Zulassungsverfahren, vergiftete Bienenvölker, über den Grenzwerten mit Pestiziden belastete Gewässer, gesundheitliche Risiken. Die Landwirtschaft meldet sich jeweils umgehend zu Wort und verteidigt ihren Pestizideinsatz als leider weitgehend unumgänglich.
Das neue Projekt von Vision Landwirtschaft will dieses Reaktionsmuster durchbrechen. Unter den Pestiziden leiden nicht nur die Konsumenten und die Umwelt, sondern genau so auch die Landwirtschaft und die Bäuerinnen und Bauern selber. Der Umgang mit diesen Giften ist alles andere als ein Vergnügen. Alle paar Tage mit der Giftspritze ausrücken zu müssen im Wissen, damit die Umwelt und womöglich auch sich selber zu schädigen, ist für die, die das machen müssen, eine permanente Belastung. Kommt dazu, dass Pestizide je nach Kultur ein relativ grosser Ausgabeposten sind, auf den man als Bauernfamilie auch aus finanziellen Gründen gerne verzichten könnte.
Was nicht ist, kann nicht sein
Warum werden Pestizide dennoch durch dick und dünn verteidigt? Sie sind auf vielen Bauernbetrieben so zum Alltag geworden, dass sich die meisten Praktiker gar nicht mehr vorstellen können, dass es ohne auch ginge. Die Überzeugung der fehlenden Alternativen hat sich in der Landwirtschaft, der Beratung, bei den Behörden, ja selbst bei den meisten Wissenschaftern in den Köpfen festgesetzt.
Fakt ist: Es gibt zahlreiche Alternativen, sogar weit mehr als wir heute schon kennen und uns denken können. Die bekannten und noch zu entwickelnden Alternativen stehen im Zentrum des Projektes Pestizidbefreite Landwirtschaft. Die Agrarpolitik 2022+ bietet die grosse Chance, die Weichen in Richtung einer weitgehend pestizidfreien Landwirtschaft zu stellen. Was es dazu braucht, steht im Pestizid-Reduktionsplan Schweiz. Fast Dreissig namhafte Organisationen tragen die darin gestellten Forderungen mit.
Mit einfachen Massnahmen kann der Pestizideinsatz ohne wirtschaftliche Einbussen kurzfristig um über 50% gesenkt werden. Allein ein korrekter Vollzug des Ökologischen Leistungsnachweises und der gesetzlichen Vorgaben würde den heutigen Pestizideinsatz um schätzungsweise gut 20% reduzieren. Möglichst rasch sollen die gefährlichsten Gifte aus dem Verkehr gezogen werden. Mittelfristig soll die Schweizer Landwirtschaft ganz pestizidfrei werden, indem alle Alternativen zum Pestizideinsatz konsequent genutzt und weiterentwickelt werden.
Pestizide dank Steuergeldern
Der landwirtschaftliche Gifteinsatz ist heute nur wirtschaftlich, weil der Bund ihn jährlich mit Millionen von Franken an Steuergeldern unterstützt. So werden die Zulassungskosten weitgehend durch Steuergelder finanziert, die Kontrollen, das Monitoring und die unzähligen administrativen Aufwände übernimmt ebenfalls der Staat. Als ob das noch nicht genügen würde, geniessen Pestizide das Privileg eines massiv reduzierten Mehrwertsteuersatzes. Diese Förderungen des Pestizideinsatzes mit Steuergeldern widersprechen klar dem landwirtschaftlichen Verfassungsauftrag und fügen sowohl der Landwirtschaft wie der Umwelt Schaden zu.
Die Mehrheit der Bevölkerung macht sich zu Recht Sorgen. UmweltschützerInnen, Gewässerfachleute, FischerInnen, BiologInnen, Gesundheitsfachleute, kritische LandwirtInnen und unabhängige Agrarfachleute warnen vor den unabsehbaren Schäden des Pestizideinsatzes. Das Projekt «Pestizidfreie Schweizer Landwirtschaft» zeigt den Weg auf für eine neue Agrarpolitik. Damit geht die Schweiz auch international mutig voran. Die Zielsetzung des Pestizidprojektes ist realistisch und viele Massnahmen und Ideen sind im In- und Ausland bereits realisiert worden. Kein Land der Welt stellt seiner Landwirtschaft so viele Steuergelder zur Verfügung, um nachhaltig zu werden, wie die Schweiz. Damit ist unser Land prädestiniert, auf dem Weg hin zu einer pestizidbefreiten Landwirtschaft international voranzugehen.
Vision Landwirtschaft will die Chancen und konkreten Lösungsmöglichkeiten eines zunächst reduzierten Pestizideinsatzes und mittelfristig vollständigen Verzichts auf Pestizide aufzeigen und eng mit den Partnerorganisationen, mit Bauern, Behörden und dem Handel zusammenarbeiten. Die Stiftung Mercator Schweiz und andere Stiftungen sowie Spenden von Einzelpersonen ermöglichen das ehrgeizige Projekt. Einen zentralen Beitrag leisten auch die beiden Volksinitiativen «Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide» und die «Trinkwasserinitiative».
Werden Sie Teil der Bewegung für eine pestizidbefreite Landwirtschaft! Fragen Sie nach pestizidfrei produzierten Produkten und unterstützen Sie die Bemühungen, welche die Landwirtschaft vorwärts bringen. Werden Sie Mitglied bei Vision Landwirtschaft.
Was sind Pestizide, und was verstehen wir unter einer pestizidfreien Landwirtschaft?
In Übereinstimmung mit dem alltäglichen Sprachgebrauch verwenden wir Pestizid als Überbegriff für toxische chemische Substanzen, die in der Landwirtschaft, im öffentlichen Raum, im Gartenbau sowie in Privatgärten eingesetzt werden, um unerwünschte Tiere (Insektizide gegen Insekten, Rodentizide gegen Nager, Molluskizide gegen Schnecken etc.), Pflanzen (Herbizide) oder Pilze (Fungizide) abzutöten oder zu schädigen. Pestizide können synthetischen oder natürlichen Ursprungs sein (Definition gemäss Pestizid-Reduktionsplan Schweiz).
Weit über 90% der Pestizide, die in der Schweizer Landwirtschaft zum Einsatz kommen, werden in der konventionellen Produktion eingesetzt. Die fortschrittlichen Produktionssysteme der integrierten Produktion und des biologischen Landbaus sind zentrale Partner auf der Suche nach Lösungen für eine weitgehend pestizidfreie Nahrungsmittelproduktion.
Der Verzicht auf Pestizide ist für die Landwirtschaft eine grosse Herausforderung. Während für viele Kulturen bereits heute gute, praxistaugliche und ertragssichere Lösungen für einen pestizidfreien Anbau vorliegen, kommen Kulturen wie der Intensiv-Obstanbau derzeit noch nicht ohne den Einsatz von Pestiziden aus. Hier sind breit anwendbare Lösungen für einen Verzicht auf Pestizide in den nächsten Jahren erst zu entwickeln, beispielsweise mit der Einführung resistenter Sorten oder einer forcierten Nützlingsförderung.
Pestizide werden allerdings auch in Zukunft ihre Bedeutung wohl nie ganz verlieren. Sie sollen, ähnlich wie Medikamente in der Humanmedizin, in Notsituationen weiterhin zum Zuge kommen können, beispielsweise wenn ein neu eingewanderter Schädling ganze Kulturen zu zerstören droht und noch keine Erfahrungen mit alternativen Abwehrstrategien vorliegen.
PS: Das neueste Heft der Agrarforschung Schweiz widmet sich fast ausschliesslich den Pestiziden. Tamm et al. gehen in ihrem Artikel detailliert auf die Perspektiven und Herausforderungen einese weitgehenden Pestizidverzichtes ein und bestätigen die Machbarkeit, aber auch die teilweise noch ausstehenden Lösungen einer pestizidfreien Landwirtschaft.
Weihnachten steht vor der Tür – und Sie suchen einen ökologischen Weihnachtsbaum?
Auch bei den Weihnachtsbäumchen ist einheimisch nicht immer auch ökologisch. Doch es gibt mehr und mehr Produzenten, die sich um einen nachhaltigen Anbau bemühen und ganz oder auf einen Teil der Pestizide verzichten. Der Handel unterstützt diese Bemühungen: Vision Landwirtschaft hat zusammen mit Coop Richtlinien für einen Christbaumanbau mit einem reduzierten Chemieeinsatz erarbeitet. Auch Landi wendet seit diesem Jahr die Richtlinien an. Damit sorgen zwei der der grössten Anbieter für mehr Nachhaltigkeit in der Weihnachtsstube.
Christbäume kommen bei naturnaher Anbauweise ganz ohne Chemie aus. Doch nur rund 10% der Schweizer Bäume werden so umweltfreundlich angebaut. Das sind zum einen diejenigen, welche im Wald gezogen werden, beispielsweise von Forstbetrieben. Denn im Wald darf gemäss Forstgesetz kein Pestizid und kein Dünger eingesetzt werden. Dazu kommen die Tännchen von Biobetrieben, die in der Regel auch keine Pestizide einsetzen. Allerdings machen Biobäume nur einen verschwindend kleinen Teil des Marktes aus. Wieviel genau ist unbekannt, auf Nachfrage konnte BioSuisse nur wenige Produzenten nennen.
Schafe statt Chemie oder Maschinen
Und schliesslich gibt es weitere Produzenten, die erfolgreich auf Schafe setzen. Eine besondere Schafrasse, welche die Bäumchen verschmäht, frisst den Unterwuchs zwischen den Stämmchen kostengünstig ab, ohne dass es Unkrautvernichtungsmittel braucht. Alternativ kann das Gras um die Bäumchen auch maschinell entfernt werden, was aber oft aufwändig ist. Wer seine Tanne direkt beim Produzenten kauft, kann selbst feststellen, ob Gras unter den Bäumchen wächst. Wenn nicht, so kamen in der Regel problematische Herbizide zum Einsatz.
Ohne Chemie noch die Ausnahme
Das bedeutet: Etwa 9 von 10 Christbäumchen kommen in der Schweiz noch aus Kulturen, in welchen Pestizide eingesetzt werden. Was die Menge und Häufigkeit der eingesetzten Pestizide anbelangt, gibt es allerdings grosse Unterschiede von Produzent zu Produzent. Denn gesetzliche Regelungen existieren nur wenige, und diese werden so gut wie nicht kontrolliert und dementsprechend auch immer wieder nicht eingehalten.
Recherchen von Vision Landwirtshaft haben in der Tat gezeigt, dass viele vor allem kleinere, aber auch einige grössere Produzenten unnötig grosszügig Chemie einsetzen. Besonders problematisch ist das verbreitete flächige Abspritzen mit Herbiziden. Diese Kulturweise ist für die Umwelt in verschiedener Hinsicht ausgesprochen problematisch. Zum einen gelangen unnötig grosse Mengen an Giftstoffen in die Böden, darunter vor allem auch das umstrittene Glyphosat. Die flächig abgespritzten, komplett vegetationsfrei gehaltenen Böden sind bei Starkniederschlägen zudem stark erosionsgefährdet, was nicht nur zu einem Bodenverlust führt, sondern selbst bei kleineren Niederschlägen die Abschwemmungsgefahr der eingesetzten Pestizide in die Gewässer stark erhöht. Kommt dazu, dass der Herbizideinsatz auch für das Bodenleben äusserst schädlich ist. Glyphosat beispielsweise wirkt als starkes Antibiotikum und vernichtet damit die wichtigen Boden-Mikroorganismen. Und nicht zuletzt fördert ein jahrelanger Herbizideinsatz Resistenzen von Problemunkräutern, was zunehmend auch in der Schweiz ein Problem ist.
Der hohe Herbizideinsatz, zu dem teilweise noch Fungizide (Gifte gegen Pilze) und Insektizide (Gifte gegen Insekten) hinzukommen, ist besonders unschön, weil es gute Alternativen gäbe.
Coop geht voran
Mit diesen Argumenten konnte Vision Landwirtschaft vor 2 Jahren Coop überzeugen. Zusammen mit der Denkwerkstatt hat der grösste Abnehmer von Schweizer Weihnachtsbäumchen Richtlinien für einen nachhaltigen Anbau erlassen, die auf den gut praktizierbaren Alternativen zum Pestizideinsatz aufbaut. Alle Schweizer Lieferanten von Coop halten verbindlich diese Vorgaben ein. Coop lässt dabei auch Kontrollen durchführen. Das flächige Abspritzen mit Herbiziden ist weitgehend untersagt, und auch der Einsatz von Fungiziden und Insektiziden wird eingeschränkt.
Auch wenn die Coop-Richtlinie einen Kompromiss darstellt: Immerhin wird dadurch der schädlichste Teil des Pestizideinsatzes gegenüber dem gesetzlich Zulässigen um schätzungsweise mehr als die Hälfte reduziert. Landi hat diese Richtlinie für ihre Lieferanten übernommen.
Ein M schlechter
Die Migros dagegen, der dritte grosse Anbieter von Christbäumen aus der Schweiz, vermarktet weiterhin auch Schweizer Christbäume aus problematischen Kulturen. Gemäss Nachfrage von Vision Landwirtschaft kennt der Grossverteiler die Coop-Richtlinie nicht. Er verweist auf die ÖLN-Richtlinien des Bundes. Dass diese praktisch keinerlei Einschränkungen machen und auch mehrmals jährliches flächiges Abspritzen mit Glyphosat und anderen Herbiziden tolerieren, nimmt der Grossverteiler in Kauf. Kommt dazu, dass selbst die wenigen bestehenden ÖLN-Vorschriften betreffend Mittelwahl, Abstandsregelungen, Schadschwellenerhebung bei Insektizideinsatz etc. so gut wie nie kontrolliert werden. Auch Migros führt keine solchen Kontrollen durch.
Wie komme ich zum grünen Weihnachtsbaum?
Schweizer Weihnachtsbäume sind eine gute Wahl – aber nur dann, wenn sie einigermassen ökologisch produziert wurden:
- Ganz pestizidfrei und damit in Bezug auf die Umwelt ohne Makel sind alle Bäumchen aus Forstflächen im Wald.
- Auch Biobäumchen sind sehr ökologisch.
- Bei Coop und Landi haben Sie Gewissheit, dass bei den angebotenen Bäumchen aus der Schweiz der Pestizideinsatz reduziert und weitere Mindestanforderungen zugunsten eines nachhaltigen Anbaus eingehalten werden.
- Bei den übrigen Anbietern ist es schwierig, die Spreu vom Weizen zu trennen. Fragen Sie im Zweifelsfalle beim Verkäufer nach, beispielsweise ob die Kultur begrünt ist.
Zukunftsmusik: Nur noch grüne Schweizer Weihnachtsbäume
Rund 50% der hierzulande verkauften Weihnachtsbäumchen stammen heute aus der Schweiz, Tendenz zunehmend. Um diesen Trend hin zu mehr regionaler Produktion zu unterstützen, setzt sich Vision Landwirtschaft für einen gesamtschweizerisch ökologischeren und mittelfristig pestizidfreien Anbau ein. Der Konsument will einen grünen, nachhaltig produzierten Weihnachtsbaum. Wenn er weiss, dass Schweizer Herkunft gleichbedeutend mit ökologisch ist, wird er auch zunehmend bereit sein, den höheren Schweizer Preis zu zahlen.
PS: Es gibt auch Alternativen zum traditionellen Weihnachtstännchen, beispielsweise Topfbäumchen oder wiederverwertbare Kunststofftännchen. In vielen Fällen dürfte ihre Ökobilanz jedoch schlechter ausfallen als bei den "richtigen" Tännchen aus nachhaltiger Produktion.
Herausforderung nachhaltiger Christbaumanbau im Bild
Einer, der sich mit grossem Engagement für einen reduzierten Pestizideinsatz im Christbaumanbau einsetzt, ist Stefan Oberholzer aus dem Toggenburg, einer der grösseren Produzenten der Schweiz. Auf seinem Hof Bubental hat er schon viele Varianten ausprobiert, um dem Grasbewuchs ohne Herbizide in Grenzen zu halten. Dabei kommen Rindenmulch oder Holzwollevliese, aber auch spezielle Mulchgeräte zum Einsatz. Oberholzer ist Präsident der IG Christbaum und versucht seit vielen Jahren, seine Kollegen von einer nachhaltigen Produktionsweise zu überzeugen. www.bubental.ch
So sollte es dagegen nicht aussehen: Diese Christbaumkulturen werden mehrmals im Jahr flächig mit Herbiziden wie Glyphosat abgespritzt (links). Die Folgen sind offener Boden, Abschwemmung der Pestizide in die Gewässer, Bodenerosion (Mitte) und fehlende Nützlinge, die wiederum weitere Pestizide nötig machen (rechts).
Das Anliegen trifft einen Nerv in der Bevölkerung: Für ihre Trinkwasserinitiative hat Franziska Herren mit einem kleinen Team und praktisch ohne Unterstützung grösserer Organisationen in kürzester Zeit über 100'000 Unterschriften gesammelt. Kaum jemand hätte das für möglich gehalten. Bereits Mitte Januar sollen die Unterschriftenbögen im Bundeshaus eingereicht werden. Die Initiative hat es in sich.
Geld soll es gemäss Initiativtext nur noch geben für Landwirtschaftsbetriebe, die keine Pestizide mehr in die Umwelt ausbringen, ihre Tiere mit eigenem Futter ernähren und nicht mehr prophylaktisch Antibiotika einsetzen. Die Trinkwasserinitiative verbietet damit nichts, will aber die öffentlichen Gelder anders lenken und die Agrarpolitik mit diesen drei grundlegenden Hebeln auf einfache Art zwingen, das zu tun, was sie seit Jahrzehnten verspricht aber nicht hält – nämlich mit öffentlichen Geldern eine Landwirtschaft zu fördern, welche ihre eigenen Lebensgrundlagen erhält.
Kaum eine andere Initiative hat in einem so frühen Stadium so viel Medienecho ausgelöst wie die Trinkwasserinitiative. In Online-Umfragen erhält sie rekordhohe Zustimmungsraten. Und wer die Online-Kommentare zu den Medienbeiträgen liest, bekommt definitiv den Eindruck, dass der Unmut über die heutige Agrarpolitik sich bereits tief in die Bevölkerung eingefressen hat.
Vision Landwirtschaft unterstützt die Anliegen der Initiative, auch wenn viele Fragen zu ihren Auswirkungen und zu ihrer konkreten Umsetzung noch offen sind. Beispielsweise wieviele Betriebe wieviel anpassen müssten, was die Auswirkungen auf die Produktion, die Ernährungssicherheit oder zusätzliche Importe sind, oder welche Bedeutung die Initiative auf die Konsumentenpreise hätte.
Solche Fragen zu klären ist für eine sachliche Diskussion unumgänglich. Vision Landwirtschaft will mit eigenen Recherchen aktiv dazu beitragen. Wir erachten die Initiative als äusserst wichtig. Sie erzeugt den nötigen Druck, dass sich die Agrarreform 2022 in die auch von VL angestrebte Richtung bewegt. Denn die Debatte zur Trinkwasserinitiative wird genau in der Zeit geführt werden, in der die AP 22+ in Verwaltung und Parlament ausgearbeitet wird. Die AP 22+ wird dadurch zwangsläufig zum Gegenvorschlag zur Initiative – ob sie es will oder nicht. Wenn in der AP 22+ nicht weitgehende Schritte in Richtung mehr Ökologie, zu einem effizienteren Mitteleinsatz, für eine bessere Unterstützung der kleineren, vielfältigen Betriebe und zu einer nachhaltigeren, besser an der Wertschöpfung und Qualität orientierten Produktion getan werden, ist das direkt Wasser auf die Mühle der Initiative.
Hinter der Intiative steht mit Franziska Herren eine Einzelperson, die für ihre Überzeugung einen enormen Einsatz leistet. Was sind ihre Überlegungen und Motive? Diese kommen in einem ausführlichen Interview im "Schweizer Bauer" zur Sprache. Franziska Herren handelt als besorgte Bürgerin, die nicht mehr bereit ist, eine umweltzerstörende Landwirtschaft mit Milliarden an Steuergeldern weiter in Richtung Industrialisierung zu pushen. Sie spricht damit offensichtlich sehr vielen Konsumenten und Bürgerinnen aus dem Herzen. >> Zum Interview im "Schweizer Bauer" (pdf-Download)
Ernährungssicherheit wird nicht durch einen möglichst hohen Selbstversorgungsgrad gewährleistet. Die Schweizer Landwirtschaft produziert heute so intensiv, dass sie in hohem Ausmass von Importen aus dem Ausland abhängig geworden ist. Die Entwicklung bringt nicht nur wirtschaftlich wenig Erfolg, sondern zerstört zunehmend die wichtigste Basis der Ernährungssicherheit.
(VL) Mehr als drei Viertel der Stimmenden haben am 24. September Ja zu mehr "Ernährungssicherheit" gesagt. Es war eine jener seltenen Vorlagen ohne Gegner. Das lag auch daran, dass verschiedene Interessegruppen sehr Unterschiedliches in den Verfassungstext hineindeuteten.
Soviel darf man dennoch aus dem Abstimmungsresultat lesen: Ernährungssicherheit ist der Bevölkerung ein Anliegen. Allerdings war die eigentlich zentrale Frage, was Ernährungssicherheit denn konkret heisst, so gut wie kein Thema. Diese Diskussion wird in den kommenden Jahren noch zu führen sein.
Ernährungssicherheit bedeutet, dass sich ein Land (oder die Menschheit) auch in Krisenzeiten ernähren kann. Welche Landwirtschaft brauchen wir, damit diese zentrale Leistung tatsächlich gelingt?
In einigen agroindustrienahen Kreisen bis hinauf zum Schweizer Landwirtschaftsminister wird Ernährungssicherheit mit einem möglichst hohen „Selbstversorgungsgrad“ und einer möglichst hohen Produktion gleichgesetzt. Es braucht keine eingehende Analyse um zu erkennen, dass diese Meinung schlicht Humbug ist.
Irreführende Berechnung des Selbstversorgungsgrades
Der Selbstversorgungsgrad der Schweiz mit Nahrungsmitteln ist seit vielen Jahren stabil und wird mit rund 60% angegeben. Seit Vision Landwirtschaft die enormen Futtermittelimporte in die breite Diskussion brachte, gibt der Bund jeweils auch den Netto-Selbstversorgungsgrad an. Dieser bezieht die mittlerweile weit über 1 Mio Tonnen Futtermittel mit ein, die wir zur Fütterung unserer stark überhöhten Tierbestände jährlich importieren. Dadurch sinkt der Selbstversorgungsgrad auf unter 55%.
Doch die Rechnung ist damit noch keineswegs komplett. Warum werden all die anderen Importe, welche die Schweizer Landwirtschaft für ihre Produktion aus dem Ausland einführt, nicht einbezogen? Allen voran die Energieimporte: Pro produzierte Nahrungsmittelkalorie verbraucht die hiesige Landwirtschaft gut zwei Energiekalorien aus dem Ausland – eine Energiebilanz, die schlechter ist als in den meisten umliegenden Ländern. So gesehen haben wir in der Schweiz also gar keine produzierende Landwirtschaft mehr, sondern eine konsumierende – und quasi einen negativen Selbstversorgungsgrad.
Dazu kommen Kunstdünger, Pestizide, Tierarzneimittel, der Grossteil all der Maschinen und Hilfsgeräte, von deren permanentem Import unsere Landwirtschaft wie eine Suchtkranke ebenfalls hochgradig abhängig vom Ausland ist und die unsere Ernährungssicherheit in Krisenzeiten noch weiter in Frage stellen. Dabei zerstören die permanenten Inputs zunehmend unsere wichtigsten Ressourcen für die Nahrungsmittelproduktion, nämlich die Bodenfruchtbarkeit und gesunde, robuste Ökosysteme. So ziehen wir der Landwirtschaft mit der immer weiter hochgedopten Produktion quasi den Boden unter den Füssen weg. Dies zeigt: Die Höhe des – bisher reichlich willkürlich berechneten – Selbstversorgungsgrades ist völlig ungeeignet ist, um die Ernährungssicherheit objektiv zu bewerten.
Importabhängige Landwirtschaft: Profite für Industrie und Handel statt Bäuerinnen und Bauern
Die enorme Input-Abhängigkeit führt im übrigen auch wirtschaftlich in ein Desaster. Weil die Schweizer Landwirtschaft dermassen viel für all ihre Vorleistungen ausgibt, verdient sie seit 2012 aus der Produktion, ihrem Kerngeschäft, keinen Rappen mehr – trotz beträchtlichem Grenzschutz. Was den Bäuerinnen und Bauern unter dem Strich an Einkommen bleibt, sind gerade noch knapp die staatlichen Direktzahlungen. Eine Landwirtschaft, die mehr Ausgaben als Einnahmen generiert, kann kaum als krisensicher bezeichnet werden.
Ja für eine Weichenstellung Richtung nachhaltiger Landwirtschaft
Das Ja zur Ernährungssicherheit kann aus sachlicher Warte also nur als ein Ja verstanden werden für eine Entziehungskur von all den Inputs, mit denen wir die landwirtschaftliche Produktion hochgedopt und damit immer teuer, abhängiger, ineffizienter und umweltschädlicher gemacht haben. Weitere Volksabstimmungen, allen voran die Trinkwasserinitiative, werden in den kommenden Jahren den gesellschaftlichen Druck noch erhöhen, dass die Weichen in Richtung eines wieder nachhaltigen, auf die eigenen Ressourcen bauenden Ernährungssystems gestellt werden.
PS: Gibt es Auswege aus der Intenvisierungssackgasse? Es ist noch längst nicht Hopfen und Malz verloren. Vielmehr liesse sich die Produktionseffizienz mit verfügbaren Lösungen massiv verbessern und damit der Selbsternährungsgrad auf ein im Hinblick auf Krisenzeiten vertretbares Mass erhöhen. Dies zeigte eine Studie von Vision Landwirtschaft kürzlich auf. Allein das enorm ineffiziente Verfüttern von Kraftfutter an Milchkühe vernichtet in der Schweiz Nahrungsmittel für rund 2 Mio Menschen. Zwei weitere, enorm wirksame Hebel wären eine Reduktion des Fleischkonsums auf einen Drittel – also den Wert, welcher die WHO aus gesundheitlichen Gründen empfiehlt – und die Vermeidung von Foodwaste, bei welchem derzeit über ein Drittel der Nahrungsmittel zwischen Feld und Teller verloren gehen. Vision Landwirtschaft setzt sich mit verschiedenen praxisnahen Projekten für eine ernährungssicherere, effizientere und wirtschaftlichere Nahrungsmittelproduktion ein.
(VL) Die misshandelten Tiere auf dem Bauernhof im thurgauischen Hefenhofen haben schweizweit Empörung ausgelöst. Der Fall hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Denn er macht deutlich, dass oft erst dann gehandelt, wenn der öffentliche Druck zu gross wird – selbst im Tierschutzbereich, wo der Vollzug noch am besten funktioniert. Das Wegschauen beim Gesetzesvollzug hat im Schweizer Landwirtschaftssystem Tradition. Das ist Gift für sein höchstes Gut: Das Vertrauen der Konsumenten und Steuerzahler.
Wenn das Tierwohl auf dem Spiel steht, reagiert die Schweizer Öffentlichkeit sensibel. Die Tageszeitungen berichten seit Tagen seitenweise über den Fall aus dem Thurgau und bringen laufend weitere Details ans Tageslicht, welche die Empörung weiter anfachen. Nach und nach wurde auch klar, dass eine lange Reihe von zuständigen Amtsstellen, Gemeindebeamten, Lieferanten, Kunden, Nachbarn von den Zuständen auf dem Bauernhof gewusst und viele Jahre einfach weggeschaut statt gehandelt hatten. Der nach dem Auffliegen des Skandals rasch hinter Gitter gebrachte Landwirt „Ulrich K.“ war nur das letzte Glied einer langen Kette von indirekt und direkt Mitwirkenden, eine Art Bauernopfer einer Wegschaukultur.
Dabei ist das Tierwohl der weitaus am konsequentesten vollzogene Bereich der Agrargesetzgebung. Den Behörden ist bewusst: Wenn hier etwas krumm läuft, dann gehen die Wogen in der Öffentlichkeit unweigerlich hoch. Dass ein Fall Hefenhofen passieren konnte, ist vor diesem Hintergrund eigentlich erstaunlich und zeigt, dass das Wegschauen selbst in einem so sensiblen, emotionalen Vollzugsbereich immer wieder vorkommt.
In anderen Bereichen, welche dem Grossteil der Bevölkerung weniger naheliegen, hat sich dagegen das Wegschauen systematisch ins Agrarsystem hineingefressen. Gerade im Umweltbereich sind nicht geahndete oder gar aktiv von Behördenseite gedeckte Verstösse an der Tagesordnung.
Beispiel Ammoniak
Letzteres passiert beispielsweise bei den Ammoniakemissionen im Kanton Luzern. Dort ist der Tierbestand als Folge einer behördenseits lange aktiv geförderten „inneren Aufstockung“ mit Schweinen und Hühnern und enormen Futtermittelimporten besonders hoch – so hoch, dass die Grenzwerte, die sogenannten „critical loads“, bei den Ammoniakemissionen aus der Tierhaltung seit vielen Jahren fast flächendeckend um ein Vielfaches überschritten werden. Dies wiederspricht sowohl internationalen Vereinbarungen wie Bundesrecht, weil dadurch empfindlichere Ökosysteme wie Wälder oder Moore nachhaltig geschädigt werden. Der Luzerner Regierungsrat hat die Situation anerkannt und 2007 festgelegt, dass bei Stallneu- und -umbauten die Emissionen gegenüber dem Ausgangszustand im Jahre 2000 um 20% zu reduzieren sind – eine schweizweit vorbildliche Regelung.
Doch die Vollzugsbehörde kümmert sich einen Deut um diesen Entscheid. Im grossen Stil werden laufend Aus- und Neubauten von Schweine- und Hühnerställen bewilligt. Bei den Gesuchen berechnet nicht etwa der Gesuchsteller, sondern die kantonale Dienststelle selber die Emissionsfolgen des Vorhabens. Dabei kommen alle erdenklichen Tricks zur Anwendung. Die Emissionsbilanz wird so lange geschönt, bis auf dem Papier die regierungsrätlich verordnete Emissionsreduktion von 20% resultiert. Selbst wenn Betriebe ihren Tierbestand verdoppeln, schafft es die kantonale Berechnung, die ominöse Reduktion von 20% hinzubiegen. Wie von Zauberhand gelingt dies selbst ohne heute verfügbare – aber wirtschaftlich wenig attraktive – technische Massnahmen zur Abluftreinigung. Wie diese Tricks funktionieren, ist im Kästchen unten in aller Kürze nachzulesen.
Die Schummeleien sind bisher vom Wegschauen gut geschützt worden. Keine Zeitung hat bisher je darüber berichtet, und auch unzählige Involvierte in Politik und Amtsstuben kennen die seinerzeit von der Branche erfundene Trickserei seit Jahren und schauen weg. Derweil steigt der Tierbestand im Luzernischen munter weiter an, und mit ihm bleibt die offiziell angestrebte Reduktion der enormen Ammoniakreduktion weiterhin frommer Wunsch der Politik, von dem alle wissen, dass er nie erreicht werden wird.
Beispiel Gewässerschutz
Ein Bereich mit gravierenden Vollzugsmängeln ist der Gewässerschutz. Pro Natura hat bei umfangreichen Erhebungen in verschiedenen Kantonen der Ostschweiz und der Romandie festgestellt, dass beim Ausbringen von Dünger in weit über der Hälfte der untersuchten Fälle die Gewässerabstände nicht eingehalten worden sind. Zwar hat Pro Natura mit ihrer Untersuchung einige Medienbeiträge ausgelöst, doch die Empörung ist rasch verraucht, und das systematische Wegschauen hat offensichtlich rasch wieder Fuss gefasst. Seitens der Behörden sind bisher keinerlei Aktivitäten bekannt geworden, mit denen das Problem angegangen worden wäre.
Wildwuchs bei den Pestiziden
Ein beunruhigendes Beispiel für einen praktisch inexistenten Vollzug ist der landwirtschaftliche Pestizideinsatz. Bei Recherchen für den Pestizid-Reduktionsplan Schweiz hat Vision Landwirtschaft Stichprobenkontrollen durchführen lassen, um zu erfahren, wie der Pestizideinsatz in der Schweiz kontrolliert und die gesetzlichen Vorgaben umgesetzt werden. Fazit: Wichtige Anforderungen im ökologischen Leistungsnachweis ÖLN sind toter Buchstabe. Würde der ÖLN korrekt vollzogen, dürfte allein dadurch der Pestizideinsatz in der Schweiz um rund 20% zurückgehen. Darüber hinaus sind Verstösse beim Pestizideinsatz gegen die Umweltgesetzgebung in manchen Regionen an der Tagesordnung. Die Einhaltung der Abstände zu Gewässern oder Strassen wird in vielen Kantonen nie kontrolliert und entsprechend oft nicht eingehalten. In einem Fall musste sogar eine Landwirtschaftsschule auf einen Verstoss auf dem Schulbetrieb hingewiesen werden – entlang einem Hauptweg direkt vor dem Fenster der Schulzimmer.
Besonders eklatant war die Situation im Walliser Rebbau. In den untersuchten Perimetern konnte nicht ein Fall gefunden werden, wo die Abstände der Helikopter-Sprühfluglinien zu Strassen, Gehölzen oder Gewässern eingehalten wurden. Meist fehlten die Abstände komplett. Dies, obwohl die Situation aufgrund der Markierungen der Fluglinien im Feld für alle jederzeit sichtbar sind. Ebenso systematisch werden Grenzabstände beim Herbizideinsatz vom Boden aus missachtet. Selbst das Überspritzen von Gewässern mit Pestiziden vom Helikopter oder vom Boden aus ist im Wallis gang und gäbe. All diese offen vor Augen liegenden, krassen Gesetzesverstösse wurden nicht einmal von den örlichen Umweltorganisationen thematisiert.
Vision Landwirtschaft hat die zuständigen Ämter bei Bund und Kanton umgehend auf die gravierenden, im Detail protokollierten Verstösse aufmerksam gemacht (Bericht auf Anfrage). Das war bereits 2013. Doch seither haben weder die Bundesämter noch das Walliser Landwirtschaftsamt etwas unternommen. Schliesslich griffen der Kassensturz und der Sonntagsblick im vergangenen Juni den Walliser Pestizidskandal auf und berichteten ausführlich darüber. Erst der Medienrummel brachte die Behörden in Bewegung. Doch der Schaden ist längst angerichtet. Das Image des Walliser Weins dürfte als Folge des behördlichen Versagens nachhaltig gelitten haben.
Behörden als Teil des Systems
Die Behörden schauen allerdings nicht einfach aus Faulheit oder Gleichgültigkeit aktiv weg. Treibende Kraft ist meist ein massiver Druck aus der Branche, die eng mit den bäuerlichen Medien zusammenarbeitet. Wird ein Beamter oder ein Amt aktiv und geht Verstössen nach, kürzt Direktzahlungen oder vereitelt eine Bewilligung, werden die betreffenden Personen beispielsweise telefonisch bearbeitet oder an Sitzungen vorgeladen, die oft Verhören gleichen. Oder dem betreffenden Amt wird angedrocht, mit Vorstössen im Kantonsparlament das Budget zu kürzen. In anderen Fällen werden die Beamten öffentlich in den Bauernmedien durch den Dreck gezogen. So ist es auch dem Tierarzt im Thurgau gegangen, als er schon vor Jahren bei einem Tierschutzfall aktiv werden wollte.
Die Kultur des Wegschauens, die sich tief im Agrarsystem festgebissen hat, dürfte eine der grössten Schwächen in der Schweizer Agrarpolitik sein. In etlichen Bereichen ist der landwirtschaftliche Gesetzesvollzug dadurch faktisch inexistent - wenn auch mit grossen Unterschieden von Kanton zu Kanton.
Nur mit einer Kultur der Transparenz, des kritischen Hinschauens und der konstruktiven Weiterentwicklung kann die Landwirtschaft das hohe Vertrauen, das sie auch heute in der Öffentlichkeit noch geniessen dürfte, in die Zukunft bewahren. Einen guten Ruf aufzubauen ist jahrzehntelange Schwerarbeit, ihn zu zerstören reichen ein paar wenige Skandale. Deshalb setzt sich Vision Landwirtschaft trotz immer wieder massivem Gegenwind für das aktive Hinschauen und einen effizienten, konsequenten Gesetzesvollzug ein.
Kästchen: Die Luzerner Ammoniak-Trickkiste
Der wichtigste Trick funktioniert so: Zur Abschätzung der Ammoniakemissionen dient ein Berechnungsmodell. Das für die Bewilligung zuständige Amt berechnet damit die Differenz zwischen den Ammoniakemissionen auf dem betreffenden Betrieb im Bezugsjahr 2000 und den neu zu erwartenden Emissionen. Diese Differenz muss gemäss Regierungsratsbeschluss mindestens einer Abnahme von 20% entsprechen, damit ein Gesuch bewilligungsfähig ist.
Nun werden aber für das Jahr 2000 nicht die realen damaligen Emissionen zugrunde gelegt, sondern die theoretisch damals maximal möglichen, die in der Regel massiv höher sind als sie in der Realität waren. Auch wenn der Betrieb damals schon – z.B. von der öffentlichen Hand mitfinanzierte – Reduktionsmassnahmen realisiert hatte, werden diese also aus der Berechnung ausgeklammert. Zudem wird nicht der damalige Tierbesatz als Referenz gewählt, sondern der aktuell auf dem Betrieb vorhandene, welcher in der Regel in der Zwischenzeit stark aufgestockt wurde. Mit diesem Rechnungskniff lässt sich praktisch bei jeder Aufstockung auf dem Papier die für eine Baubewilligung nötige 20%ige Ammoniakreduktion herzaubern.
Wenn es trotzdem einmal nicht aufgehen sollte, kommen weitere Tricks zur Anwendung, beispielsweise indem Betriebsgemeinschaften gebildet werden, womit die Emissionen auf dem Papier über eine grössere Fläche verteilt werden können. Bezeichnend im Luzerner System ist, dass derjenige Beamte, welcher die Berechnungen für den Betrieb durchführt, bei der Baugesuchseingabe die eigenen Berechnungen dann gleich selber überprüft.
Die Hälfte der Schweizer Fleischproduktion basiert auf importierten Futtermitteln. Bei „Schweizer“ Poulets sind es gar über 70%. Die Konsumenten werden darüber im Dunkeln gelassen. Das Nachsehen haben diejenigen Produzenten, die tatsächlich Schweizer Fleisch produzieren. Und die Umwelt. Vision Landwirtschaft hat sich in den vergangenen Monaten intensiv mit dem Thema befasst und fordert die Politik zum Handeln auf.
(VL) Die Futtermittelimporte in die Schweiz haben riesige Dimensionen angenommen. Vor sechs Jahren wurde die Millionen-Tonnen-Grenze geknackt. Eine Million Tonnen pro Jahr: Das entspricht dem Transportgut einer Lastwagenkolonne, die vier Mal so lang ist wie die Strecke zwischen Boden- und Genfersee. Und laufend nehmen die Mengen weiter zu (Abb. 1). 1,5 Milliarden Franken geben die Schweizer Bauern heute jedes Jahr für zugekaufte Futtermittel aus, im Durchschnitt fast 30'000 Franken pro Hof. In einem durchschnittlichen "Schweizer Poulet" oder "Schweizer Ei" steckt heute über 70% Importfutter, vor allem aus Brasilien. Über alle Fleischsorgen gerechnet liegt der Importfutteranteil bei rund 50%. Mit einheimischer, standortgerechter Landwirtschaft hat das nichts mehr zu tun, dafür umso mehr mit einer ausufernden Veredelungsindustrie, die sich auf billigem Kulturland breitmacht.
Land grabbing nach Schweizer Art
Die Schweiz hat längst ein Problem mit ihren viel zu hohen Tierbeständen. Um diese füttern zu können, „bewirtschaftet“ sie im Ausland eine Ackerfläche, die grösser ist als die gesamte Ackerfläche im Inland. Das ist unethisch und äusserst umweltbelastend.
Unethisch, weil so den Bauern, welche die Futtermittel produzieren, ein grosser Teil ihrer Wertschöpfung genommen wird. Denn die Tiermast bringt viel mehr ein als der Anbau des Futters. Zudem wird in den Herkunftsländern wertvolles Ackerland für die Produktion von Tierfutter statt für die menschliche Ernährung verbraucht.
Umweltbelastend, weil die Nährstoffkreisläufe im grossen Stil unterbrochen werden, wenn die Tiere nicht mehr dort gehalten werden, wo ihr Futter wächst. Das schafft vielfältige und gravierende Umweltschäden, in der Schweiz wie in den Futtermittel-Herkunftsländern (>> Kästchen).
Aber auch wirtschaftlich geht die Rechnung nicht auf. Oder besser gesagt: Sie geht nur dank staatlicher Intervention auf. Mittels hoher Zölle schützt der Bund die inländische Fleischproduktion so stark, dass sich eine an sich unwirtschaftliche Produktionsweise auf der Basis von Futtermittelimporten rentiert. Die Zeche zahlt der Konsument mit den höheren Fleischpreisen (sofern er das Fleisch noch in der Schweiz kauft).
Risikobehafteter Stallbauboom
Der ausufernde Futtermitteltourismus hat zu einem Stallbauboom geführt. Hunderte von Hektaren wertvolles Kulturland gehen so für eine bodenunabhängige Tierindustrie verloren – das Gegenteil von Ernährungssicherheit.
Doch das ist nicht das einzige Problem für die einheimische Landwirtschaft. Zwar lässt sich derzeit mit der Importfutterveredelung reichlich Geld verdienen. Doch das Risiko ist gross. Würde der Grenzschutz – den die Schweiz nur begrenzt steuern kann – aufgehoben, würden der Futtermitteltourismus und die überhöhten Tierbestände aus rein wirtschaftlichen Gründen auf einen Schlag zusammenbrechen. All die Milliarden, welche in die neuen Ställe investiert wurden – nicht selten mit staatlichen Investitionshilfen -, könnten nicht mehr amortisiert werden. Tausende von Tiermasthallen würden in der offenen Landschaft plötzlich leer oder halbleer dastehen, Hunderte von Landwirtschaftsbetriebe müssten Konkurs anmelden.
Politik muss handeln
Bisher hat die Politik sich geweigert, auf die Entwicklung zu reagieren, trotz Vorstössen im Parlament und wiederholter Berichte in den Medien. Stallbaugesuche werden von den meisten Kantonen noch immer standardmässig durchgewunken. Die Baugesuche werden von Vertretern der Futtermittelindustrie, der Grossverteiler oder des Bauernverbandes für interessierte Bauern nicht selten kostenlos erstellt oder diesen gar aufgedrängt. Die Experten der Industrie kennen die vielen Tricks, mit denen fast jedes Stallbauvorhaben irgendwie mit der geltenden, sehr löchrigen Gesetzgebung in Einklang gebracht werden kann.
Vision Landwirtschaft setzt sich seit 2014 mit Grundlagenstudien, Medien- und Politikarbeit für eine Kursänderung ein. Eine Grenzöffnung im Fleischbereich könnte schneller kommen als erwartet. Sie würde das Problem zwar auf einen Schlag weitgehend „lösen“ – aber auch viel zerstören.
Vision Landwirtschaft plädiert deshalb für eine vorausschauende Politik, die auf folgenden Säulen beruht:
Keine Bewilligung von Ställen mit zusätzlichen Tierkapazitäten im Landwirtschaftsgebiet (>> Mediendokumentation)
Mittels agrarpolitischer Anreize sind die Tierbestände in den nächsten 10 Jahren wieder auf ein standortverträgliches Niveau zu bringen und die Futtermittelimporte unter 200'000 Tonnen pro Jahr zu senken.
Keine Subventionen mehr für Tierbestände, welche über die betriebliche Futterbasis hinaus gehalten werden. Denn Futtermittelveredelung ist eine industrielle Tätigkeit und hat nichts mit Landwirtschaft zu tun.
Einführung einer transparenten Deklaration von tierischen Produkten. Wo der Importfutteranteil mehr als 20% beträgt, ist dies zu deklarieren. Die Konsumenten sollen wissen, wann sie tatsächliches Schweizer Fleisch kaufen.
Um die Nährstoffkreisläufe zu schliessen, soll die Fleischproduktion dort erfolgen, wo das Futter für die Tiere wächst. Importiert die Schweiz weniger Futtermittel, muss sie - sofern der gegenwärtig zu hohe Fleischkonsum gleich bleibt - mehr Fleisch importieren. Doch es sind nicht nur Schweizer Bauern, die tiergerecht produzieren können. Migros hat das Versprechen abgegeben, ab 2020 nur noch Fleisch nach Schweizer Produktionsstandard zu importieren. Solange wir mehr Fleisch konsumieren, als auf dem eigenen Boden produziert werden kann, ist das die einzige einigermassen nachhaltige Lösung.
Der Anteil an Schweizer Weihnachtsbäumen nimmt zu. Doch Schweizer Herkunft ist nicht immer auch eine ökologische Produktion. Ein Projekt von Vision Landwirtschaft und Coop zeigt, wie sich beides verbinden lässt.
(VL) Hunderttausende von Weihnachtsbäumchen finden in diesen Tagen wieder den Weg in die Schweizer Stuben. Doch bereits wenn die Tännchen auf den Märkten angeboten werden, haben sie oft einen weiten Weg hinter sich. Ein Grossteil stammt aus dem Ausland – vor allem Deutschland und Dänemark. Aber der Anteil, der in der Schweiz produziert wird, hat in den letzten Jahren stetig zugenommen und beträgt heute fast 50%. Das ist erfreulich, denn dies schafft Wertschöpfung in der heimischen Land- und Forstwirtschaft und verringert die Transportwege. Zudem können Christbäume naturnah und nachhaltig angebaut werden und tun damit auch der Umwelt einen Gefallen.
Allerdings trifft diese Feststellung längst nicht für alle in der Schweiz produzierten Christbäume zu. Im Zusammenhang mit dem Pestizid-Reduktionsplan Schweiz hat Vision Landwirtschaft 2014 in einigen Testregionen Erhebungen zur Anbaupraxis in der Schweiz gemacht. Dabei kam auf den meisten Flächen im Landwirtschaftsgebiet ein hoher, oft nicht gesetzeskonformer Pestizideinsatz zum Vorschein.
Gute Alternativen vorhanden
Vor allem der Herbizideinsatz ist bei vielen Christbaumkulturen ein Problem. Diese werden oft mehrmals im Jahr ganzflächig mit Unkrautvernichtern abgespritzt. Dabei kommen das umstrittene Glyphosat und andere giftige Herbizide zum Einsatz. Auf dem vegetationsfreien Boden ist die Gefahr der Abschwemmung in die Oberflächengewässer und die Versickerung ins Grundwasser besonders gross. Kommt dazu, dass in mehr als der Hälfte der begutachteten Flächen der nötige Abstand des Gifteinsatzes zu Gewässern, Wegen, Gehölzen nicht eingehalten wurde.
Der festgestellte hohe Herbizideinsatz, zu denen teilweise noch Fungizide (Gifte gegen Pilze) und Insektizide (Gifte gegen Insekten) dazukommen, ist besonders unschön, weil es gute Alternativen gäbe. Ein Beispiel: Einige Produzenten setzen erfolgreich auf Schafe, welche den Unterwuchs unter den Bäumen abfressen, ohne dass es Unkrautvernichtungsmittel braucht. Schätzungsweise ein gutes Zehntel der Schweizer Christbäume wächst auf Waldflächen, und dort sind keinerlei Pestizide zugelassen. Oft sind solche Flächen sogar besonders artenreich, wie Vision Landwirtschaft anhand ihrer Erhebungen feststellte.
Coop geht voraus
Mit diesen Resultaten wandte sich Vision Landwirtschaft an Coop, den grössten Abnehmer einheimischer Christbäume in der Schweiz, und schlug Richtlinien für eine nachhaltige Anbaupraxis vor, welche den Pestizideinsatz stark reduzieren. Coop war interessiert und bot Hand für eine rasche und pragmatische Umsetzung. Der Richtlinienentwurf wurde auch mit der IG Christbaum, in welcher die Christbaumproduzenten zusammengeschlossen sind, intensiv diskutiert. Um die Produzenten nicht zu überfordern, mussten schliesslich einige der vorgeschlagenen Pestizidreduktionsmassnahmen – zumindest vorläufig – wieder fallen gelassen werden. Aber auch mit den jetzt verabschiedeten Richtlinien wird der Einsatz von Pestiziden gegenüber einer Produktion mit intensivem Pestizideinsatz um gut die Hälfte reduziert.
Handel und Konsumenten für nachhaltige Produktion
Alle Christbaumproduzenten, welche Coop Christbäume liefern möchten, müssen ab diesem Jahr die neuen Richtlinien einhalten. Kontrolliert wird dies von einer externen Firma. So wird einheimisch auch umweltfreundlich. Dem Engagement von Coop dürften sich bald weitere Christbaumhändler anschliessen (müssen).
Helfen Sie beim Christbaumkauf mit, dass ein pestizidreduzierter oder in einigen Jahren vielleicht sogar ganz pestizidfreier Christbaumanbau Schweizer Standard wird! Fragen Sie nach, woher die von Ihnen gekauften Bäumchen stammen und wie sie produziert werden. Wenn Sie keine befriedigende Antwort erhalten, kaufen Sie Bio-Bäume oder erkundigen Sie sich Sie nach den Coop-Richtlinien.
Vision Landwirtschaft wünscht Ihnen frohe Weihnachten!
Die Wertschöpfung der Schweizer Landwirtschaft bildet im weltweiten Vergleich ein Schlusslicht. Gemäss Zahlen im neuen Agrarbericht hat sie 2015 im Vergleich zum Vorjahr um 15% auf 1,8 Milliarden Franken abgenommen. Doch die Zahlen des Bundes zeigen nur einen Teil der Realität, da sie die Preisstützung als Wertschöpfung verbuchen. Vision Landwirtschaft hat die tatsächliche Wertschöpfung berechnet. Diese hat sich weiter verschlechtert von minus 1,5 Milliarden Franken im Jahr 2014 auf neu minus 2,3 Milliarden Franken.
(VL) Am Dienstag ist der neuste Agrarbericht erschienen. Das Landwirtschaftsjahr 2015 war durchzogen – insbesondere im Vergleich mit dem guten Jahr 2014. Die offizielle landwirtschaftliche Gesamtrechnung des Bundesamts für Statistik (BFS) weist einen Gesamtproduktionswert von 10,1 Milliarden Franken (6%) und eine Nettowertschöpfung von 1,8 Milliarden Franken (15%) aus. Die vom BFS berechnete Wertschöpfung lag damit rund 300 Millionen Franken tiefer als im Vorjahr. Als Gründe für den Rückgang nennt die eidgenössische Forschungsanstalt Agroscope tiefere Preise für Milch und Schweinefleisch sowie tiefere Erträge im Pflanzenbau durch die Trockenheit im Sommer.
Diese Zahlen widerspiegeln aber nur einen Teil der wirtschaftlichen Realität. Die Produktion wird zu den stark gestützten Inlandpreisen bewertet. Die Preisstützung durch die Konsumenten und Steuerzahler wird somit als Wertschöpfung der Landwirtschaft ausgewiesen. Dadurch wird der Beitrag der Landwirtschaft an die Volkswirtschaft stark überhöht. Hingegen vernachlässigt die Gesamtrechnung die Leistungen der Landwirtschaft für die Gesellschaft ebenso wie die externen Kosten durch Umweltbelastungen. Aus diesem Grund hat Vision Landwirtschaft in Anlehnung an die Methodik der OECD bereits für das Jahr 2014 eine Reihe neuer Kennziffern definiert und berechnet (s. Faktenblatt 6). Diese Berechnungen wurden nun für das Jahr 2015 fortgeführt.
Tatsächliche Wertschöpfung sinkt um 800 Millionen Franken
Der Wert der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, zu europäischen Preisen bewertet, sank 2015 gegenüber dem Vorjahr um 1,2 Milliarden Franken (19%). Für die Schweizer Produkte, die dank Grenzschutz innerhalb der Schweiz 10,1 Milliarden Franken wert waren, hätten ausländische Abnehmer noch 5,5 Milliarden Franken bezahlt. Grund für den Rückgang ist auch die Aufhebung des Mindestkurses von 1.20 Franken pro Euro durch die Nationalbank im Januar 2015. Gemäss den Zahlen der OECD waren die Produzentenpreise in der Schweiz im Mittel um 85% höher als im umliegenden Ausland (im Vorjahr 59%). So gross war die Preisdifferenz zum Ausland letztmals vor zehn Jahren.
Die effektiven gemeinwirtschaftlichen Leistungen der Landwirtschaft haben sich um 200 Millionen Franken erhöht. Sie liegen neu bei 1,4 Milliarden (+16%). Den grössten Beitrag zu dieser positiven Veränderung leistete die Zunahme der Alpungsbeiträge (+96 Millionen) und der Landschaftsqualitätsbeiträge (+55 Mio.) zulasten der nicht an Leistungen gebundenen Übergangsbeiträge. Doch die Landwirtschaft erbringt nicht nur gesellschaftliche Leistungen, sondern verursacht auch externe Kosten, die von der Allgemeinheit getragen werden. Es gibt keine Hinweise darauf, dass sich diese Kosten wesentlich geändert haben, weshalb weiterhin vom Wert des Vorjahres von 0,9 Milliarden Franken ausgegangen werden kann.
Aufgrund dieser Zahlen liegt die „multifunktionale Nettowertschöpfung“ der Schweizer Landwirtschaft – also die Nettowertschöpfung unter Einbezug der gemeinwirtschaftlichen Leistungen – tief im roten Bereich, bei minus 2,3 Milliarden Franken. Der Wert ergibt sich aus dem Marktwert der produzierten Güter (5,5 Milliarden Franken) und den gemeinwirtschaftlichen Leistungen (1,4 Milliarden Franken), abzüglich der externen Kosten (0,9 Milliarden Franken), der Vorleistungen (zugekaufte Produktionsmittel für 6,2 Milliarden Franken) und der Abschreibungen (2,0 Milliarden Franken). Die Nettowertschöpfung liegt nochmals 800 Millionen Franken tiefer als im Vorjahr.
Stützung durch Konsumenten steigt um 800 Millionen Franken
Die grössere Preisdifferenz zum Ausland bedeutet auch, dass die Stützung der Landwirtschaft durch die Konsumenten im Jahr 2015 stark anstieg. Gemäss den Zahlen der OECD belief sich diese Stützung auf 4,4 Milliarden Franken (Vorjahr: 3,6). Die gesamte Stützung der Landwirtschaft im Jahr 2015 – also einschliesslich der Ausgaben des Bundes, die durch die Steuerzahler finanziert werden – betrug 8,2 Milliarden Franken (Vorjahr: 7,4). Die indirekte Stützung durch den Grenzschutz übersteigt also die direkte, im Bundesbudget ausgewiesene Stützung. Allerdings sind nicht die ganzen 8,2 Milliarden Franken, welche die OECD nennt, Subventionen im eigentlichen Sinn (Zahlungen ohne Gegenleistung). Ein Teil davon sind Zahlungen für effektive gemeinwirtschaftliche Leistungen sowie für Leistungen der Verwaltung. Werden diese Leistungen von der Zahl der OECD subtrahiert und die externen Kosten (als weitere indirekte Stützung) addiert, ergibt sich der Wert der Stützung ohne Gegenleistung. Diese hat sich im Jahr 2015 gegenüber dem Vorjahr von 6,8 auf 7,4 Milliarden Franken erhöht (+8,4%).
Entsprechend der Zunahme der gemeinwirtschaftlichen Leistungen erhöhte sich auch der Anteil der Leistungszahlungen im Verhältnis zu den Ausgaben des Bundes für die Landwirtschaft. Von den Direktzahlungen (2,8 Milliarden Franken) waren im Jahr 2015 48% Zahlungen für gemeinwirtschaftliche Leistungen (im Vorjahr 43%). Innerhalb des gesamten landwirtschaftlichen Zahlungsrahmen (3,4 Milliarden Franken) waren 42% Zahlungen für gemeinwirtschaftliche Leistungen, für den ganzen Ausgabenbereich Landwirtschaft und Ernährung (3,7 Milliarden Franken) waren es 43%.Insgesamt sind aber nach wie vor mehr als die Hälfte der Ausgaben des Bundes für den Sektor Landwirtschaft verschiedene Formen von Stützung ohne Gegenleistung.
Landwirtschaft verliert, Industrie gewinnt
Die Zahlen zeigen, dass sich die reale wirtschaftliche Situation der Schweizer Landwirtschaft weiter verschlechtert hat – und dies weitgehend unbemerkt, da der Bund in seinen Zahlen nur einen Teil der wirtschaftlichen Realität der Landwirtschaft abbildet und damit einen geschönten Eindruck vermittelt. Tatsächlich ist die Wertschöpfung der Schweizer Landwirtschaft stark negativ und auch im internationalen Vergleich äusserst besorgniserregend. Dabei verschlechtert sich die Situation als Folge einer problematischen Agrarpolitik weiter. An einer landwirtschaftlichen Wertschöpfung im tief negativen Bereich wird sich in den nächsten Jahren ohne weitergehende Reform der Agrarpolitik nichts ändern: Die negative Wertschöpfung ist Ausdruck einer viel zu intensiv produzierenden Landwirtschaft. Ihre enorm hohen Vorleistungen beispielsweise an Maschinen, Futtermittel oder Energie verursachen deutlich höhere Kosten, als über die gesteigerte Produktionsmenge an zusätzlichen Erlösen eingenommen werden kann.
Direkte Ursache für die überintensive Landwirtschaft und ihre wirtschaftlich katastrophale Wertschöpfungssituation sind verschiedene direkte und indirekte Produktionsanreize. Dazu gehören die Beiträge pro Kilogramm Milch, pro Hektare Zuckerrüben, pro Tonne Zucker oder pro Tonne Treibstoff, aber ebenso die Pauschalzahlungen, über die unter dem Titel „Versorgungssicherheit“ und „Kulturlandschaftsbeiträge“ jährlich rund 1,5 Milliarden Franken ausgeschüttet werden. Diese gegenüber dem Ausland 5-10 Mal höheren Beiträge schwächen die Schweizer Landwirtschaft in existenziellem Masse. Profiteure sind allein die vor- und nachgelagerten Industrien. Während die Wertschöpfung der Landwirtschaft zwischen 2014 und 2015 weiter massiv an Boden verloren hat, konnte im selben Zeitraum allein der Landwirtschaftskonzern Fenaco seinen Gewinn um 65% auf 96 Millionen Franken steigern.
Fazit
Der Bund kommt mit seiner Methodik der landwirtschaftlichen Gesamtrechnung zu stark geschönten Resultaten was die Wirtschaftskraft der Landwirtschaft anbelangt, da er die von den Steuerzahlern und Konsumenten getragenen Preisstützungen der Wertschöpfung zurechnet. Wird diese Aufblähung korrigiert, so nahm die bereits vor einem Jahr im negativen Bereich liegende Wertschöpfung um eine weitere Milliarde ab und liegt nun bei minus 2,3 Milliarden Franken. Gleichzeitig erhöhten sich die Subventionen ohne Gegenleistung zwischen 2014 und 2015 von 6,8 auf 7,4 Milliarden Franken.
Eine realitätsnahe, ungeschönte Einschätzung der wirtschaftlichen Situation der Landwirtschaft ist unumgänglich, um die richtigen agrarpolitischen Schlüsse zu ziehen im Hinblick auf eine wieder zukunftsfähige Landwirtschaft.
Berechnungsgrundlagen
Die Zahlengrundlagen sind offizielle Statistiken des Bundesamts für Statistik (BFS), des Bundesamts für Landwirtschaft (BLW) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Für die Bewertung der gemeinwirtschaftlichen Leistungen und der externen Effekte wurden zusätzliche Quellen herangezogen. Die Methodik ist im Faktenblatt 6 von Vision Landwirtschaft detailliert beschrieben. Die wirtschaftlichen Kennzahlen 2010-2015 gehen aus einer Detail-Zusammenstellung (Siehe Excel rechte Spalte) hervor.
Diese Woche endet die Anhörungsfrist zum Nationalen Aktionsplan Pflanzenschutzmittel (NAP). Vision Landwirtschaft unterstützt die Ausarbeitung eines Aktionsplans und insbesondere den vom Bund formulierten Anspruch, die vorhandenen Verbesserungsmöglichkeiten konsequent zu nutzen und damit sicherzustellen, dass Pestizide "so wenig wie möglich und nur so viel wie nötig" eingesetzt werden. Von diesem Auftrag und Ziel ist der vorliegende NAP-Entwurf des Bundes allerdings noch weit entfernt.
(VL) Unzählige Organisationen reichen in diesen Tagen beim Bund ihre Stellungnahme zum Aktionsplan Pflanzenschutzmittel ein. Auch Vision Landwirtschaft hat im Austausch mit anderen Akteuren eine ausführliche Stellungnahme erarbeitet. Die wichtigsten Defizite beim Nationalen Aktionsplan ortet Vision Landwirtschaft in vier Bereichen:
Kostendeckende Gebühren statt Subventionierung der Pestizidindustrie: Der Pestizideinsatz verursacht in der Schweiz Kosten von schätzungsweise 100 Millionen Franken jährlich, welche der Allgemeinheit aufgebürdet werden. Allein die Zulassung, das Monitoring oder die Kontrollen lassen sich Bund und Kantone jährlich Dutzende von Millionen Franken kosten. Diese massive Subventionierung eines Industriezweiges durch den Steuerzahler ist nicht nur staatspolitisch fragwürdig. Ein Aktionsplan, welcher vorgibt, den Pestizideinsatz in der Schweiz reduzieren zu wollen und gleichzeitig an diesen verbrauchsfördernden Subventionen nicht rüttelt, ist nicht glaubwürdig. Kostendeckende Gebühren sind eine Grundanforderung, die bei der Überarbeitung des NAP berücksichtigt werden muss.
Die Pestizidindustrie wehrt sich nicht nur vehement gegen eine vom Bund vorgeschlagene Lenkungsabgabe, sondern selbst gegen die Verrechnung kostendeckender Gebühren. Auf Nachfrage geht scienceindustries, der Wirtschaftsverband der Pestizidhersteller, offenbar davon aus, dass in der Schweiz nur mit massiver Unterstützung der öffentlichen Hand überhaupt eine einigermassen brauchbare Palette an Pflanzenschutzmitteln auf den Markt gebracht werden kann, weil sonst diese Produkte im Verhältnis zum Nutzen für den Anwender zu teuer würden. Sogar die Anhebung des derzeit bei Pestiziden auf 2,8% (!) reduzierten Mehrwertsteuersatzes auf die üblichen 8% geht scienceindustries zu weit. Ob es tatsächlich Aufgabe des Bundes ist, die Pestizidindustrie mit vielfältigen Steuernachlässen und Subventionen zu stützen, dürfte auch das Parlament noch beschäftigen.
Ungenügende Verbesserungen der mangelhaften Transparenz im Bereich Zulassung und Datenerfassung: Immer wieder wurde von Fach- und Umweltorganisationen auf die fehlende Transparenz des Bundes bei der Zulassung und die komplett ungenügende Datenlage zum Pestizideinsatz hingewiesen. Wo welche Pestizide wofür eingesetzt werden ist eine fast vollständige Blackbox. Die im NAP enthaltenen Verbesserungsmassnahmen beheben nur einen kleinen Teil der bestehenden Defizite. Etliche zentrale Forderungen nach mehr Transparenz und einer Erfassung der Pestizidanwendungen werden nicht berücksichtigt. Solche grundlegenden Daten werden in mehreren Ländern bereits seit langem erfasst.
Zu zögerliche Massnahmenvorschläge: Zahlreiche wirksame Massnahmen zur Verminderung der Pestizidbelastung, wie sie im Pestizid-Reduktionsplan gefordert werden, wurden nicht in den NAP einbezogen. Damit wird lediglich eine minimale Reduktion des Pestizideinsatzes erreicht – gemäss Berechnungen des Bundes gerade 1% pro Jahr – auf gut Deutsch also nichts. Vision Landwirtschaft dagegen geht von einem Reduktionspotenzial von 50% in den nächsten 6 Jahren aus. Mit seinen zögerlichen Vorschlägen erreicht der Bund nicht einmal die Einhaltung des Umweltschutzgesetzes. So sollen die heute weit verbreiteten Überschreitungen der gesetzlichen Qualitätsanforderungen von Pestiziden in Oberflächengewässern gemäss NAP lediglich halbiert werden, und dies erst bis 2026, anstatt dass der Bund im Aktionsplan Massnahmen aufzeigt, mit denen im Gewässerbereich so rasch als möglich die Gesetze eingehalten werden können. Für die Schweizer Landwirtschaft ist es ausschlaggebend, dass sie der Bund darin unterstützt, gesetzeskonform zu produzieren.
Es fehlt eine Vision mit einer längerfristigen Entwicklungsperspektive: Der NAP muss aufzeigen, in welche Richtung der Umgang mit Pestiziden sich längerfristig entwickeln soll. Eine solche Vision fehlt im jetzigen Entwurf des Bundes. Nur eine klare Vision gibt den Landwirten Planungssicherheit und zeigt ihnen, in welche Richtung sie ihren Betrieb entwickeln können und mit welchen Mitteln sie der Bund in Zukunft unterstützen wird. Wir fordern eine mutige Vision, welche dazu geeignet ist, die Schweizer Landwirtschaft von den Produktionsmethoden im Ausland abzuheben. Ein zögerlicher NAP, welcher weit hinter dem Machbaren zurückbleibt, tut der Schweizer Landwirtschaft keinen Gefallen.
Fazit: Der Entwurf des Aktionsplans des Bundes erfüllt die eigenen Vorgaben, nämlich die vorhandenen Verbesserungsmöglichkeiten konsequent zu nutzen und damit sicherzustellen, dass Pestizide „so wenig wie möglich und nur so viel wie nötig" eingesetzt werden, noch nicht. Die zahlreichen bekannten und praktikablen Massnahmen, wie sie beispielsweise im Pestizid-Reduktionsplan aufgelistet sind, müssen zur Reduktion des Pestizideinsatzes und der damit verbundenen Belastungen von Mensch und Umwelt umfassend miteinbezogen werden. Ein mutiger NAP ist nicht gegen die Bauern, sondern eine unabdingbare Unterstützung für eine zukunftsfähige Schweizer Landwirtschaft.
Die Milchbauern in der Schweiz leiden unter dem Milchpreiszerfall als Folge der Überproduktion. Angesichts der Fixierung auf einen besseren Milchpreis geht leicht vergessen, dass die Kostenseite für das Einkommen ebenso ausschlaggebend ist. Die in der Schweiz dominierende Hochleistungsstrategie der Milchwirtschaftsbetriebe schneidet dabei schlecht ab. Deutlich kostengünstiger ist die graslandbasierte, weideorientierte Milchproduktion. Würde ihr Potenzial konsequenter genutzt, könnten die Produzenten mindestens 160 Millionen Franken mehr verdienen – bei gleichzeitig deutlich besserer Ökobilanz, einer Entlastung des Milchmarktes und höherem Tierwohl. Dies zeigen Zahlen des neuesten Faktenblattes von Vision Landwirtschaft.
(VL) Studien zeigten in den letzten Jahren wiederholt, dass sich Einkommen und Stundenlöhne auf Schweizer Milchwirtschaftsbetrieben durch eine Reduktion der Produktionskosten wesentlich verbessern lassen. Ein grosses Potenzial besteht in der Reduktion des Kraftfuttereinsatzes in Kombination mit einer weideorientierten Haltung anstelle der Stallfütterung.
Dass die Weidehaltung wirtschaftlich günstiger ist als die Stallhaltung, ist eigentlich naheliegend. Vollkostenrechnungen wie diejenige aus dem luzernischen "Systemvergleich Milchproduktion Hohenrain" zeigen detailliert auf, welche Faktoren dazu beitragen. Die Weidehaltung erfordert keine aufwändige Futterernte und -Konservierung, die oft durch Lohnunternehmen ausgeführt wird (12 Rp./kg Milch). Sie verringert die eigenen Maschinenkosten um 4 Rp./kg Milch und reduziert den Arbeitsaufwand für die Fütterung. Zudem fallen durch den weitgehenden oder vollständigen Verzicht auf Kraftfutter weitere Kosten weg (7 bis 10 Rp./kg Milch). Ein vollständiger Verzicht von Kraftfutter ist dann möglich, wenn die Tiergenetik und das Weidemanagement auf die Weidehaltung abgestimmt sind. Aufgrund der betrieblichen Voraussetzungen ist eine konsequente Weidehaltung nach Einschätzung von Experten bei etwas mehr als einem Viertel des Schweizer Milchviehbestandes realisierbar. Der Grossteil der Milchbetriebe in der Schweiz setzt dennoch auf eine Hochleistungsstrategie mit Stallhaltung und wesentlichem Kraftfuttereinsatz. Im neuesten Faktenblatt hat Vision Landwirtschaft die Einkommensverbesserungspotenziale und die wichtigsten Umweltwirkungen untersucht, welche aus einer Umstellung auf weidebetonte Haltung in Kombination mit einem weitgehenden Verzicht auf Kraftfutter resultieren. Basis der Berechnungen bilden Studien, welche verschiedene Milchproduktionsstrategien empirisch miteinander verglichen.
Über 1000 Franken pro Kuh und Jahr mehr Einkommen
Das Einkommen aus der Milchproduktion würde sich gemäss den Berechnungen beim gegenwärtigen Milchpreis jährlich um über 160 Millionen Franken erhöhen. Für einen durchschnittlichen Betrieb mit 22 Kühen sind dies 24‘000 Franken pro Jahr. Zu erwartende positive Auswirkungen der geringeren Produktionsmengen auf den Milchpreis sind dabei noch nicht berücksichtigt, ebenso wenig weitere Kostenreduktionspotenziale.
Diese attraktiven ökonomischen Perspektiven gehen zugleich mit wesentlichen ökologischen Vorteilen und einem verbesserten Tierwohl einher. So liessen sich die aus ökologischer wie ethischer Sicht problematischen Kraftfutterimporte um 120‘000 Tonnen jährlich reduzieren, das sind über 10% des in die Schweiz importieren Kraftfutters. Gleichzeitig könnte der Stickstoffüberschuss der Schweizer Landwirtschaft, der weltweit zu den höchsten gehört, um jährlich 2‘500 Tonnen reduziert werden, was rund 10% der gegenwärtigen Ziellücke beim Umweltziel Stickstoff des Bundes entspricht. Die Abnahme der Milchproduktion um 316‘000 Tonnen oder 8% würde einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung des Milchmarktes leisten.
Fehlanreize der Agrarpolitik
Dass die Vollweidestrategie und weitere, hier nicht untersuchte Optimierungspotenziale in der Schweizer Milchproduktion bisher kaum genutzt werden, liegt zu einem guten Teil an den Fehlanreizen der Agrarpolitik. Die Agrarpolitik begünstigt die Stallhaltung und den Kraftfuttereinsatz mit verschiedenen Beiträgen. So werden Finanzhilfen oft nur für überdimensionierte Stallbauten gewährt, für welche die eigene Futterfläche gar nicht ausreicht. Als Folge davon werden Futterzukäufe unumgänglich. Besonders problematisch sind auch die mengenabhängigen Subventionen. Mit den Verkäsungszulagen und Exportbeiträgen zahlt der Bund im Mittel für jedes zusätzliche Kilogramm Milch, das abgeliefert wird, 10 Rappen. Damit wird die Überproduktion direkt angeheizt. Aber auch ein Teil der Direktzahlungen – rund 15 Rappen pro Liter Milch – begünstigen direkt oder indirekt die Stallhaltung gegenüber der Weidehaltung. Zu nennen sind hier etwa die Beiträge für den Anbau von Mais und Futtergetreide. Wirksam Gegensteuer hätte das neue Programm für Graslandbasierte Milch- und Fleischproduktion (GMF) geben können. Es ist jedoch derart verwässert worden, dass es die Fehlentwicklungen eher weiter festigt als zur Lösung beiträgt.
Viele wollen an den Milchbauern mitverdienen
Einer stärkeren Verbreitung der konsequenten Weidehaltung wirken aber auch kräftige Interessen der vorgelagerten Industrie entgegen. Kostensparende Produktionsweisen in der Landwirtschaft bedeuten tiefere Umsätze bei den Zulieferfirmen. Die landwirtschaftlichen Medien sind voll von Artikeln und Inseraten, welche die Hochleistungsstrategie und implizit die mit ihr verbundenen Investitionen als den Weg der Zukunft anpreisen. Auch in der Ausbildung und Beratung steht die Hochleistungsstrategie nach wie vor hoch im Kurs. Landwirte, die erfolgreich andere Wege einschlagen, sind bis heute Aussenseiter, die in den bäuerlichen Medien, Verbänden und Schulen kaum wahrgenommen werden.
Nicht auf eine bessere Agrarpolitik warten
Die Schweizer Milchbauern stecken als Folge des Zerfalls der Milchpreise in einer tiefen Krise. Diese wird wesentlich mitbeeinflusst durch tiefe Milchpreise in der EU und durch den nachgelagerten Handel, welcher seine Margen auf Kosten der Produzenten hochhalten kann. Die wichtigste Ursache des Preiszerfalls liegt aber in der Überproduktion. An der Überproduktion wiederum hat die Agrarpolitik einen bedeutenden Anteil. Eine Agrarpolitik, die wie heute mit verschiedenen Anreizen die Mehrproduktion fördert, ist ökonomisch und ökologisch widersinnig und nützt höchstens den vor- und nachgelagerten Branchen.
Dass sich die Politik bei der gegenwärtigen Konstellation im Parlament zu einer Behebung der Fehlanreize bewegen lässt, erscheint vorläufig unwahrscheinlich. Doch um sich auf die eigenen Ressourcen und die Stärken des Graslandes Schweiz zu besinnen und vermehrt auf Weidehaltung und eine graslandbasierte, weideorientierte Produktion zu setzen, brauchen die Milchbetriebe zum Glück die Politik nicht. Denn eine grasland- und weideorientierte Strategie verhilft unabhängig von der Politik und vom Markt zu besseren Einkommen und ergibt als positiven Nebeneffekt erst noch eine viel bessere ökologische und ethologische Leistungsbilanz. Kommt dazu, dass Milch, die auf der Basis von Grasfütterung produziert wurde, u.a. dank der anderen Fettsäuren-Zusammensetzung höherwertig und gesünder ist als Milch, für deren Produktion leistungssteigerndes Kraftfutter eingesetzt wird. Auch dieser Vorteil könnte in Zukunft offensiv in Wert gesetzt werden. Mit der Erarbeitung von Lösungsperspektiven und über Gespräche mit Branchenvertretern will Vision Landwirtschaft aktiv zu einer Bewältigung der Milchkrise beitragen. Denn die gegenwärtige Krise beinhaltet auch die Chance, dass sich die Milchbetriebe der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten bewusst werden und sich auf die eigenen Potenziale und Stärken besinnen können. Das Grasland Schweiz erlaubt eine tiergerechte, naturgemässe, gesunde Milchproduktion, die weltweit ihresgleichen sucht. Diese Qualitäten auszubauen und engagiert in Wert zu setzen dürfte der wichtigste Schlüssel für eine attraktive Zukunft der Schweizer Milchproduktion sein.
Um die Ernährung der Menschheit zu sichern, so die weit verbreitete These, müssen zwingend die landwirtschaftlichen Erträge gesteigert werden. Bei genauer Betrachtung der komplexen Zusammenhänge zeigt sich aber, dass eine weitere Produktionsintensivierung für Länder mit einer „high-input"-Landwirtschaft die ineffizienteste und schädlichste Strategie zur Sicherung der Ernährung ist.
In Ländern wie der Schweiz mit einer intensiven landwirtschaftlichen Produktion leistet eine weitere Ertragssteigerung keinen Beitrag zur Sicherung der nationalen Ernährungssicherheit noch zur Welternährung, im Gegenteil. Doch davon war in einem früheren Newsletter die Rede (November 2015). Hier soll es um die Frage gehen: Gibt es denn überhaupt Alternativen? Tatsächlich mangelt es nicht an solchen. Die vier wichtigsten sind nicht nur viel kostengünstiger, sondern auch schneller wirksam, nachhaltiger, gesundheits- und umweltfreundlicher als weitere Ertragssteigerungen.
1. Bessere Verteilung und besserer Zugang zu Nahrungsmitteln: Während in Industrieländern Nahrungsmittelüberschüsse bestehen, die Bevölkerung an Übergewicht leidet und Steuermittel investiert werden, um die negativen Auswirkungen der nicht marktgerechten Produktion auf die Produzentenpreise abzudämpfen, leiden Entwicklungs- und Schwellenländer an Nahrungsmittelknappheit und Unterernährung. Würden die Nahrungsmittel bedarfsgerecht verteilt und zur Verfügung stehen, würden auf der Erde nicht über 900 Millionen unterernährte Menschen leben, sondern es könnte mit den jetzt verfügbaren Nahrungsmitteln eine zusätzliche Milliarde Menschen ernährt werden. Für die ungleiche Verteilung der Nahrungsmittel trägt die Schweiz eine Mitverantwortung, beispielsweise mit ihren – versteckten wie direkten – Exportsubventionen
2. Nahrungsmittelverschwendung (food waste) minimieren: Ein Drittel der Lebensmittel, die für den Schweizer Konsum produziert werden, geht zwischen Acker und Gabel verloren. Dies entspricht einer Menge von rund zwei Millionen Tonnen einwandfreier Lebensmittel, die jedes Jahr in der Schweiz vernichtet werden. Diese Verluste wären zu einem guten Teil vermeidbar. Sie betragen ein Mehrfaches der möglicherweise etwas geringeren Erträge, die beispielsweise durch eine Reduktion des Pestizideinsatzes oder eine nachhaltigere Produktion resultieren könnten.
3. Fleischkonsum auf ein gesundheitsverträgliches Mass reduzieren: Die Produktion von tierischem Eiweiss – sei es in Form von Fleisch, Milch oder Eiern – auf ackerfähigem Land ist eine sehr ineffiziente Art und Weise der Nahrungsmittelproduktion. Ackerfrüchte direkt für die menschliche Ernährung anzubauen wäre 5-30 Mal effizienter, als die gleiche Kalorienmenge über den Umweg der Fleischproduktion zu produzieren. Würde das verfügbare Ackerland weltweit direkt für die menschliche Ernährung genutzt, könnten 4 Milliarden Menschen zusätzlich ernährt werden. Allein diese Massnahme würde mehr als ausreichen, um die zukünftige Menschheit am Punkt des prognostizierten Bevölkerungsmaximums zu ernähren.
Auch in der Schweiz liegt der Fleischkonsum weit über dem ökologisch tragbaren und gesundheitsverträglichen Mass. Mit rund 65 kg pro Jahr isst der Schweizer, 20 Mal so viel Fleisch wie der durchschnittliche Inder. Der Durchschnittsschweizer isst damit dreimal so viel Fleisch wie die medizinisch empfohlenen rund 300gr pro Woche. Würde der Fleischkonsum in der Schweiz auf dieses Niveau gesenkt, könnte das Land den Selbstversorgungsgrad allein mit dieser Massnahme von derzeit knapp 60% auf 80-100% erhöhen. 300 gr pro Person entsprechen gerade derjenigen Fleischmenge, die sich auf dem Grasland der Schweiz nachhaltig produzieren lässt – also da, wo eine Produktion einzig über grasfressende Nutztiere möglich ist und kein Ackerland die menschliche Ernährung direkt konkurrenziert.
4. Besonders ineffiziente Produktionsmethoden wie die Milchproduktion mittels Kraftfutter eliminieren: Zu den beiden ineffizientesten Produktionsmethoden in der Schweiz gehört die Mutterkuhhaltung auf ackerfähigen Flächen und die Milchproduktion aus Futtermittelimporten. Allein das Kraftfutter, das – zu einem guten Teil aus dem Ausland importiert und teils unter sehr problematischen Bedingungen produziert – den Schweizer Milchkühen vorgesetzt wird, benötigt Ackerflächen, auf denen netto 2 Millionen Menschen zusätzlich ernährt werden könnten. Das ist ein Viertel der Schweizer Bevölkerung. Ein Kraftfutterverzicht würde die Milchproduktion gerade ungefähr um jene Menge reduzieren, die dem heutigen Marktüberschuss entspricht. Entsprechende Bemühungen würden nicht nur den effektiven Kalorienertrag für die menschliche Ernährung viel stärker erhöhen als eine weitere Ertragssteigerung. Sie könnten auch viel kurzfristiger umgesetzt werden und würden darüber hinaus zusätzliches Einkommen aus der Primärproduktion generieren. Fazit
Es gibt Massnahmen, die den Selbstversorgungsgrad und die Versorgungssicherheit um ein Vielfaches stärker und kostengünstiger erhöhen können, als eine intensive, auf hohe Erträge fixierte Produktion, die gleichzeitig hohe Umweltschäden verursacht und das Produktionspotenzial der Böden mindert. Zu diesen wirksamen Massnahmen gehören Bemühungen, die bei der Nahrungsmittelverschwendung, beim Fleischkonsum und bei der effizienteren Nutzung der Ressourcen ansetzen. Solche Massnahmen müssen in Zukunft im Zentrum der agrarpolitischen Bemühungen um die Ernährungssicherung in der Schweiz stehen und die heutige sachlich unhaltbare Fixierung auf möglichst hohe Erträge und weitere Ertragssteigerungen ablösen. Dadurch ergeben sich grosse Spielräume für eine nachhaltigere, umweltfreundlichere Produktion, welche zugleich die Produktionsgrundlagen erhält und verbessert, statt sie zunehmend zu degradieren.
In der Schweiz werden deutlich mehr Pestizide verwendet als nötig. Der Pestizideinsatz liesse sich bis 2020 um über 50% reduzieren. Dies geht aus einem heute veröffentlichten Pestizid-Reduktionsplan von Vision Landwirtschaft hervor, dessen Forderungen von einem breiten Bündnis aus Landwirtschafts-, Trinkwasserversorger-, Gewässerschutz-, Umwelt-, Gesundheits- und Konsumentenkreisen mitgetragen werden. Der Pestizid-Reduktionsplan zeigt machbare Alternativen zur heutigen Verwendung von Pestiziden auf und ergänzt damit den Aktionsplan Pflanzenschutzmittel, den der Bundesrat in den nächsten Wochen in die Vernehmlassung senden wird.
Der Pestizid-Reduktionsplan basiert auf einer systematischen Situationsanalyse in der Schweiz und auf Erfahrungen aus anderen Ländern, die bereits einen Aktionsplan zur Reduktion von Pflanzenschutzmitteln erarbeitet haben. Bei der Analyse zeigte sich, dass die Schweiz zu den Ländern mit einem besonders hohen Pestizideinsatz gehört. Überschreitungen gesetzlicher Vorgaben sind alltäglich. Weit über 100 unerwünschte Stoffe werden regelmässig in Gewässern festgestellt. Die Schweiz zählt, was die Transparenz und Datenlage beim Pestizideinsatz anbelangt, zu den europäischen Schlusslichtern. Die Auswirkungen des Pestizideinsatzes auf die Biodiversität, die menschliche Gesundheit und den Boden sind nur sehr bruchstückhaft bekannt; die eingegangenen Risiken dementsprechend hoch. Die Untersuchung ergab auch, dass ein hoher Pestizideinsatz oft nicht wirtschaftlich ist.
Alternativen zum Pestizideinsatz bisher zu wenig genutzt
Die entscheidenden Massnahmen, die bei den landwirtschaftlichen Kulturen eine nachhaltige und sichere Produktion von Nahrungsmitteln gewährleisten können, beruhen nicht auf Pestizidanwendungen, sondern auf einem standortgerechten Anbau und einer guten fachlichen Praxis. Im Privat- und Siedlungsbereich kann, wie beispielsweise Frankreich zeigt, sogar ganz auf problematische Pestizide verzichtet werden. Der Pestizideinsatz kann ohne Versorgungsengpässe und ohne Mehrkosten für den Steuerzahler – aber mit positiver Wirkung auf Gewässer, Boden und Biodiversität – mit gut realisierbaren Massnahmen um 40-50% in der Landwirtschaft und gar um 80% im Siedlungsbereich reduziert werden.
Zahlreiche Organisationen aus Landwirtschafts-, Trinkwasserversorger-, Gewässerschutz-, Umwelt-, Gesundheits- und Konsumentenkreisen unterstützen die Stossrichtung des Pestizid-Reduktionsplans explizit und fordern den Bund auf, die Alternativen zum Pestizideinsatz auszuschöpfen und die damit verbundenen sozio-ökonomischen und ökologischen Vorteile konsequent zu nutzen. Der „Nationale Aktionsplan zur Risikoreduktion und nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln“ des Bundes wird demnächst in die Vernehmlassung geschickt und wird sich am nun vorliegenden Pestizid-Reduktionsplan zu messen haben.
Die Vorgeschichte
Über ein Postulat (12.3299) forderte Nationalrätin Tiana Moser im März 2012 den Bundesrat auf zu prüfen, ob und in welcher Form ein Aktionsplan zur Risikominimierung und nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln, wie ihn die EU vorsieht, geeignet ist, um die Verringerung der Pestizidbelastung in der Schweiz sicherzustellen. Der Bundesrat beantragte die Annahme des Postulates am 23.5.2012, der Nationalrat folgte dieser Empfehlung am 15.6.2012. Am 21.5.2014 publizierte der Bundesrat die entsprechende Bedarfsabklärung.
Bereits ein Jahr zuvor, am 2.5.2013, hatte die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur in ihrer Motion 13.3367 gefordert, ein Massnahmenpaket zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln zu beschliessen und den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln bis 2023 um einen bestimmten Prozentsatz zu reduzieren. National- und Ständerat hiessen dieses Ansinnen ohne Gegenstimme gut. Seither sind die Bundesämter am Erarbeiten eines Aktionsplans.
Vision Landwirtschaft erstellte in Zusammenarbeit mit einer Begleitgruppe den heute veröffentlichten Pestizid-Reduktionsplan, der die Stossrichtung des bundesrätlichen Aktionsplans respektiert, aber eine umfassende Sicht auf den Pestizideinsatz wirft und substanzielle Reduktionsmöglichkeiten aufzeigt. Die zusammengestellten Grundlagen, Fakten und Massnahmen sollen den Prozess unterstützen, um zum Schutz der menschlichen Gesundheit und der Umwelt eine massgebliche Reduktion des Pestizideinsatzes zu erreichen.
Kennzahlen & Fakten
In der Schweiz werden pro Jahr gut 2000 Tonnen Pestizide eingesetzt.
Damit hat der Bund die selbst gesetzten Ziele nicht annähernd erreicht. Bereits 2005 lautete das agrarpolitische Etappenziel, den Pflanzenschutzmittelverbrauch auf 1 500 Tonnen jährlich zu senken.
Fast alle Grundwasserfassungen im Mittelland, welche für Trinkwasser genutzt werden, sind mit Pestiziden und deren Abbauprodukten belastet.
Bei einer umfassenden Untersuchung von fünf mittelgrossen Fliessgewässern im Schweizer Mittelland erfüllte keines die Anforderungen der Gewässerschutzverordnung in Bezug auf die Pestizidbelastung. Insgesamt wurden 100 verschiedene Wirkstoffe in den Wasserproben gefunden, wobei im Durchschnitt jede Probe 40 unterschiedliche Pestizid-Wirkstoffe enthielt.
Eine produktive Landwirtschaft ohne Pestizide ist möglich, wie bereits heute viele Produzenten in der Schweiz zeigen.
Wie hoch ist die Wertschöpfung der Schweizer Landwirtschaft? Sie wird in der landwirtschaftlichen Gesamtrechnung des Bundes mit 2,2 Milliarden Franken angegeben. Doch die Zahl ist irreführend und verwischt die reale wirtschaftliche Situation der Landwirtschaft, weil weder der Grenzschutz noch die erbrachten gemeinwirtschaftlichen Leistungen der Landwirtschaft mitberücksichtigt sind. Eine neue Studie zeigt, wie eine realitätsbezogene Berechnung, basierend auf Zahlen von Bund und OECD, aussehen müsste. Die Differenz zu den offiziellen Zahlen beträgt über 3 Milliarden Franken.
(VL) Die landwirtschaftliche Wertschöpfung hat in agrarpolitischen Debatten einen hohen Stellenwert. Im erläuternden Bericht des Bundesrats zur laufenden Agrarpolitik 2014–17 kommt der Begriff "Wertschöpfung" 58 Mal vor. Die Wertschöpfung wird in der landwirtschaftlichen Gesamtrechnung des Bundes berechnet als Produktionswert minus Vorleistungen minus Abschreibungen gleich Nettowertschöpfung.
1. Wert der gemeinwirtschaftlichen Leistungen nicht miteinbezogen
Die Landwirtschaft erbringt nicht nur über die Produktion von Nahrungsmitteln Wertschöpfung, sondern auch über die Produktion von nicht marktfähigen Gütern, die als gemeinwirtschaftliche Leistungen bezeichnet werden – beispielsweise die Versorgungssicherheit, eine attraktive Landschaft oder die Förderung der Biodiversität. In der landwirtschaftlichen Gesamtrechnung wird der Wert der gemeinwirtschaftlichen Leistungen aber schlicht ausgeblendet.
Ihr Wert kann näherungsweise anhand der dafür ausgerichteten Direktzahlungen bestimmt werden. Vision Landwirtschaft hat in ihrer Studie diese Bewertung vorgenommen und die einzelnen Direktzahlungskomponenten in Bezug auf die daraus resultierenden gemeinwirtschaftlichen Leistungen beurteilt. 43% der Direktzahlungen gemäss Agrarpolitik 2014-17 gelten demnach gemeinwirtschaftliche Leistungen ab, die übrigen Direktzahlungen haben den Charakter einer Einkommensstützung, der keine Wertschöpfung gegenübersteht.
2. Grenzschutz ausgeblendet
In der Gesamtrechnung des Bundes wird die Wertschöpfung aus der Nahrungsmittelproduktion anhand der am Markt gelösten Preise berechnet. Die Marktpreise sind jedoch wenig aussagekräftig, weil sie durch den staatlichen Grenzschutz in der Schweiz künstlich stark erhöht werden. Die Differenz bezahlt der Konsument. Der Preisunterschied von rund 50% gemäss OECD muss in der Berechnung der Wertschöpfung berücksichtigt werden. Der Bund blendete dies in seiner Berechnung bisher jedoch aus.
3. Weitere Stützungen und Kosten nicht miteinbezogen
Wenn korrekterweise die Umweltleistungen miteinbezogen werden, müssen zumindest die wichtigsten, bezifferbaren Umweltkosten der Landwirtschaft ebenfalls mitberücksichtigt werden. Dazu gehören die Treibhausgas- und Ammoniak-Emissionen. Sie belaufen sich auf 0,9 Milliarden Franken gemäss den von der OECD angegebenen Emissionsmengen.
Korrekt berechnete Wertschöpfung: Massive Differenz zur Angabe des Bundes
Wie sieht die landwirtschaftliche Wertschöpfung aus, wenn die genannten Korrekturen vorgenommen werden?
2014 betrug der Produktionswert der Schweizer Landwirtschaft gemäss Bundesamt für Statistik 10,7 Milliarden Franken. Nach Abzug des Grenzschutzes bleibt ein Produktionswert von 7,2 Milliarden Franken. Die Direktzahlungen, die tatsächlich nichtmarktfähige Güter abgelten, belaufen sich nach Abschätzungen von Vision Landwirtschaft auf 1,2 der insgesamt 2,8 Milliarden Franken. Einschliesslich der nicht marktfähigen Güter ergibt sich ein Produktionswert der Schweizer Landwirtschaft von 8,4 Milliarden Franken.
Davon sind die Vorleistungen und Abschreibungen abzuziehen. Sie belaufen sich gemäss Bundesamt für Statistik auf total 8,5 Milliarden Franken (Vorleistungen: 6,4 Mia Fr., Abschreibungen 2,1 Mia Fr.). Ohne Berücksichtigung der Umweltkosten ergibt sich somit eine Nettowertschöpfung von minus 0,1 Milliarden Franken. Werden die Umweltkosten (externe Kosten der Produktion) von 0,9 Milliarden wie die übrigen Produktionskosten subtrahiert, so bleibt unter dem Strich eine Nettowertschöpfung der Schweizer Landwirtschaft von minus 1 Milliarde Franken. Das sind 3,2 Milliarden weniger als die in der offiziellen Statistik des Bundes ausgewiesene Wertschöpfung von 2,2 Milliarden Franken.
Heutige Berechnung führt zu falschen Schlüssen
Zahlen, die nur die halbe Wahrheit abbilden, wie das bei der offiziellen landwirtschaftlichen Gesamtrechnung der Fall ist, verleiten zu falschen Schlüssen und führen Politik und Öffentlichkeit in die Irre. So werden wirtschaftlich und ökologisch unsinnige, kostenintensive Produktionsweisen, die nur dank Schweizer Grenzschutz und Vernachlässigung der Umweltkosten wirtschaftlich überlebensfähig sind, durch staatliche Fehlanreize weiter unterstützt und gefördert. Auf der anderen Seite werden Landwirtschaftsbetriebe, die real eine gute Wertschöpfung erbringen mit nachhaltigen, kostengünstigen Produktionsweisen, von der Politik wirtschaftlich benachteiligt. Eine solche Politik schadet der Landwirtschaft langfristig enorm.
Tatsächlich sind die wirtschaftlichen Kennzahlen der Schweizer Landwirtschaft auch im internationalen Vergleich beängstigend schlecht. In kaum einem anderen Land erbringt die Landwirtschaft eine derart geringe Wertschöpfung als Folge zu teurer Vorleistungen und Betriebsstrukturen. Abnehmende staatliche Zahlungen – die derzeit 5-10 Mal so hoch sind wie im umliegenden Ausland – oder eine weitere Öffnung der Grenzen hätten für die einheimischen Betriebe katastrophale Folgen, da ein Grossteil nicht darauf vorbereitet wäre.
Die Agrarpolitik der letzten Jahrzehnte hat die Landwirtschaft in eine immense, nicht mit gemeinwirtschaftlichen Leistungen zu rechtfertigende Staatsabhängigkeit getrieben. Die Dimension dieser Abhängigkeit wird bis heute durch eine in hohem Masse unvollständige Landwirtschaftliche Gesamtrechnung weitgehend vernebelt. Nicht zuletzt deshalb dürften die dringend nötigen Schlussfolgerungen von der Politik noch nicht gezogen worden sein.
Eine der dringlichsten Forderungen, die sich aus einer ergänzten, korrekten landwirtschaftlichen Gesamtrechnung ergibt, ist die Abschaffung und Umlagerung der nicht leistungsbezogenen, teure Produktionsweisen fördernden Direktzahlungen. Mit der Agrarpolitik 2014-17 ist ein erster, allerdings noch sehr zaghafter Schritt in diese Richtung getan worden.
(VL) Die Schweizer Demokratie erlebt bewegte Zeiten. Vor gut einer Woche liess die SVP die Schweizer Bürgerinnen und Bürger über eine Initiative abstimmen, die seitenlange, alle Details minutiös regelnde Gesetzes- und Verordnungstexte in die Verfassung schreiben wollte. Und parallel dazu lässt der Schweizer Bauernverband SBV das Parlament und seine Kommissionen wochenlang über eine Initiative diskutieren, über die bis heute gerätselt wird, was sie eigentlich will. Beides hat die direkte Demokratie der Schweiz noch nie erlebt in ihrer 150-jährigen Geschichte.
Was steckt hinter dem Rätsel der SBV-„Ernährungssicherheitsinitative“, und was würde sich die Schweiz bei einer Annahme einhandeln?
Initiativtext wiederholt bestehende Verfassung
Die Frage müsste sich eigentlich aus dem Initiativtext klären lassen. Doch im Initiativtext steht nichts, was nicht bereits in der Verfassung steht – vielleicht mit Ausnahme einer Passage, welche einen Abbau der Bürokratie fordert. Diese Forderung ist allerdings unbestritten und wird von der Verwaltung mit einem eigenen Projekt ohnehin bereits vorangetrieben. Warum also verwendet der Bauernverband Millionenbeträge seiner Mitglieder und der ihn unterstützenden Landwirtschaftsindustrie für einen Text, der die Verfassung lediglich um Doppelspurigkeiten verlängern würde?
Jedem was er will
Bis heute hat sich der Bauernverband standhaft geweigert, schlüssig zu sagen, was er mit seiner Initiative will. Bei der generalstabsmässig organisierten Unterschriftensammlung auf der Strasse wurde geworben mit einer Stärkung der nachhaltigen einheimischen Produktion, mit Edelweiss-Bauernhemden und Hornkühen. Wer ist nicht für eine solche Landwirtschaft? Nicht umsonst kamen die Unterschriften rasch zusammen. Zur genau gleichen Zeit brachte Bauernverbandspräsident Markus Ritter an Bauernversammlungen seine Basis auf Kurs, indem er mahnte, dass die Ökologisierung der Schweizer Agrarpolitik endlich wieder zurückgedreht werden müsse mithilfe der Initiative. Und den Konsumenten wird in den regelmässigen Medienauftritten des SBV-Präsidenten weisgemacht, dass ihnen die Initiative auch in Zukunft gesunde einheimische Nahrungsmittel garantieren werde. Die Umweltorganisationen werden mit einer Passage zum Kulturlandschutz geködert. Dass Markus Ritter gleichzeitig in einem Komitee aktiv war, das bei einer Abstimmung im Kanton St. Gallen gegen den Kulturlandschutz eintrat, war für den SBV kein Problem. Jeder erhält vom Bauernverband genau diejenige Antwort auf seine Fragen, welche er oder sie hören will.
SBV als Vorkämpfer einer industrialisierten Landwirtschaft
Kein Verband hat in den letzten Jahrzehnten energischer und mit mehr Geld gegen alle Bemühungen gekämpft, die eine nachhaltigere Schweizer Landwirtschaft und die Erhaltung bäuerlicher Strukturen zum Ziel hatten. Kein Verband hintertreibt stärker den Kulturlandschutz, wenn es darum geht, den Gewinn aus bäuerlichem Baulandverkauf sicherzustellen oder grosszügige Bauten der Landwirtschaft auf dem Kulturland durchzubringen. Und jetzt will sich derselbe Verband plötzlich mit einer eigenen Initiative für eine nachhaltige Schweizer Landwirtschaft und für Kulturlandschutz einsetzen?
Die Antwort auf das Rätsel verrät einen neuen basisdemokratischen Trick. Die eigentlichen Anliegen des SBV wären niemals mehrheitsfähig. Kaum ein Bürger will eine immer intensiver und industrieller produzierende, hoch subventionierte, staatsabhängige und abgeschottete Landwirtschaft nach dem Gusto des SBV (auch viele Bauern nicht!). Kaum jemand will zur alten Agrarpolitik mit ihren Pauschalzahlungen und ihren milliardenschweren Fehlanreizen zurück. Weil sich für solche Anliegen keine Mehrheiten finden lassen, heckten die findigen SBV-Strategen einen Initiativtext aus, der nichtssagend nirgends aneckt und möglichst viel Interpretationsspielraum offen lässt.
Katze bleibt bis zur Annahme im Sack
Würde die Initiative angenommen, kann der SBV dann endlich die lange sorgsam gehütete und ruhig gehaltene Katze aus dem Sack lassen und klar machen, wie die Initiative zu verstehen sei. Was auch immer in der Agrarpolitik alsdann an Entscheidungen ansteht, der SBV wird auf den Volkswillen verweisen und das Parlament und die Verwaltung daran erinnern, dass die SBV-Initiative ja angenommen worden sei und die Agrarpolitik nun nach dem Gusto des Verbandes zu realisieren sei. Dass im Vorfeld niemand wusste, was die Initiative will und damit von einem Volkswillen nicht die Rede sein kann, wird schnell vergessen sein.
Abstimmung im Nationalrat
Man darf auf das Resultat morgen im Nationalrat gespannt sein. SP und GLP haben sich als erste geweigert, das Spiel mitzuspielen. Die Grünen sind noch unschlüssig und hoffen auf einen Handel, dass der Bauernverband ihre eigene Initiative unterstützt, wenn sie im Gegenzug bei seiner Initiative mithelfen. Die SVP-Fraktion, die ohnehin fast deckungsgleich mit dem SBV politisiert, hat ihre Ja-Parole bereits gefasst. Den Ausschlag geben dürfte am Schluss die FDP, welche bisher teilweise standhaft blieb, weil sie bei Annahme der Initiative eine weitere Marktabschottung befürchtet.
Unklar bleibt auch, inwieweit Parlamentarier aus dem Berggebiet dem Druck des SBV nachgeben werden. Denn die Berglandwirtschaft, die von der Agrarreform stark profitiert hat, würde mit Sicherheit zu den Verlierern einer Annahme der Initiative gehören.
Basisdemokratischer Schlaumeierei eine Abfuhr erteilen
Nach der Durchsetzungsinitiative, welche das bisherige System der direkten Demokratie auszuhebeln versuchte, indem sie Gesetze und Verordnungen gleich direkt in die Verfassung schreiben wollte, ist die Ernährungssicherheitsinitiative ein weiterer Versuch, mit einem Trick den Volkswillen für die eigenen Interessen zu missbrauchen – mit einem Initiativtext, der es allen recht macht und der vom Urheber erst nach Annahme der Initiative so interpretiert werden wird, wie es ihm vorschwebt. Es wäre wünschbar, dass bereits die Parlamentarier und nicht erst das Volk diesem Missbrauch der Basisdemokratie eine klare Abfuhr erteilen.
Vier Gründe, warum die Ernährungssicherheitsinitiative abzulehnen ist:
Die Initiative schafft Verwirrung und Unsicherheit: Der Text ist ausgesprochen vage und bringt gegenüber der bestehenden Verfassung nichts Neues, sondern schafft Doppelspurigkeiten.
Die Initiative ist eine Mogelpackung: Der Bauernverband hat sich bisher geweigert, Klartext zu reden, was er mit der Initiative will. Er wird den Initiativtext erst nach seiner allfälligen Annahme ausdeuten und dann die Politik und Verwaltung nach seiner Interpretation mit Verweis auf "den Volkswillen" unter Druck setzen.
Die Landwirtschaft braucht keine Verfassungsdebatte: Die bestehende Verfassungsgrundlage geniesst im Bereich Landwirtschaft ausserordentlich hohe Akzeptanz. Diese auf's Spiel zu setzen und mit einer vagen Initiative Unsicherheit zu schaffen ist fahrlässig und das Letzte, was die Landwirtschaft jetzt brauchen kann.
Die Initative entzweit die Landwirtschaft: Viele bäuerliche Organisationen lehnen die Initiative ab, andere stehen ihr äusserst skeptisch gegenüber. Uneinigkeit schadet der Landwirtschaft und kostet sie Energie, die sie dringend für konstruktive Auseinandersetzungen um ihre Zukunft braucht.
Mit den landwirtschaftlichen Zahlungsrahmen steuert der Bund die Grobverteilung der Agrarausgaben. Am 18. Februar endet die Vernehmlassungsfrist zu den Zahlungsrahmen 2018-21. Vision Landwirtschaft lehnt die vom Bundesrat vorgeschlagene Kürzung bei den leistungsorientierten Direktzahlungen strikte ab und fordert stattdessen eine Kürzung und weitgehende Umlagerung der ineffizienten und kontraproduktiven „Versorgungssicherheitsbeiträge“.
(VL) Dass auch die Landwirtschaft in den kommenden Jahren ihren Beitrag zu den unvermeidlichen Budgetkürzungen leisten muss, kann angesichts der voraussichtlich dramatisch sinkenden Einnahmen der Bundeskasse kaum ernsthaft infrage gestellt werden. Wenn aber Kürzungen unumgänglich sind, dann müssen sie dort erfolgen, wo kein Schaden angerichtet wird und wo bestehende Ineffizienzen behoben werden können. Dies ist im jetzigen Vorschlag des Bundesrates zu den Zahlungsrahmen 2018-21 noch nicht der Fall. Vision Landwirtschaft fordert drei Korrekturen:
1. Keine Kürzung bei den Leistungsprogrammen
Die vom Bundesrat vorgeschlagenen Kürzungen von je 20 Mio. Franken bei den Beiträgen für Leistungen zugunsten der Biodiversität sowie der Landschaftsqualität lehnen wir aus folgenden Gründen strikte ab:
Die Bewirtschafter sind sowohl im Bereich Biodiversität wie im Bereich Landschaftsqualität mehrjährige Verträge bzw. Verpflichtungen eingegangen. Diese sind gegenseitig bindend, also sowohl vom Bewirtschafter wie vom Staat einzuhalten. Eine Kürzung der Beitragshöhen bei laufender Verpflichtungsperiode verstösst gegen Treu und Glauben und ist damit auch ordnungspolitisch inakzeptabel.
Die parlamentarischen Beschlüsse zur Agrarreform 2014-17 sahen deutlich höhere Beiträge für die Landschaftsqualität (LQ) vor, als sie heute vom Bund zur Verfügung gestellt werden: Aufgrund der grossen Nachfrage und einer zu geringen Alimentierung bei der Mittelverteilung wurden die Beiträge bis 2017 von maximal 360 Fr./ha auf 120 Fr./ha gekürzt. Ab 2018 sollte die Kürzung wieder aufgehoben werden. Dieses Versprechen ist einzuhalten. Zahlreiche Projekte haben ihre Massnahmen auf dieser Basis festgelegt. Es braucht also mehr und nicht weniger Mittel für die Landschaftsqualität. Diese kommen vor allem auch dem Berggebiet zugute, wo besondere Leistungen wie Trockenmauern oder der Verzicht auf eine aufwändige Erschliessung mit Teerstrassen abgegolten werden. Die Massnahmen wurden von den kantonalen Behörden, den Bauernverbänden und weiteren Organisationen in einem partizipativen Prozess sorgfältig erarbeitet.
Eine Kürzung bei den Leistungsbeiträgen Biodiversität (BFF) und Landschafsqualität (LQ) widerspricht den agrarpolitischen Zielsetzungen, bestehen doch sowohl bei der Biodiversität wie bei der Landschaftsqualität klare Ziellücken. Auch im erläuternden Bericht des Bundesrates wurden diese Defizite plausibel dargestellt. Mit Kürzungen bei den Leistungsbeiträgen würde der Bundesrat seine eigene Beurteilung negieren.
Eine Kürzung der BFF- und LQ-Beiträge würde das Berggebiet weit überproportional treffen, wo bereits jetzt pro eingesetzter Arbeitskraft viel weniger Direktzahlungen ausgerichtet werden und die landwirtschaftlichen Einkommen deutlich tiefer liegen als in den Gunstlagen. Damit würde der Bundesrat auch diesbezüglich expliziten Zielen der AP 2014-17 zuwiderhandeln.
Eine Kürzung bei den Leistungsbeiträgen ist schliesslich auch deshalb abzulehnen, weil es genügend andere Direktzahlungskategorien gibt, die sich als ineffizient oder kontraproduktiv erwiesen haben und sich für Kürzungen geradezu anbieten.
2. „Versorgungssicherheitsbeiträge“ kürzen
Zu den nicht zielführenden Zahlungen, wo Kürzungen sich anbieten, gehört insbesondere der Basisbeitrag der „Versorgungssicherheitsbeiträge“. Dieser pauschale Flächenbeitrag stellt mit rund einer Milliarde Franken jährlich den weitaus grössten Posten der Direktzahlungen dar. Die „Versorgungssicherheitsbeiträge“ wurden bis heute vom Bundesrat nie sachlich begründet auch nie auf ihre potenzielle oder reale Wirkung hin evaluiert. Ein politischer Vorstoss von Kathrin Bertschy, GLP, welcher eine längst fällige Wirkungsanalyse forderte, wurde von Nationalrat und Fast-Bauernverbandspräsident Andreas Aebi (SVP) blockiert. Die Angst vor Transparenz ist nicht ganz unbegründet. Verschiedene Untersuchungen weisen nämlich bereits heute darauf hin, dass die „Versorgungssicherheitsbeiträge“ so gut wie nichts mit der Versorgungssicherheit zu tun haben, sondern der Ernährungssicherheit und der bäuerlichen Landwirtschaft mehr schaden als nützen (siehe Faktenblatt Vision Landwirtschaft Nr. 5). So treiben diese Beiträge die Pachtzinsen in die Höhe und geben unerwünschte Anreize zu einer nicht marktorientierten und zugleich ökologisch nachteiligen Intensivierung der Produktion.
3. Umlagerung der „Versorgungssicherheitsbeiträge“ zu den Leistungsprogrammen
Die „Versorgungssicherheitsbeiträge“ bieten sich auch unabhängig von Sparverpflichtungen dringend für eine Umlagerung in Leistungsprogramme an, um die agrarpolitischen Ziele besser zu erreichen und die mangelhafte Effizienz der staatlichen Ausgaben für die Landwirtschaft zu verbessern. Insbesondere ein Ausbau der Instrumente der Produktionssystem- und Ressourceneffizienzbeiträge bietet vielfältige Potenziale für ökologische und ökonomische Verbesserungen der Schweizer Landwirtschaft.
Weitere Forderungen von Vision Landwirtschaft für die Zahlungsrahmen ab 2018 sind:
Lockerung der Abstufung der Direktzahlungen nach Fläche rückgängig machen.
Obergrenzen von 150‘000 Fr. Direktzahlungen pro Betrieb einführen und Einkommensobergrenze von 120'000 Fr. wieder einführen.
Korrekte Bemessung und Erhöhung Steillagenbeitrag.
Eine nachhaltige Bewirtschaftung des Bodens ist möglich – und Bäuerinnen und Bauern, die dies versuchen, sind nicht allein bei ihrer Suche nach realisierbaren Möglichkeiten. Das ist die Botschaft von Pissenlit („Löwenzahn“). Um sie mit konkretem Inhalt zu füllen, gingen die vier Mitglieder des Vereins auf die Waadtländer Bauern zu und fragten sie nach ihrer landwirtschaftlichen Praxis, nach ihren Motivationen und Anliegen.
(VL) Vier Studierende der Ausbildung «Umweltberatung» vom WWF wollten sich für ihre viermonatige Schlussarbeit mit Waadtländer Bauern und Bäuerinnen beschäftigen, die sich auf eigenständige, autonome Weise bemühen, Ökologie mit der Produktion zu verbinden. Das Projekt «de Paysan à Paysan» (von Bauer zu Bauer) ging von der Überzeugung aus, dass die konkrete Praxis einer nachhaltigen Landwirtschaft sich individuell von Betrieb zu Betrieb stark unterscheidet und viele ganz besondere, eigenständige Lösungen gefunden haben. Diesen Schatz an oft verborgenem Know-how aufzuspüren und «auszusäen» war das Ziel des Projektes.
Die Studierenden haben zunächst einen Verein mit dem bildhaften Namen „Pissenlit“ gegründet, der ihnen die Legitimation gab, um ohne spezielle Kenntnisse der Landwirtschaft und so auch ohne Vorurteile und vorgefasste Ideen auf 24 Waadtländer Landwirte zuzugehen. Dort suchten sie nach besonders ressourcen- und bodenschonenden, biodiversitätserhaltenden Praktiken. All die durchgeführten Gespräche wurden gefilmt und detailliert protokolliert.
Das erste Ergebnis des Projekts war ein Verzeichnis von verschiedenem Spezialwissen im Bereich Nachhaltigkeit. Das Verzeichnis wurde interessierten Bauern zugänglich gemacht mit der Absicht, sie in ihren eigenen Bemühungen zu inspirieren und gegenseitig zu vernetzen.
Die intensiven Diskussionen mit den Landwirten haben darüber hinaus aber auch ermöglicht, den Beweggründen ebenso wie den Hindernissen auf dem Weg zu diesen alternativen Praktiken auf die Spur zu kommen. Bauern, die nach einer nachhaltigeren Landwirtschaft suchen, sind oft motiviert durch das Anliegen, gesunde, hochwertige Nahrung sowohl für sie selbst als auch für die Bevölkerung zu produzieren. Sie möchten damit gleichzeitig faires Geld verdienen und sich vom Druck der Agroindustrie, die oft einen Grossteil ihrer Erlöse wegfrisst, befreien.
Auf vielen Betrieben zeigt sich, dass ihnen beispielsweise Absatzmöglichkeiten zwischen dem aufwändigen Direktverkauf einerseits und dem Grosshandel mit den tiefen Preisen andererseits in der Rege fehlen. Eine weitere Schwierigkeit kommt von der Agrarpolitik, die in den Gunstlagen eine intensive Produktion von möglichst grossen Betrieben fördere und nicht genug Anreize für eine regionale Wertschöpfung schaffe. Betriebsleiter sind sehr abhängig vom bestehenden System und oft viel zu wenig informiert über Alternativen. Die mangelnde Schulung zu Fragen der Bodenbiologie ist ein besonders oft genanntes Beispiel. Viele sehen hier ein sehr grosses Verbesserungspotenzial. Dieses wird aber weder in der Ausbildung noch mit Direktzahlungen thematisiert. Wer sich diesem für eine nachhaltige Produktion zentralen Thema annimmt fühlt sich rasch allein gelassen. Der Verein Pissenlit hat eine Liste von Pfaden zusammengestellt, um genau solche Hindernisse zu überwinden.
Das wichtigste Anliegen des Projektes «de Paysan à Paysan» war es, das Know-how der Bäuerinnen und Bauern zu würdigen und die Vernetzung zwischen ihnen zu verstärken. Sechs schriftliche Portraits sind von diesen Treffen mit Bauern entstanden. Sie wurden in der Zeitung und auf den Webseiten von Uniterre, auf der Facebook-Seite des Vereins Pissenlit und auf der Internet-Plattform Agroécologie Suisse publiziert. Zudem wurden sechs kleine Filme realisiert und sie auf diesen Webseiten ebenfalls zugänglich gemacht. Zur Vernetzung gehören auch die Organisation von Hofbesuchen. Ähnlich wie Saatgut-Tauschbörsen soll so eine Börse für den Austausch von Ideen und Know-how über nachhaltige landwirtschaftliche Praxis entstehen.
Die hohen Produktionskosten, die einen grossen Teil der Einnahmen wegfressen zugunsten einer allmächtigen vor- und nachgelagerten Industrie, geben vielen Bauern das Gefühl, „erwürgt zu werden“, wie Pissenlit immer wieder feststellte. Die Bauernfamilien fühlen sich aber auch oft eingeklemmt zwischen den Erwartungen der Konsumenten an hohe ökologische Standards einerseits und ihrer Forderung nach günstigen Preisen andererseits. „Viele Bauern verlieren in einem solchen Umfeld den Stolz auf ihrem Beruf zunehmend, weil sie es nicht schaffen, menschwürdig von ihrer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten, als grundlegend empfundenen Arbeit würdig zu leben,“ meinten die Studierenden im Gespräch.
Worauf Pissenlit in seinem unkonventionellen, von gegenseitiger grosser Offenheit und Interesse geprägten Projekt gestossen ist, scheint uns bemerkenswert. Ein vergleichbares Projekt aus der Deutschschweiz ist uns nicht bekannt – mehr noch: es wäre wohl nur schwer vorstellbar. Bei unserer Arbeit in der Romandie stellen wir immer wieder fest, wie anders unter den Bauern wie in der Öffentlichkeit über Landwirtschaft diskutiert wird. In der Deutschschweiz stehen der soziale Aspekt, die individuelle Lebensqualität und die persönlichen Motive selten im Fokus. Die Diskussionen verlaufen auf einer scheinbar viel rationaleren Ebene, bei der Zahlen und Konzepte im Vordergrund stehen, die Befindlichkeiten und die dahinter stehenden menschlichen Kräfte aber gerne auf der Strecke bleiben.
Immerhin: Ein in Teilen ähnliches Projekt existiert, und es trägt sogar fast den gleichen Namen: «von Bauern für Bauern»: Die Biologin Patricia Fry erstellt seit 2002 Filme, mit der sie positive Erfahrungen von Bauern und Winzern an andere Bauern, Berater oder Lehrer vermittelt, sei es für eine schonende Bodennutzung, Biobergackerbau oder Weidepflege und Weideführung.
Auch der Verein Pissenlit möchte noch mehr auf das Mittel des bewegten Bildes setzen. Und er sucht Partner für eine weitere Verbreitung der Ergebnisse und eine Weiterentwicklung des Projektes. Vision Landwirtschaft stellt sich als Brücke in die Deutschschweiz zur Verfügung und hat angeregt, auch die von Pissenlit initiierte Vernetzung von Wissen und Ideen über die Sprachgrenze hinaus auszudehnen. So wie Löwenzahnsämchen sich nicht an Sprachgrenzen halten, wenn sie vom Winde verweht werden, so sollen es auch Ideen. Wir freuen uns, wenn sich Landwirtschaftsbetriebe oder Organisationen bei uns melden, die sich an diesem grenzüberschreitenden Vorhaben beteiligen möchten!
Möglichst viel zu produzieren ist zum wichtigsten Ziel einiger bäuerlicher Organisationen geworden. Begründet wird es mit der Versorgungssicherheit. Szenarienrechnungen von Vision Landwirtschaft zeigen: Damit wird die Versorgungssicherheit nicht erhöht sondern geschwächt. Selbst mit einer Minderproduktion von 10-20% wäre die Schweiz gerüstet, sich in Krisenzeiten selber ernähren zu können.
(VL) Die Schweizer Agrarpolitik ging bisher von der Annahme aus, dass die landwirtschaftliche Produktion zumindest mit der Bevölkerungsentwicklung Schritt halten müsse, um für Krisensituationen die Versorgungssicherheit aufrecht zu erhalten. Die wesentliche Frage aber ist: Welche Nahrungsmittelproduktion ist unter normalen Bedingungen überhaupt erforderlich, damit die Produktion im Fall einer Krise auf eine weitgehend autarke Versorgung der Bevölkerung umgestellt werden kann? Bewirkt eine laufend steigende Produktion tatsächlich eine Erhöhung der Versorgungssicherheit für die Schweiz? Und trägt eine weitere Produktionssteigerung zur Minderung der globalen Ernährungsprobleme bei – oder bewirkt sie vielmehr das Gegenteil davon?
Szenarienrechnungen
Diese Fragen wurden bisher kaum gestellt und noch weniger untersucht. Somit fehlen auch die Grundlagen für zielgerichtete staatliche Massnahmen im Bereich der Versorgungssicherheit. Mit Szenarienrechnungen ist Vision Landwirtschaft einigen zentralen Zusammenhängen nachgegangen.
Die Analysen zeigen, dass für die Versorgungssicherheit nicht die Kalorienproduktion unter normalen Bedingungen entscheidend ist, sondern - neben den Pflichtlagerbeständen - einerseits das natürliche Produktionspotenzial und anderseits die Produktionsbereitschaft, also die Fähigkeit, Produktion und Verarbeitung im Krisenfall an den Nahrungsmittelbedarf der Bevölkerung anzupassen. Um diese Produktionsbereitschaft sicherzustellen, genügt es, wenn unter normalen Bedingungen auf insgesamt 150'000 Hektaren Brotgetreide, Kartoffeln, Zuckerrüben, Raps und Gemüse produziert werden. Die Hektarerträge können dabei gegenüber heute etwas zurückgefahren werden, um die Umweltbelastungen zu reduzieren und die Bodenfruchtbarkeit zu erhalten.
Produktionspotential entscheidend
Die übrigen Fruchtfolgeflächen, rund 250'000 Hektaren Ackerland, sind zwar als Reservefläche entscheidend für die Produktionssteigerung in Krisen. Aber die Produktionsmenge auf diesen Flächen hat ausserhalb von Krisen keinen Einfluss auf die Versorgungssicherheit. Wesentlich ist nur, dass die jetzige Produktion die natürlichen Ressourcen, insbesondere die Bodenfruchtbarkeit und damit das Produktionspotenzial nicht schädigt.
Tierproduktion mit eigenem Futter ausreichend
Bei der Fleisch- und Milchproduktion sind diejenigen Mengen, die mit inländischem Tierfutter, insbesondere aus dem Grünland, produziert werden können, für die Versorgungssicherheit ausreichend. Die nötige Produktionsbereitschaft kann auch bei einer um 10-20% geringeren Kalorienproduktion als heute gewährleistet werden. Aus Sicht der Versorgungssicherheit ist die heutige Produktionsintensität nicht notwendig, vielmehr möglicherweise sogar kontraproduktiv, weil sie nämlich in verschiedener Hinsicht die Produktionsgrundlagen schädigt.
Keine Zielkonflikte mit Versorgungssicherheit
Die Ergebnisse der Berechnungen zeigen, dass die vielfach vermuteten Zielkonflikte zwischen einer sicheren Versorgung und den weiteren Zielen der Agrarpolitik – insbesondere der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und der Pflege der Kulturlandschaft – gar nicht existieren. Die Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit ist vielmehr gut vereinbar mit einer nachhaltigen Landwirtschaft, welche die angestrebten Umweltziele des Bundes im Bereich Landwirtschaft erreicht. Auch aus globaler Sicht vernünftig
In der Schweiz etwas weniger zu produzieren und dafür von einigen Nahrungsmitteln etwas mehr zu importieren ist auch aus globaler Sicht sinnvoll. Namhafte Studien zeigen, dass die vergleichsweise extensive Produktion in Osteuropa und anderen Regionen der Welt mit weit geringerem Ressourcenverbrauch und geringeren Umweltbelastungen gesteigert werden kann als die bereits intensive Produktion in der Schweiz. Der Beitrag der Schweiz zur globalen Ernährung ist ohnehin marginal.
1,1 Milliarden Franken Versorgungssicherheitsbeiträge nicht nötig
Die Ergebnisse der Studie stellen die 2014 eingeführten Versorgungssicherheitsbeiträge weitgehend in Frage. Die Beiträge machen mit 1,1 Milliarden Franken pro Jahr mehr als ein Drittel der Direktzahlungen aus. Mit Erstaunen ist festzustellen, dass dieses kostspielige Instrument bei seiner Einführung nie nachvollziehbar begründet und seither auch nie auf seine Wirkung hin evaluiert worden ist. Vision Landwirtschaft hat mit der vorliegenden Studie die notwendigen Basisdaten erarbeitet und erwartet nun vom Bund, dass er die Überprüfung dieser Beiträge vornimmt und die notwendigen Schlüsse für die zukünftige Agrarpolitik zieht.
Gemäss einer kürzlich erschienen Umfrage erwartet die Schweizer Bevölkerung, dass die Schweizer Landwirtschaft den eingeschlagenen Weg der Agrarreform 2014-17 zu mehr Nachhaltigkeit weitergeht. In diesen Wochen wählt das Volk ein neues Parlament. Damit werden auch die Weichen für die zukünftige Ausrichtung der Agrarpolitik gestellt.
(VL) Das Thema Landwirtschaft spielte in diesem Wahlkampf keine Rolle. Eigentlich verwunderlich, bemühen sich doch breite bäuerliche Kreise, die neue Agrarpolitik (AP14-17) schlecht zu reden. Dies obwohl die Fakten zur AP14-17 eine ganz andere Sprache sprechen. Wie eine kürzlich im Auftrag des Bundesamtes für Landwirtschaft erstellte Studie zu den Erwartungen der schweizerischen Bevölkerung an ihre Landwirtschaft zeigt, stützt die Schweizer Bevölkerung klar den Reformprozess der Agrarpolitik. Eine naturnahe Produktion von Nahrungsmitteln und die Erhaltung der ökologischen Vielfalt durch schonende Produktionsformen sind für die Bevölkerung besonders wichtige Anliegen.
Die Stimmbürger und Stimmbürgerinnen können bei den bevorstehenden Parlamentswahlen über die zukünftige Entwicklung der Agrarpolitik mitentschieden. Die Crux dabei: Die Agrarpolitik ist komplex, und nur wenige Parteien und Parlamentarier äussern sich konkret zu ihren Zielen in der Landwirtschaft. Vision Landwirtschaft hat deshalb das agrarpolitische Verhalten der Parteien unter die Lupe genommen und ist dabei zu einem überraschenden Schluss gekommen.
Agrarpolitik scheint wie kaum ein anderer Politikbereich anfällig für Populismus. Als Populismus gilt in der Politik ein Verhalten, welches möglicherweise Wählerstimmen bringt, aber sachlich sinnvollen Lösungen und den eigenen Überzeugungen bzw. denjenigen der eigenen Partei zuwiderläuft. Warum im Landwirtschaftsbereich Sachpolitik oft einen schweren Stand hat, hat zwei wesentliche Gründe. Parlamentarier, vor allem solche aus bäuerlichen Kreisen, die sich in agrarpolitischen Abstimmungen gegen die Bauernlobby stellen, werden regelmässig angefeindet und ausgegrenzt. Dabei spielen die Landwirtschaftsmedien, die entweder dem Schweizer Bauernverband selber gehören oder mit diesem eng kooperieren, eine erhebliche Rolle. Nach jeder wichtigen agrarpolitischen Abstimmung erscheinen Artikel, welche diejenigen Politiker bzw. Parteien namentlich nennen, die in agrarpolitischen Abstimmungen nicht im Sinne des Bauernverbandes gestimmt haben. Eine kritische und ausgewogene Auseinandersetzung auf sachlicher Ebene findet in der bäuerlichen Presse praktisch nicht statt. Pauschalurteile und verbandskonforme Werthaltungen dominieren die Diskussion.
In den nichtbäuerlichen Medien werden agrarpolitische Abstimmungen parteipolitisch dagegen kaum je analysiert. Denn die Agrarpolitik interessiert ein breites Publikum wenig. Im Hinblick auf die eigene Popularität lohnt sich deshalb Sachpolitik im agrarpolitischen Bereich für Parlamentarier nicht – ein wichtiger Grund, warum die Agrarpolitik immer wieder von irrational scheinenden parlamentarischen Abstimmungsresultaten geprägt ist und warum scheinbar der Einfluss der "Bauernlobby" so gross ist.
Am konsequentesten für sachpolitische Lösungen, die zugleich in Übereinstimmung mit den Parteizielen liegen, hat sich die GLP eingesetzt. Diese hat sich zudem immer wieder mit eigenen Anträgen für eine zielorientierte Agrarpolitik im Sinne der klaren Verfassungsziele Art. 104 stark gemacht. Ebenfalls weitgehend der populistischen Versuchung widerstehen konnten die SP und die Grünen.
Wenig einheitlich agierten die Mitteparteien und die FDP. In der FDP finden sich auffallend oft Politiker, die bei der Landwirtschaft diametral gegen liberale Anliegen stimmen. Ein direkter Einfluss von Bauernverbandssekretär und FDP-Nationalrat Francois Bourgeois auf seine Parteikollegen ist unübersehbar. In der CVP hat sich die Balance zugunsten der Agrarlobby verschoben, seit CVP-Nationalrat Markus Ritter als neuer Bauernverbandspräsident seine Partei auf Kurs zu bringen versucht. Noch 2012, während der Debatte im Parlament zur Agrarreform, war dies anders. Damals gelang es dank Unterstützung einer Handvoll sachkundiger Politiker der Mitteparteien, wie dem Bündner BDP-Nationalrat Hassler, die mutigen Vorschläge des Bundesrates gegen erbitterten Widerstand von SBV und SVP weitgehend unbeschadet durch das Parlament zu bringen.
Praktisch geschlossen stimmt die SVP, und zwar fast ausnahmslos im Sinne der Agrarlobby. Dies ist aus sachpolitischer Warte erstaunlich. Als Partei, die sich Sparen bei Staatsausgaben und eine leistungsorientierte Verwendung von Steuergeldern ganz oben auf die Fahne geschrieben hat, stimmt die SVP im Landwirtschaftsbereich praktisch geschlossen für besonders ineffiziente Pauschalzahlungen anstelle zielorientierter Leistungszahlungen. Solche Widersprüche werden kaum je thematisiert. Vielmehr gelingt es der Partei, sich mit ihrem populistischen Engagement als bodenverbundene Bauernpartei zu profilieren.
Mit dem Wahlzettel wird auch Agrarpolitik gemacht. Parlamentarier, die eine von der Agrarlobby unabhängige, sach- und lösungsorientierte Politik zugunsten einer nachhaltigen Landwirtschaft machen, brauchen Mut und Rückgrat. An der Urne können wir dafür sorgen, dass nicht nur Populismus, sondern auch Rückgrat Stimmen bringen.
PS in eigener Sache: Darf eine Denkwerkstatt sich politisch einmischen? Denken und Handeln gehören für Vision Landwirtschaft zusammen. Und Handeln ist in der Schweizer Landwirtschaft ohne Einbezug der Politik wenig wirksam. Vision Landwirtschaft gibt keine Wahlempfehlungen ab. Wir betrachten es aber als unsere Aufgabe, nicht nur fundierte Facharbeit zu leisten, sondern auch Stellung in politischen Prozessen zu beziehen. Vision Landwirtschaft ist unabhängig, aber nicht neutral.
Die neuen Leistungsprogramme der AP 2014-17 sind bei den Landwirten gut angekommen - besser als vom Bund erwartet worden ist. Dies zeigen die aktuell präsentierten Zahlen des Bundesamtes für Landwirtschaft (BLW). Doch nun will das BLW den von ihm selber eingeleiteten Wandel teilweise schon wieder rückgängig machen. Die Biodiversitätsbeiträge sollen massiv gekürzt werden.
Mit mehreren Monaten Verspätung wurden heute die Zahlen zur Beteiligung der Landwirte an den neuen Programmen im ersten Jahr der Agrarpolitik 2014-17 präsentiert. Wie sich bereits abzeichnete, war die Akzeptanz der neuen Leistungsprogramme hoch – deutlich höher als vom Bund erwartet. Die Bauern sind offensichtlich bereit, ihren Beitrag zu einer nachhaltigeren Schweizer Landwirtschaft zu leisten.
Wie mit der Reform beabsichtigt werden durch die verschiedenen Leistungsprogramme die umweltschonende und tierfreundliche Landwirtschaft und eine kostengünstigere Produktion gestärkt. Im Gegenzug wird eine nicht standortgemässe, umweltschädliche Produktion etwas unattraktiver gemacht.
So haben die Biodiversitätsförderflächen, vor allem aber die Anteile von Biodiversitätsförderflächen mit Qualität zugenommen.
Sehr hoch war die Beteiligung der Betriebe am Programm der graslandbasierten Milch- und Fleischproduktion insbesondere im Berggebiet. Von diesem Programm erhofften sich Bundesrat und Parlament einen bremsenden Effekt auf die überbordenden Futtermittelimporte und die zu hohen Tierbestände.
Marktverfälschungen wurden etwas reduziert – allerdings ohne dass die Produktion dadurch zurückgegangen wäre. Diese bewegte sich 2014 auf historischem Rekordniveau.
Generell fliessen mehr Beiträge ins Berggebiet und in Erschwernislagen – damit wird eine Kernforderung der Debatte zur Neuen Agrarpolitik in die Realität umgesetzt.
Die Entwicklung geht also weitgehend in die gewünschte und vom Parlament angedachte Richtung. Die Bäuerinnen und Bauern nutzen die bestehenden und neuen Direktzahlungs-Programme dynamisch und offensiv. Von einem Zusammenbruch der produzierenden Landwirtschaft, wie sie im Vorfeld der Reform immer wieder als Schreckgespenst an die Wand gemalt worden ist, kann keine Rede sein.
Soweit die gute Botschaft. Diese freut allerdings nicht alle. Einige Verbände, die nichts von dieser Reform wissen wollen, konnten das Bundesamt für Landwirtschaft offenbar derart unter Druck setzen, dass es bereits wieder den Rückwärtsgang eingelegt hat. Mit umfangreichen Verordnungsanpassungen – die unter dem irreführenden Titel "Administrative Vereinfachungen" kommuniziert wurden – sollen unter anderem die Leistungsprogramme um Dutzende von Millionen Franken gekürzt werden.
Weitaus am stärksten trifft es die Biodiversität. Das Bundesamt schlägt vor, die dafür vorgesehenen Beiträge um bis zu einem Drittel zu kürzen, insgesamt um mehrere Dutzend Millionen Franken pro Jahr. Dies, obwohl die Artenvielfalt in der Kulturlandschaft nach wie vor zurückgeht oder auf sehr tiefem Niveau verharrt. Bei einzelnen Betrieben würden die Kürzungen bis zur Hälfte der bisherigen Beiträge ausmachen. Für solche, die speziell auf die Biodiversitätsförderung gesetzt haben, ist dies ein Schlag ins Gesicht, der für einige gar existenzgefährdend wäre.
Ein solches Vorgehen handelt gegen Treu und Glauben und verhindert jede Planbarkeit. Es widerspricht auch dem Auftrag des Parlamentes, mit der AP 2014-17 die Direktzahlungen leistungsorientiert auszurichten. Vision Landwirtschaft weist das Herbstpaket mit seinen zahlreichen, wenig ausgegorenen Anpassungen in globo zurück.
Stattdessen fordern wir eine seriöse Auswertung der jetzt präsentierten Beteiligungsahlen und darauf aufbauend ein späteres, ausgewogenes Verordnungspaket, dessen Erarbeitung unter breitem Einbezug betroffener Kreise erfolgen muss.
Dabei darf das Oberziel nicht aus den Augen verloren gehen: Nämlich die Agrarpolitik in der angestossenen Richtung weiter zu entwickeln. Ausgelöst wurden die jetzigen Reformschritte durch den parlamentarischen Auftrag, die Agrarpolitik effizienter zu machen und zunehmend weg von den ineffizienten Pauschalzahlungen zu kommen. Nach wie vor werden derzeit 50% der Direktzahlungen pauschal ausgerichtet. Die Hälfte ist also nicht an konkrete Leistungen geknüpft. Wie mittlerweile vielfach nachgewiesen wurde, schaden solche Giesskannenzahlungen mehr als dass sie einen Nutzen bringen (siehe z.B. Faktenblatt Nr. 2). Die Pauschalzahlungen, insbesondere die problematischen Versorgungssicherheitsbeiträge, sind in einer nächsten Runde zugunsten von Leistungsbeiträgen weiter zu reduzieren. Eine effiziente Agrarpolitik ist also Gegenteil von der Politik, welche das Bundesamt für Landwirtschaft jetzt auf dem Verordnungsweg einzuleiten versucht.
Aus der Stellungnahme von Vision Landwirtschaft zum landwirtschaftlichen Verordnungspaket Herbst 2015:
Die vom Bundesamt für Landwirtschaft gemachten Vorschläge unter dem Titel "Administrative Vereinfachungen" sind einseitig, überzeugen fachlich nicht und haben keine administrative Entlastung zur Folge. Vielmehr verursachen sie auf allen Ebenen zusätzliche Aufwände im Zusammenhang mit unzähligen nötigen Anpassungen.
Darüber hinaus kritisieren wir grundsätzlich, dass derart weitgehende Anpassungen vorgeschlagen wurden, noch bevor Zahlen zur Akzeptanz und Beteiligung an den Programmen vorlagen, und dass die Vorschläge nicht unter ausgewogenem Einbezug betroffener Kreise erarbeitet worden sind. Wir beantragen deshalb einen generellen Verzicht auf die Anpassungen zur "Administrativen Vereinfachung" zum jetzigen Zeitpunkt und eine Verschiebung auf 2017 oder 2018 in wesentlich überarbeiteter Form.
Agrarökologie ist mehr als nur eine Wissenschaft. Sie ist zu einer sozialen Bewegung geworden, die vor allem in Amerika und in Entwicklungsländern an Einfluss gewinnt. Miguel Altieri, Professor in Berkeley (USA) und weltweit bekannter Pionier der Agrarökologie, tritt dieser Tage auf zwei Konferenzen in der Schweiz auf. Was bedeuten die hierzulande wenig bekannten Konzepte für die Schweizer Landwirtschaft? Die Antworten müssten aufrütteln.
Miguel Altieri ist ein kritischer Querdenker unter den renommierten Agrarwissenschaftern. Ursprünglich Entomologe und Spezialist für biologische Schädlingskontrolle, hat er bereits 1995 die Grenzen seines Fachgebietes überschritten und begann, nach ganzheitlichen Lösungen zu suchen. Nicht nur die ökologische, sondern auch die soziale und traditionelle bäuerliche Dimension der Landwirtschaft steht seither in seinem Fokus. Dabei spannt er einen weiten Bogen. Für ihn ist "der wahre Ursprung von Hunger auf der Welt die Ungleichheit. Jede Anbaumethode, welche Ungleichheit verstärkt, wird keinen Beitrag zur Reduktion des Hungers leisten. Einen Beitrag können wir nur von Technologien erwarten, die einen positiven Effekt auf die Verteilung von Wohlstand und Einkommen haben"
Für Altieri gründet die Agrarökologie mit diesem ganzheitlichen Ansatz auf dem Wissen der traditionellen Landwirtschaft. Seine mit unzähligen Forschungsarbeiten untermauerte Vision ist es, daraus eine moderne, wissenschaftlich basierte Landwirtschaft zu entwerfen. Darin sieht er die Antithese zur industriellen Landwirtschaft. Im Zentrum stehen die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft und der Autonomie. Aber auch diese beiden Begriffe versteht Altieri umfassender und radikaler, als wir uns dies im deutschsprachigen Raum gewohnt sind. Er bezieht sie nämlich nicht nur auf die Stoffkreisläufe, sondern ebenso auf die energetische, die soziokulturelle und die kommerzielle Unabhängigkeit. Die Autonomie ruht für Altieri auf zwei Säulen: Auf der Qualität des Bodens, insbesondere seiner biologischen Aktivität, die mit der Zufuhr organischen Materials am Leben erhalten werden muss, und einer Verstärkung der Biodiversität auf dem Boden, die das biologische Gleichgewicht in einer Weise sicher stellt, dass Nützlinge Schädlinge wirksam bekämpfen. Diese beiden Pfeiler garantieren die Gesundheit des Agrarökosystems als Ganzes.
Allerdings erfordert die Realisierung in einer grossmassstäblichen Landwirtschaft grundlegende Anstrengungen. Die Hindernisse, die einer Umsetzung hauptsächlich im Wege stehen, hat Olivier De Schutter zum Zeitpunkt, als er seinen Posten als Ernährungsbotschafter bei der UNO quittierte, besonders klar formuliert (Le Monde 29.4.2014): "Das erste Hindernis ist technologischer Art: Die Modernisierung der globalen Landwirtschaft richtet sich nach einem produktivistischen Modell, das einseitig auf permanente Ertragssteigerungen ausgerichtet ist. Das zweite Hindernis ist sozioökonomischer Art: Einige wenige grosse Firmen dominieren den Markt, und zwar sowohl bei den Herstellern landwirtschaftlicher Betriebsmittel wie bei den Abnehmern landwirtschaftlicher Produkte. Die Möglichkeiten kleinerer und mittlerer bäuerlicher Produzenten sind gegenüber dieser Marktmacht minimal. Der dritte Widerstand ist kultureller Art: Unser stressgeplagtes Leben hängt von einer Ernährung auf der Basis weitgehend transformierter und rasch zu präparierender Ernährung ab. Und schliesslich ist da ein politisches Hindernis: Die Regierungen sind ausgesprochen sensibel auf die Interessen ihrer grossen agroindustriellen Unternehmen. Faktisch kommt ihnen ein Vetorecht zu, wenn es um grundlegende politische Entscheide zur Entwicklung der Landwirtschaft geht."
Altieris agrarökologischer Ansatz, dessen viele Facetten einen Blick in die Originalliteratur lohnen (siehe Links am Schluss des Artikels), tönt auf den ersten Blick äusserst radikal und scheint wenig mit der Situation in der Schweiz zu tun zu haben. Haben wir doch bis heute eine weitgehend bäuerliche, kleinstrukturierte Landwirtschaft erhalten können. Zudem sind wir als Schweizer der tief verankerten Überzeugung, dass wir zu den Pionierländern einer nachhaltigen Landwirtschaft gehören. So erstaunt es nicht, dass die beiden Kongresse, in denen Altieri in den nächsten Tagen in der Schweiz auftritt, auf Entwicklungsländer bzw. die globale Landwirtschaft fokussiert sind und von Organisationen veranstaltet werden, die in der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind.
Offensichtlich ist es einfacher, in der Entwicklungshilfe agrarökologischen Prinzipien nachzuleben als im eigenen Land. Gemessen an Altieris Kriterien, die wir in Entwicklungsländern heute als selbstverständlich fordern und fördern, ist auch die Schweiz ein Land, das die Landwirtschaft weiter zwingend entwickeln muss. Die Konzepte von Altieri betreffen die Schweizer Landwirtschaft mehr, als uns lieb sein dürfte. Und die Hindernisse, die deren Einführung entgegenstehen, scheinen in der Schweiz besonders hartnäckig zu wirken.
Tatsächlich erlebt Hindernis 1, das "produktivistische Modell", gegenwärtig in der Schweiz eine neue Hochblüte. Die Ernährungskrise im Jahre 2008 wurde von der Industrie und ihrem Gefolge erfolgreich zum Anlass genommen, das Dogma der Produktionssteigerung wieder zur heiligen Pflicht zu erheben. Und es auch umzusetzen: Die Produktionsmenge nimmt in der Schweiz laufend weiter zu. Nie hat die Schweiz so viel produziert wie heute, und dies trotz jährlich abnehmendem Kulturland. Doch der Preis dafür ist hoch. Die Produktionssteigerungen finden längst nicht mehr im Rahmen einer effizienten, ökologisch und sozioökonomisch nachhaltigen Primärproduktion statt, wie sie von Altieri gefordert wird, sondern werden teuer erkauft durch immer höhere Inputs an Futtermitteln, Energie und Technologie. Der grösste Teil davon stammt aus dem Ausland. Dadurch gerät die Schweizer Landwirtschaft selber immer mehr in eine Abhängigkeit der Industrie und ausländischer Importe. Die Ertragssteigerungen erkaufen sich die Bauernfamilien mit immer höheren Kosten und zunehmenden Schäden an Ökosystemen.
Nur: die Kosten der Produktionssteigerungen steigen seit vielen Jahren stärker an als die Erlöse. 2009 verdiente die Schweizer Landwirtschaft – erstmals überhaupt in ihrer Geschichte – aus ihrer Produktion real keinen Rappen mehr (Abb. 1). Ihr Einkommen besteht unter dem Strich nur noch aus Direktzahlungen des Staates. Würde auch noch der in der Schweiz besonders ausgeprägte Marktschutz in diese Rechnung miteinbezogen, würde jeder Schweizer Bauernbetrieb heute statt Lohn jährlich über 50'000 Franken Defizit schreiben (Abb. 2).
Neben dem von Altieri erkannten Verlust an sozioökonomischer Autonomie geht die Produktionssteigerung mit gravierenden Schäden an vielen Ökosystemen einher, wo die Schweiz bei wichtigen Indikatoren zum Schlusslicht in Europa gehört, so beim Energieverbrauch pro produzierte Nahrungsmittelkalorie, bei den ökologisch besonders kritischen Stickstoff¬emissionen oder bei der Biodiversität. Die Schweiz kann es sich allerdings – zumindest vorläufig – leisten, die sozioökonomischen Folgen der Verletzung agrarökologischer Grundprinzipien zu übertünchen, indem sie jedes Jahr Milliarden an staatlichen Geldern in die Landwirtschaft pumpt. Sollten diese Gelder einst in Frage gestellt werden oder die Grenzen sich öffnen und die Produzentenpreise stark sinken, käme die sozioökonomische Misere der Schweizer Landwirtschaft auf einen Schlag zum Vorschein. Dies würde die Schweizer Bauernfamilien zu grossen Teilen unweigerlich in eine existenzielle Krise stürzen.
Wir tun zweifellos gut daran, uns die Einsichten Altieris energisch zunutze zu machen. Sich für Agrarökologie zu interessieren und einzusetzen heisst, die Agrarpolitik kritisch zu hinterfragen und zu einer Wende beizutragen hin zu einer Landwirtschaft, die zukunftsfähig ist und agrarökologischen Prinzipien gerecht wird.
Altieri, M.A. and Rosset, P. (1999). Strengthening the case for why biotechnology will not help the developing world: a response to McGloughlin. AgBioForum, 2(3&4), 226-236.
Bio mag immer "konventioneller" werden. Aber Bio wird auch vielfältiger. Immer mehr Biobetriebe gehen heute weit über die Anforderungen des "gewöhnlichen" Biolandbaus hinaus. Wohin das führen kann, zeigt der Gemüsebaubetrieb von Roger Gündel. Seine Form von Landwirtschaft unterscheidet sich mehr vom Biolandbau als Bio von der konventionellen Anbauweise. Sein "Bio+" zeigt eindrücklich, welches Potenzial in einer natur- und standortgemässen Landwirtschaft steckt.
(VL/ab) Roger Gündel ist Gemüsebauer mit Leib und Seele. Schon sein Vater führte hier eine Gärtnerei. Als der Sohn 1995 einen Teil übernehmen konnte, stellte er sogleich auf Bio um. Doch das war nur ein erster, im Rückblick vergleichsweise kleiner Schritt. Seither folgten viele weitere. Heute unterscheidet sich die Anbaupraxis auf dem Birchhof weit mehr vom "üblichen" Bio als sich Bio von Konventionell unterscheidet.
Roger Gündel mit Helfern
Auf den ersten Blick ist das allerdings kaum sichtbar. Zehn Gewächshäuser umgeben das leicht erhöht liegende Wohnhaus auf dem Hügelzug zwischen Reppisch- und Reusstal. Der Blick schweift über weite Felder und Wälder bis zu den Alpen. Grad neben dem Wohnhaus liegt eine gut ausgerüstete Werkstatt. In einer Halle wird frisch geerntetes Wintergemüse gerüstet. Weiter gegen den Wald zu liegen die Gemüsefelder. Erst als wir sie betreten, fällt auf, dass sie viel grüner sind als gewöhnlich. Vielfältiges Kraut spriesst allenthalben und deckt zusammen mit einer dünnen Mulchschicht den Boden vollständig ab. Roger Gündel ist einer der ersten und wenigen Gemüsebauern in der Schweiz, die konsequent auf pfluglosen Anbau setzen.
Vor vier Jahren hat er vollständig auf diese bodenschonende, CO2-reduzierende und energiesparende Methode umgestellt, nach mehrjährigen Vorversuchen. Auf 600 m Höhe und mit den schweren, lehmigen Böden und eher hohen Niederschlägen ein Wagnis. Wo auch immer er sich umhörte bei Kollegen, erntete er meist nur ungläubige Blicke.
Pflugloser Anbau ist nicht neu, in jüngster Zeit kam er gar eigentlich in Mode. Seit einem Jahr werden dafür sogar spezielle Direktzahlungen ausgerichtet. Immer mehr Mais, aber auch Weizen oder Raps werden heute pfluglos angebaut. Doch dies fast nur auf konventionellen Betrieben. Das Unkraut wird statt untergepflügt mit Herbiziden weggespritzt, was den Verbrauch dieses Pflanzenschutzmittels stark ansteigen liess und die Anbaumethode etwas in Verruf gebracht hat. Pflugloser Anbau ohne Herbizide wird in der Schweiz dagegen auch bei einfachen Kulturen erst von ganz wenigen Produzenten praktiziert, geschweige denn bei schwierigen Kulturen wie Gemüse.
Ein entscheidender Punkt ist die Technik. Gündel tüftelte so lange an Anbaugeräten, bis er die Lösung für seinen Betrieb gefunden hatte. Nach der zweijährigen Kunstwiese, die Bestandteil der Fruchtfolge ist, wird jeweils mit einem leichten Flachgrubber mit Stützrädern flach geschält. Auf den Gemüsefeldern kommt derselbe leichte Traktor zum Einsatz. Gefahren wird damit nur auf Radgassen, einem radbreit stehen bleibenden Wiesenstreifen. Hauptsächlich kommt hier ein Gerät zum Einsatz, welches den Boden lockert und zugleich das spriessende Kraut zwischen den Gemüsereihen niedrig hält oder ausrupft. Ebenfalls Marke Eigenbau.
Mit einer Mulchschicht wird der Unkrautdruck zusätzlich reduziert. Zugleich verbessert sie die Nährstoffversorgung des Gemüses. Überhaupt scheint Mulch ein zweiter wichtiger Schlüssel zum Anbauerfolg auf dem Birchhof zu sein. Vor allem in den Gewächshäusern geht nichts ohne Mulch. Tomaten, Salate, Gurken werden in eine dicke Schicht aus Ried- und Schilfstreue gesetzt – oder die Setzlinge kurzerhand einfach drauf gelegt. Das widerspricht zwar jeglicher Theorie, denn nährstoffarme Streu müsste dem Boden zu viele Nährstoffe entziehen. Es funktioniert aber offensichtlich, nach dem saftig grünen Gemüse und den bisherigen guten Erfahrungen zu schliessen. Mit einer Diplomarbeit soll abgeklärt werden, was dahinter steht. Seit bestimmte Schneckenkörner im Biolandbau zugelassen sind, setzt auch Gündel solche ein, allerdings nur in geringen Mengen, auf dem ganzen Betrieb 25 kg, während sonst oft 50 kg allein pro Hektare verwendet werden. Daneben kommt auf dem Birchhof pro Jahr noch 1 kg Bacillus-Thuringensis- Präparat gegen die Lauchmotte und notfalls den Kartoffelkäfer, sowie maximal 1 Liter pflanzliches Neempräparat gegen Spinnmilben bei Gurken und Auberginen zum Einsatz. Ganz ohne Pflanzenschutzmittel kommt also auch der Birchhof nicht aus. Doch viele Kulturen bleiben völlig unbehandelt, so Salat, Kohlgewächse oder Zwiebeln. Das ist nicht nur gegenüber dem konventionellen Anbau ein riesiger Unterschied, wo beispielsweise Zwiebeln bis zur Ernte rund 30 Mal gespritzt werden. Im Gegensatz zum üblichen Bioanbau setzt Gündel auch kein Kupfer ein, auch nicht bei Kartoffeln. "Die grosse Artenvielfalt, das bodenschonende Anbausystem, aber auch die biodynamischen Präparate haben einen entscheidenden Einfluss, dass die Pflanzen trotzdem gesund bleiben", meint Gündel. Er schaue beispielsweise ganz gezielt, dass immer auf jeder Fläche etwas Blühendes da sei. Oft sind das Pflanzen, die sonst nur als Unkraut verpönt sind. Kräutervielfalt
Das jüngste Birchhof-Projekt betrifft den sozialen Bereich: Gündel möchte seinen Betrieb mittelfristig in eine Genossenschaft überführen, eine "Community Supported Agriculture" (CSA) oder "Regionale Vertragslandwirtschaft", wo die Konsumentinnen und Konsumenten als Genossenschafter Teil des Betriebes sind, sich für die Abnahme einer bestimmten Gemüsemenge verpflichten und gleichzeitig aktiv bei Anbau und Ernte mitwirken. Vor zwei Jahren wurde dazu der Verein Vision Birchhof gegründet. Rund 40 Abonnenten beziehen bereits nach diesem System ihre Gemüsetaschen.
Wer mit Roger Gündel diskutiert, hat das schöne Gefühl: Landwirtschaft ist die spannendste Aufgabe der Welt. Ein Nachmittag reicht bei weitem nicht, die vielen Perspektiven, die im "Wachstum nach innen" liegen, auch nur annähernd zu vertiefen.
Die Gemüsegärtnerei Bio-Birchhof in Zahlen:
Landwirtschaftliche Nutzfläche 14 ha, davon 4 ha Gemüse, 2 ha Weihnachtsbäume, 1 ha Niederstamm-Extensivobstanbau, 4 ha Kunstwiese in der Fruchtfolge, 10% Ökofläche.
5 fest angestellte Mitarbeiter, davon 2 Lehrlinge, bis zu 10 Personen stundenweise
Vermarktung: Markt, Genossenschaft Vision Birchhof, Hofladen, Bioläden in der Region.
Bereits vier Landwirtschaftsinitiativen sind lanciert. Und nun will also auch noch der Bundesrat die Verfassung ändern. Damit ist das Gezerre um die Ausrichtung der Landwirtschaftspolitik – bereits ein Jahr nach Einführung der neuen AP 2014-17 definitiv neu lanciert. Nicht sachliche Gründe, sondern verbandspolitische und wahltaktische Überlegungen stehen dahinter.
Der Aufwand, die Agrarpolitik mit der AP 2014-17 wenigstens ein klein wenig zielorientierter, nachhaltiger und verfassungsgemässer zu gestalten, war und ist riesig – für das Parlament, für die Verwaltung, für die Verbände, und nicht zuletzt auch für die Bauern. Es war deshalb ein breiter Konsens in Landwirtschaftskreisen: Jetzt braucht es vor allem Ruhe und Konsolidierung. Finger weg von raschen weitergehenden Anpassungen.
Zuerst brach der Schweizer Bauernverband (SBV) diesen Konsens mit seiner Ernährungssicherheitsinitiative. SBV-Präsident Ritter lancierte intern das Projekt explizit mit dem Ziel, die Agrarpolitik wieder zurückzudrehen. Der Verband, der sich in der parlamentarischen Debatte um die AP 2014-17 vergeblich mit Händen und Füssen gegen eine effizientere und gezieltere Verteilung der Agrargelder wehrte, hat seine Niederlage nicht verwunden und hofft mit seinem Initiativprojekt, so wieder Einfluss auf die Agrarpolitik zurückzugewinnen.
In Grabenkämpfen mit zielverwandten Gruppierungen hat sich der Bauernverband schliesslich mit einem nichtssagenden Text durchgesetzt, gegen den eigentlich niemand ernsthaft etwas haben kann – ausser dass er völlig unnötig ist und von der jetzigen Verfassung bereits abgedeckt wird. Auf der Strasse wurden die Leute zur Unterschrift motiviert mit dem Versprechen einer nachhaltigeren Schweizer Nahrungsmittelproduktion. Wer sollte da nicht unterschreiben? Generalstabsmässig organisiert, brachte der Verband die Unterschriften entsprechend rasch zusammen. Nur: Bis heute weiss niemand genau, was der Bauernverband mit seinem Text eigentlich will.
Lange wurde die blasse Initiative wenig ernst genommen. Das hat sich mit dem heutigen Entscheid des Bundesrates, dem Volk einen Gegenvorschlag zu unterbreiten, geändert. Die Initiative erhält dadurch unnötiges Gewicht. Der Bauernverband und seine Medienportale reagierten enthusiastisch. Tatsächlich hätte ihm nichts Besseres passieren können. Endlich ist die ersehnte Aufmerksamkeit da.
Wie kommt der Bundesrat auf die abenteuerliche Idee, einer nichtssagenden Initiative einen Gegenvorschlag entgegenzustellen? Hinter der Aktion steht Landwirtschaftsminister Schneider-Ammann. Gegen den Willen des Bundesamtes für Landwirtschaft und vermutlich der meisten Bundesräte hat er diesen Gegenvorschlag durchgepeitscht. Dafür gibt es nur eine Erklärung: Der Gegenvorschlag bietet die Chance, seinen gefährdeten Sitz vielleicht doch noch zu retten, indem sie ihm im Parlament einige Bauernstimmen bringt.
Abgesehen vom wahltaktischen Motiv ist der Gegenvorschlag ein gefährliches Unterfangen. Nicht nur lanciert er frühzeitig das Gezerre um die Agrargelder neu. Noch problematischer ist die verwirrliche Botschaft an das Volk. Der Bundesrat, der seine bisherige Agrarpolitik immer mit der Verfassung legitimierte, will nun diese selber anpassen?
Völlig ungeklärt ist auch die Frage, was ein doppeltes Nein des Volkes bedeuten würde. Die Verwirrung wäre perfekt. Vielleicht wäre es einfach ein Ausdruck davon, dass die Mehrheit offenbar die Nase voll hat vom Gezerre um Milliarden an Steuergeldern und der Orientierungslosigkeit der Agrarpolitik.
Die verbands- und wahltaktischen Manöver werden das komplexe und labile Gebäude der Agrarpolitik weiter schwächen. Es hat bisher nur dank eines breiten Grundkonsenses im Volk gehalten – nämlich dass Landwirtschaft uns allen wichtig ist und deshalb eine weltweit einzigartig hohe Unterstützung mit Bundesgeldern rechtfertigt. Dieser Grundkonsens erhielt schon in der Debatte um die AP 2014-17 erste feine Risse und wird durch die jetzt ablaufenden Ränkespiele wohl weiter bröckeln.
Für Vision Landwirtschaft besonders störend ist die Tatsache, dass der bestehende Verfassungsauftrag von 1996 – ein mit 78% der Stimmenden besonders breit abgestützter Volksentscheid bereits wieder ergänzt werden soll, noch bevor er auch nur einigermassen umgesetzt ist. Auch mit der neuen Agrarpolitik werden über 1,5 Milliarden Franken jährlich ohne klare Zielbestimmung und ohne jeglichen Nachweis ihrer Wirksamkeit im Hinblick auf die Verfassungsziele giesskannenmässig verteilt (s. Kästchen), während eine lange Reihe anerkannter Ziele unverändert ausser Reichweite bleiben und die Wertschöpfung der Landwirtschaft seit vielen Jahren immer weiter sinkt.
Eine konstruktive Diskussion zu führen über Agrarpolitik wird im Gewirre von Initiativen und Gegenvorschlag noch schwieriger. Nichtsdestotrotz: Vision Landwirtschaft wird weiterhin alles dran setzen, nahe an der Sache zu informieren und aufzuzeigen, dass eine nachhaltige, wirtschaftliche und deutlich effizientere, umweltfreundlichere Landwirtschaft – also die Umsetzung des bestehenden Verfassungsauftrages und die Schliessung der bisher unverändert grossen Ziellücken – nicht nur möglich, sondern auch im ureigenen Interesse der Bauernfamilien selber dringend nötig ist.
Gut zu wissen: Hohe Produktion von Lebensmitteln, aber ineffiziente Stützung durch den Staat
Das mit der Agrarpolitik 2014-17 revidierte Direktzahlungssystem gibt der Versorgungssicherheit hohe Priorität. Die Direktzahlungskategorie "Versorgungssicherheitsbeiträge" ist mit jährlich 1.1 Milliarden Franken (durchschnittlich rund Fr. 20'000.- pro Betrieb und Jahr) am höchsten dotiert. Allerdings weisen alle bisherigen Untersuchungen darauf hin, dass diese Versorgungssicherheitsbeiträge kaum etwas mit ihrem Ziel zu tun haben, sondern vielmehr die Versorgungssicherheit eher schwächen, indem sie eine ineffiziente, nicht standortgemässe um-weltschädliche Produktion fördern. Um die Ernährungssicherheit zu verbessern, müsste diese schädliche Direktzahlungskategorie in zielorientierte Instrumente umgelagert werden. Dafür braucht es keine Initiative, sondern lediglich die Umsetzung des bestehenden Verfassungsauftrages.
In der Agrarpolitik 2014-17 sind rund 80 Prozent der Direktzahlungen direkt an die Produktion von Lebensmitteln gekoppelt. Direktzahlungen ohne jeglichen Bezug zur Produktion existieren nicht. Die Schweizer Landwirtschaft produziert aktuell auf Rekordniveau. Eine Extensivierung, die immer wieder wie der Teufel an die Wand gemalt wird, ist inexistent. Auch vor diesem Hintergrund ist eine "Ernährungssicherheitsintiative" abstrus. Auch alle anderen Ziele sind mit der bestehenden Verfassung bereits abgedeckt. Nicht umsonst konnten die Initianten bisher nicht konkret sagen, was sie mit ihrer Initiative bezwecken – ausser dass die Agrargelder in Zukunft wieder möglichst "unbürokratisch" und ohne Leistungsnachweis verteilt werden sollen.
Kaum liegen die ersten Direktzahlungsabrechnungen der Landwirtschaftsbetriebe vor, werden sie gleich für politische Zwecke instrumentalisiert. Mit irreführenden Zahlen von Einzelfällen wollen einige bäuerliche Kreise zeigen, wie "katastrophal" sich das neue Direktzahlungssystem auswirke. Doch eine seriöse Übersicht wird nicht vor Anfangs Februar 2015 vorliegen. Was es jetzt braucht ist nicht eine Neulancierung des politischen Seilziehens, sondern ein konstruktiver Blick nach vorne. Im Zentrum muss die Unterstützung der Bauern und Bäuerinnen bei der Umsetzung der neuen Programme stehen. Denn sie sind es, die eine nachhaltigere, wirtschaftlichere Landwirtschaft erst möglich machen.
Die ersten, provisorischen Abrechnungen verleiten zu weitreichenden Schlüssen. Doch um die tatsächlichen Auswirkungen der neuen Agrarpolitik AP 2014-17 auf die Landwirtschaftsbetriebe seriös zu beurteilen ist es schlicht zu früh. Von einzelnen, teilweise masslos aufgebauschten Verlierern auf die ganze Landwirtschaft zu schliessen ist billiger Populismus. Es wird voraussichtlich bis Februar dauern, bis Seitens der Kantone und des Bundes detaillierte und verlässliche Zahlen vorliegen, welche Regionen, welche Betriebstypen, welche Produktionsrichtung eher profitierte und welche eher Einbussen hinnehmen mussten.
Was kann derzeit mit Sicherheit gesagt werden?
Gewinner und Verlierer halten sich die Waagschale. Denn die Höhe der Direktzahlungen bleibt mit 2,8 Mrd. Franken insgesamt gleich.
Wer sich bewegt, hat vielfältige und sinnvolle Möglichkeiten, um mögliche Verluste mit den neuen Programmen der Direktzahlungen auszugleichen oder gar überzukompensieren. Das haben Analysen von Betrieben mit schwieriger Ausgangslage gezeigt
Die Betriebe sind beweglicher als der Bund erwartet hat. Die Teilnahme an den neuen Programmen übertrifft die Prognosen teils beträchtlich, wie die neuesten Zahlen zeigen. Dies spricht für die pragmatische, positive Haltung der Mehrheit der Landwirtschaftsbetriebe.
Das Einkommen der Landwirtschaft hängt keineswegs nur von den Direktzahlungen ab. Das grösste Potenzial zur Verbesserung des landwirtschaftlichen Einkommens liegt in der Reduktion der derzeit in der Schweiz viel zu hohen Produktionskosten und einer ressourceneffizienteren Produktion. Die Anreize des neuen Direktzahlungssystems helfen mit, diese Potenziale besser zu nutzen. Dies hilft auch der Umwelt, weil die meisten der teuer eingekauften Vorleistungen der Landwirtschaft der Umwelt schaden (z.B. Kraftfuttereinsatz) .
Die vom Schweizer Bauernverband und seinen Medienportalen genannten Beispielbetriebe, die gravierend verlieren sollen, haben mit Sicherheit die Möglichkeiten nicht ausschöpft, die ihnen das neue System zur Verbesserung des Einkommens bietet. An solchen Betrieben die neue Agrarpolitik zu messen ist unseriös und kontraproduktiv (s. Kästchen).
Was es jetzt braucht ist der positive Blick nach vorne. Die zentrale Frage ist dabei: Wie können die Landwirtschaftsbetriebe optimal darin unterstützt werden, damit sie die Möglichkeiten hin zu einer verfassungsgemässen, das heisst ressourceneffizienteren, wirtschaftlicheren, standortgerechteren und umweltfreundlicheren Landwirtschaft auch tatsächlich nutzen können? Vision Landwirtschaft will dazu einen Beitrag leisten und sucht mit Partnerorganisationen nach pragmatischen Wegen, um Landwirtschaftsbetriebe umfassend gesamtbetrieblich unterstützen zu können. Die ersten Resultate sind vielversprechend.
Wermutstropfen GMF
Auch wenn erst vereinzelte Übersichtsdaten vorliegen – einige Wermutstropfen des neuen Systems sind dennoch nicht zu übersehen. Der bitterste betrifft zweifellos das neue Programm der "Graslandbasierten Milch- und Fleischproduktion" (GMF). Gemäss Meldung des Bundesamtes für Landwirtschaft haben sich 70% der Landwirte beim GMF-Programm angemeldet – in Grünlandgebieten die grosse Mehrheit der Betriebe. Im Kanton Graubünden sind es gemäss einer Schätzung gar gegen 100%. Damit ist das eingetroffen, was Vision Landwirtschaft prognostiziert hat: Das GMF-Programm ist derart verwässert worden, dass es zu einem JeKaMi ("jeder kann mitmachen") degeneriert ist. Als verkappten Tierhalterbeitrag steht es heute praktisch allen Betrieben mit Raufutterverzehrern offen. Mit graslandbasiert hat es wenig am Hut. Doch wenn alle scheinbar gewinnen, verlieren die, die tatsächlich eine Leistung erbringen. Denn für sie fehlt das Geld, das bereits giesskannenmässig verteilt ist.
Verlierer Mutterkuhhalter
Die grossen Verlierer dieses Spiels dürften im Falle des GMF-Beitrages neben Milchproduzenten mit wenig oder keinem Kraftfuttereinsatz vor allem die Mutterkuhhalter sein. Sie füttern naturgemäss wenig Kraftfutter und wären prädestiniert gewesen für dieses Programm. Bei den Mutterkuhbetrieben kommt erschwerend dazu, dass sie aus verschiedenen Gründen mehr Probleme haben, allfällige Direktzahlungsverluste zu kompensieren – dies, obwohl viele hohe ökologische Leistungen erbringen. Mit einem GMF-Beitrag, welcher diesen Namen verdient und der wie ursprünglich in der parlamentarischen Debatte noch versprochen auch attraktive Prämien geboten hätte, wäre ein Ausgleich für die Mutterkuhhalter möglich gewesen. Nun müssen diese Betriebe den von 300 auf 200 Fr./ha reduzierten GMF-Beitrag mit dem Grossteil der Tierhalter teilen, die ihre Tiere deutlich weniger "graslandbasiert" füttern. Vision Landwirtschaft will mit Unterstützung tatsächlich graslandbasierter Produzenten erreichen, dass dieses Programm in der ursprünglich angedachten Form doch noch zum Leben erweckt wird – mit Anforderungen, die dem Wort "graslandbasiert" tatsächlich entsprechen, und mit Beiträgen, die diese Leistung angemessen und attraktiv entschädigen.
In die richtige Richtung
Trotz einiger Wermutstropfen gehen die Anreize mehrheitlich in die vom Landwirtschaftsartikel in der Bundesverfassung vorgegebene Richtung und das neue Direktzahlungssystem scheint bei der grossen Mehrheit der Bauern anzukommen. Die Agrarallianz, welche bäuerliche Organisationen sowie die Konsumenten-, Umwelt- und Tierschutzorganisationen vertritt, spricht sich deshalb für Kontinuität in der Landwirtschaftspolitik der nächsten acht Jahre aus. Diese Haltung unterstützt auch Vision Landwirtschaft. "Die Bäuerinnen und Bauern soll man jetzt arbeiten lassen. Das schafft Vertrauen. Ohne Vertrauen sowie verlässliche Rahmenbedingungen lässt sich die Zukunft nicht gestalten. Korrekturen der geltenden Gesetzesgrundlagen sind nur glaubwürdig, wenn die Erfahrungen mit dem weiterentwickelten Direktzahlungssystem umfassend und transparent ausgewertet werden", schreibt die Agrarallianz in ihrer Medienmitteilung.
Weiterführende Informationen:
Hohe Beteiligung an den neuen Direktzahlungsprogrammen: Medienmitteilung des Bundes mit provisorischen Zahlen zur Mittelverteilung
Die Förderung der teilweise oder ganz bodenunabhängigen, nicht standortgemässen Tierproduktion durch Bund und Kantone steht in mehrfachem Widerspruch zu übergeordneten politischen und gesetzlichen Vorgaben – so zur Raumplanung, zu den Umweltzielen Landwirtschaft, aber auch zu den landwirtschaftlichen Verfassungszielen einer nachhaltigen, bäuerlichen Produktion. Der Boom neuer Stallbauten ohne genügende betriebliche Futterbasis darf nicht weiter mit Steuergeldern und Privilegien gefördert werden.
(VL) Seit Jahrzehnten werden Stallbauten im Landwirtschaftsgebiet bewilligt und zudem oft mit staatlichen Mitteln gefördert, selbst wenn dafür die Futterbasis auf dem betreffenden Landwirtschaftsbetrieb fehlt. Als Folge davon haben Futtermittelimporte in die Schweiz immer grössere Ausmasse angenommen. Mittlerweile sind es mehr als eine Millionen Tonnen (!), die jährlich in die Schweiz importiert werden. Damit bewirtschaften wir im Ausland - vor allem in Südamerika - Ackerflächen, die gleich gross sind wie die Ackerfläche der Schweiz. Und dies einzig, um die überhöhten Tierbestände im Inland ernähren zu können. Vielfältige Umweltprobleme sind die Folge: Belüftete Seen, Gülletransporte durch die halbe Schweiz, und Ammoniakemissionen, die europaweit zu den höchsten zählen und die bei empfindlichen Ökosystemen wie Wäldern, Mooren oder irreversible Schäden hinterlassen, sind nur drei Beispiele. Die Umweltbelastung steht klar im Widerspruch zu den Umweltzielen der Schweizer Agrarpolitik (UZL). Auch raumplanerisch ist der Stallbauboom widersinnig, weil damit wertvolle Fruchtfolgeflächen zugebaut und zusätzliche Bauten in der freien Landschaft ausserhalb der Bauzone gefördert werden.
Vorgelagerte Industrie als treibende Kraft
Über viele Jahre betraf der Boom neuer Ställe vor allem die Schweineproduktion. Unzählige Schweineställe entstanden in der Landwirtschaftszone, deren Tiere ausschliesslich durch Futter, das auf den Betrieb importiert werden muss, gemästet werden und deren Jauche auf den betriebseigenen Flächen oft gar nicht verwertet werden kann, sondern teils über weite Distanzen wegtransportiert werden. Seit der Schweinemarkt in der Schweiz gesättigt ist, setzt die Branche auf neue, grosse Milchviehställe, vor allem aber auch auf neue Ställe für die Pouletmast und Eierproduktion.
Die hauptsächliche treibende Kraft hinter diesen Bauten ist die sogenannte vorgelagerte Industrie – Firmen also, welche beispielsweise das Futter liefern oder die Ställe bauen. Mit jedem neuen Stall, der auf Futtermittelimporte angewiesen ist, sichert sich die Futtermittelbranche langfristig zusätzlichen Absatz. Dabei geht es um viel Geld: Der Zukauf von Futtermitteln bei UFA & Co stellt mit gut 1,5 Milliarden Franken jährlich den weitaus grössten Ausgabeposten der Schweizer Bauernbetriebe dar (s. Grafik unten). Jeder zusätzliche Stall sichert der Futtermittelindustrie langfristig zusätzlichen Umsatz.
Vor allem grosse Hühnermasthallen schiessen derzeit in einigen Regionen wie Pilze aus dem Boden. Dadurch kommen immer mehr industrielle Bauten, welche nichts mit einer bodengebundenen Landwirtschaft zu tun haben, in die freie Landschaft zu stehen. Nicht minder problematisch sind überdimensionierte, auf Futterzukäufe angewiesene Kuhställe.
Diese Entwicklung steht im Widerspruch zu raumplanerischen Zielen, belastet die Umwelt, führt zum Verlust von Kulturland und nicht zuletzt auch zu einer innerlandwirtschaftlichen Konkurrenzierung der standortgerechten, bodenabhängigen Tierproduktion.
Fehlende gesetzliche Basis auf Bundesebene
Obwohl die Problematik dieser Entwicklung von den meisten kantonalen Behörden erkannt wird, fehlt ihnen fast immer die Handhabe, Bewilligungen von Gesuchen zu verweigern. Der Grund liegt in einer mangelhaften Gesetzgebung auf Bundesebene. Die gegenwärtige Gesetzgebung behandelt Tierproduktion auch dann als landwirtschaftliche Produktion, wenn dafür keine genügende oder de facto auch gar keine betriebliche Futterbasis besteht, die Produktion also teilweise oder ganz auf importierten Futtermitteln basiert. Dadurch profitiert die bodenunabhängige und damit nicht-landwirtschaftliche Tierproduktion von all den vielfältigen Förderungen durch die öffentliche Hand, als ob es sich um eine landwirtschaftliche Primärproduktion handeln würde. Zu diesen öffentlichen Förderungen gehören Investitionskredite, Starthilfen oder Direktzahlungen für bestimmte Tierhaltungsformen. Finanziell ausschlaggebend ist auch die Tatsache, dass die Bauvorhaben auf vergleichsweise extrem günstigem Landwirtschaftsland erstellt werden können statt mit Baulandpreisen kalkulieren zu müssen wie andere Industriebetriebe.
Trotz einiger gesetzlicher Beschränkungen sind de facto heute selbst Bauten für eine gänzlich bodenunabhängige Tierproduktion in der Landwirtschaftszone praktisch uneingeschränkt möglich – so über die Ausscheidung von Intensivlandwirtschaftszonen, über findige Berechnungsweisen der sehr flexiblen Futterbilanz, oder indem die Halle neben einen vorher bewilligten kleineren Stall gebaut wird.
Vielfältige Folgeprobleme
Die Erhöhung der Tierproduktion über die regionale Futterbasis hinaus hat zu vielfältigen Folgeproblemen geführt und ist einer der wichtigsten Gründe, dass agrarpolitische und Umweltzielsetzungen nicht erreicht werden. Aufgrund der überhöhten Tierbestände weist unser Land innerhalb Europas die dritthöchsten Ammoniakemissionen auf. Als starkes Umweltgift ist Ammoniak für die Schädigung zahlreicher empfindlicher Ökosysteme wie Wälder oder Moore verantwortlich. Ein anderes Beispiel sind die aus dem Futtermittelimport resultierenden Phosphatüberschüsse, welche die Belüftung einiger Mittellandseen nötig gemacht haben und den Steuerzahlenden Millionenkosten aufbürden.
Nicht zuletzt stellt die Produktion auf Basis importierter Futtermittel eine innerlandwirtschaftliche Konkurrenz dar, die den meisten Bauern bisher kaum bewusst zu sein scheint. Die tiefen Milchpreise sind eine direkte Folge des gestiegenen Kraftfuttereinsatzes in der Milchproduktion, aber auch im Fleischmarkt werden die Preise gedrückt durch jede Kilogramm Fleisch, das durch Importfutter zusätzlich produziert wird. Das kann nicht im Interesse einer bäuerlichen, standortgerechten Landwirtschaft.
Raumplanungsgesetz braucht Zähne
Trotz vielfältiger unerwünschter Nebenwirkungen haben in jüngster Zeit die Bewilligungen neuer Stallbauten weiter zugenommen, insbesondere im Bereich der lukrativen Hühnerproduktion, aber auch von überdimensionierten Rinderställen, die auf importiertes Futter angewiesen sind. Die aktuell laufende Revision des Raumplanungsgesetzes muss sich dieses virulenten Problems vordringlich annehmen. Vision Landwirtschaft hat dazu konkrete Vorschläge für gesetzliche Anpassungen erarbeitet. Tiermast ohne eigene Futterbasis soll sachgemäss nicht mehr als landwirtschaftliche, sondern als industrielle Produktion behandelt werden. Sie soll nicht verboten, aber eingeschränkt werden auf diejenigen Zonen, die für eine solche Produktion raumplanerisch ausgeschieden worden sind: Industrie- und Gewerbezonen.
Von einer solchen Lösung profitiert auch die bäuerliche Landwirtschaft: Ihr bleibt mehr Kulturland erhalten, und die preisdrückenden Konkurrenz durch eine importbasierte, nicht mehr eigentlich landwirtschaftliche Milch- und Fleischproduktion wird zumindest nicht mehr weiter gefördert.
Ökologie oder Tierwohl?
Geschlossene Nährstoffkreisläufe zwischen Boden, Pflanze und Tier sind ein zentrales Element einer ressourcenschonenden, standortgemässen Landwirtschaft. Die hohen Futtermittelimporte zur Ernährung unserer überhöhten Tierbestände zerstören dagegen diese Kreisläufe. Sie verursachen sowohl im Export- wie im Importland Umweltprobleme und führen zur Verschwendung wertvoller Nährstoffressourcen und Energie.
Befürworter einer möglichst grossen inländischen Tierproduktion betonen dagegen, dass der Konsum von Schweizer Fleisch hohes Tierwohl sicherstelle. Tierwohl sei den Konsumenten wichtiger als der Verzicht auf hohe Futtermittelimporte. Ob nun Ökologie oder Tierwohl wichtiger sind, darüber lässt sich lange streiten. Doch ein solcher Streit ist gar nicht nötig. Denn gerne wird verschwiegen, dass auch in der Schweiz mit dem Tierschutz längst nicht alles zum Besten steht. Noch immer stellen beispielsweise die gesetzlichen Vorschriften für Mastschweine und -rinder keine artgerechte Haltung sicher. Vor allem aber wird ausgeblendet, dass auch ausländische Landwirte mindestens so tiergerecht produzieren können und wollen wie wir Schweizer, wenn sie dafür faire Produzentenpreise lösen.
Genau diesen Weg will Migros gehen. In einem zukunftsweisenden Entscheid hat sich der Grossverteiler letztes Jahr verpflichtet, ab 2020 nur noch Fleisch zu importieren, das nach Schweizer Tierschutzstandards produziert wird. Solange die Schweizer Bevölkerung so viel Fleisch konsumieren will wie sie das derzeit tut, sind Fleisch- und Eierimporte unerlässlich. Mit einem Import von tiergerecht produziertem Fleisch kann das Dilemma zwischen Ökologie und Tierschutz wenigstens teilweise aufgelöst werden. Dass auf diesem Weg gute Tierschutznormen im Ausland Fuss fassen könnten, ist ein willkommener Nebeneffekt.
Selten sind sich die Experten so einig: Die vom Bundesamt für Landwirtschaft vorgeschlagenen "Blühstreifen" als neues Element für den ökologischen Ausgleich schaden der Artenvielfalt im Ackerbaugebiet mehr als dass sie ihr nützen. Dennoch hält der Bund an den Blühstreifen fest. Hintergründe eines Schildbürgerstreichs.
(VL) Gerade rund 6 Promille der landwirtschaftlichen Nutzfläche machen die Ökoelemente auf Ackerland in den Ackerbauregionen aus – viel zu wenig, als dass damit die Artenvielfalt wirksam gefördert könnte. Dabei herrscht genau im Ackerland das grösste Defizite bei der Erhaltung der Biodiversität. Von der Erreichung der Umweltziele Landwirtschaft ist man weit entfernt. Seit Jahren werden deshalb Überlegungen angestellt, wie die Situation verbessert werden kann. Erste, wenn auch noch zaghafte Schritte wurden, beispielsweise mit der Einführung des Ökoelementes "Saum auf Ackerland", bereits unternommen – einem Element, das die Bauern bis jetzt noch viel zu wenig kennen. Zudem zeitigen in einigen Regionen Bemühungen beispielsweise im Rahmen von Vernetzungsprojekten erfreuliche Resultate.
Dennoch ist klar: Dies allein genügt nicht. Nun haben findige Köpfe mit Unterstützung der vorgelagerten Landwirtschaftsindustrie die Defizite im Ackerbaugebiet als Aktionsfeld für die eigenen Interessen entdeckt. Blühstreifen, angesät mit fast ausschliesslich nicht einheimischen, schnell wachsenden Zwischenfrüchten, die über kurze Zeit viel Pollen und Nektar produzieren, sollen den von Pestizidcocktails gebeutelten Bienen helfen. Die Bauer sollen dafür mit bis zu Fr. 3'500 pro Hektare entschädigt werden. Mit dem populären Argument der Bienenförderung lässt sich das gut vermarkten und findet bei den Imkern Anklang. Die Pestizidproduzenten wollen damit zeigen, dass sie ein Herz für die Bienen haben. Und die Saatgutfirmen können jährlich die nötigen Samenmischungen liefern - damit lässt sich viel mehr Geld verdienen als mit langfristigen Ökoflächen. Eine Win-Win-Situation, mit der offenbar genügend Druck auf das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) ausgeübt werden konnte, um die starken Bedenken von Fachleuten gegen diese Art von Blühstreifen in den Wind zu schlagen.
Die Kritik, die dem BLW entgegenschlug, war und ist heftig. Ausser der Honigbiene profitieren kaum wildlebende Bestäuber und bedrohte Arten des Ackerlandes von diesem neuen "Ökoelement", im Gegenteil. Weil die Blühstreifen kurz nach der Blüte wieder untergepflügt werden, fungieren sie als Falle für zahlreiche Insekten wie Wildbienen, welche sich darin ansiedeln, aber nicht längerfristig überleben können. Als noch gravierender wird die Konkurrenz zu den bestehenden, langfristigen und ökologisch wertvollen Ökoelemente im Ackerbau beurteilt: Denn die neuen Blühstreifen müssten lediglich 100 Tage stehen gelassen werden und könnten bis eine halbe Hektare gross sein. Einfacher liessen sich die 7% Ökoflächen, zu welchen die Blühstreifen gezählt werden sollen, nicht erreichen. Wer will sich da noch mit Buntbrachen, Blumenwiesen oder Säumen auf Ackerland herumschlagen und sich damit langfristig binden?
Die von verschiedenen Organisationen, darunter Vision Landwirtschaft, bereits frühzeitig geäusserte Ablehnung gegenüber den Blühstreifen veranlasste das BLW dazu, von der bundeseigenen Forschungsanstalt Agroscope Reckenholz ein Gutachten zu erstellen. Dieses bestätigte, dass die Blühstreifen nicht zielführend sind, sondern im Gegenteil eine Schwächung des ökologischen Ausgleichs im Ackerbaugebiet bewirken, also dort, wo ohnehin die grössten Defizite zur Erreichung der Biodiversitätsziele bestehen. Eine im Rahmen des Gutachtens befragte Expertenrunde kam einhellig zum gleichen Schluss. Klarer kann das Verdikt nicht sein.
Vision Landwirtschaft stellte sich bei der Vernehmlassung vollumfänglich hinter die Kritikpunkte der Agroscope und der beigezogenen Experten. Wir fordern den Bundesrat und das BLW auf, die Blühstreifen als BFF-Element, wie die Ökoflächen neu heissen, zu streichen und stattdessen allenfalls unter der Kategorie der Produktionssystembeiträge eine Bienenweide in die Direktzahlungsverordnung aufzunehmen, womit die Konkurrenzgefahr zu den bestehenden wertvollen Ökoflächen gebannt wäre.
Wir sind gespannt, wie der Schildbürgerstreich zu Ende geht. Vision Landwirtschaft bleibt dran.
Christophe Viret bewirtschaftet 45 ha Ackerbau und Wiesland oberhalb von Morges am Genfersee. Vor 20 Jahren einer der ersten, die auf pfluglose Bodenbearbeitung umstellten, praktiziert er heute diese anspruchsvolle Methode selbst mit Bio-Label erfolgreich. Dank tieferen Kosten und im Verbund mit weiteren innovativen Schritte konnte er seinen Hof aus der Schuldenfalle befreien und so die einst schmerzlich verlorene Autonomie wieder zurückgewinnen.
(ABe) Christophe Viret darf mit Genugtuung über seine fruchtbaren Felder blicken. Denn seit er den Milchwirtschafts-Ackerbaubetrieb von seinem Vater übernahm, hat sich viel verändert. Damals, frisch zurück aus der Landwirtschaftsschule, versuchte er voller guten Willens, das Gelernte auf seinem Hof anzuwenden. Doch schon bald stellte er fest, dass die konventionelle Bewirtschaftung seinen Feldern wenig angemessen war und nicht den gewünschten Ertrag brachte.
Am Beispiel eines Sonnenblumenfelds verdeutlicht er, was er damit meint: Um die Erträge auch nur halten, musste er Jahr für Jahr auf mehr auf Dünger und Pflanzenschutzmittel zurückgreifen. Bis er feststellte, dass Einkommen und Produktionskosten nicht mehr übereinstimmten. Bis die Verschuldung schliesslich das Überleben seines Betriebes in Frage stellte. Viret entschied sich für die pfluglose Bodenbearbeitung im Ackerbau. Mit diesem System konnte er einerseits Kosten sparen und damit das dringend benötigte Einkommen erhöhen. Er musste dadurch nicht mehr "nur für die Bezahlung der Betriebsmittel arbeiten. Man muss den Boden nachhaltig sich selbst überlassen, möglichst wenig intervenieren", ist Viret heute überzeugt. "Unkraut ist das Zeichen von Problemen der Struktur oder der Bodenbearbeitung, und nicht ein Problem, das untergepflügt oder totgespritzt werden muss. Die Erde braucht organische Substanzen, nicht die Pflugschare".
Christoph Viret entschied sich auch bei der Viehhaltung für einen in seiner Gegend damals alles andere als alltäglichen Schritt: Den Wechsel auf das Jersey-Rind. Keine Rasse liefert Milch mit einem höheren Gehalt an Proteinen und Fett. Dazu kommt die Eignung für eine relativ extensive Fütterung. Auch hier zeigten seine Berechnungen, dass es rentabler ist, seinen Viehbestand mit Futter aus der eigenen Betrieb zu füttern statt auf zugekauftes Futter und Futterzusätze zu setzen.
Da die Jersey-Milch etwas Besonderes ist, versuchte Viret, diese als Spezialität direkt ab Hof anzubieten. Die Kundschaft war sofort bereit, einen höheren Preis für ein Qualitätsprodukt vom Nachbarn zu bezahlen. Wenn auch der Direktverkauf nie mehr als 10% der produzierten Milch ausmachte, genügte dieser Schritt bereits, um sein Einkommen spürbar zu verbessern.
Auf der Suche nach weiterer Erhöhung der Wertschöpfung begann Viret, Glace und Jogurts mit Frischobst aus dem Garten oder der Umgebung anzubieten – eine Spezialität ohne jegliche Aromen, Farbstoffe oder Konservierungsmittel. Der wirtschaftliche Erfolg liess nicht lange auf sich warten.
Durch Zufall entdeckt Christophe Viret die frühere Vielfalt von Getreidesorten. Einige waren den Bedingungen seines Betriebs weit besser angepasst als die heute gängigen Sorten. Der Anbau gelang selbst ohne Anwendung von Pflanzenschutzmitteln. Sein Projekt steht noch in der Versuchsphase. Doch bereits jetzt beobachtet er, dass die Nachfrage nach alten Sorten einen Boom erlebt. Viret überlegt sich nun den Direktverkauf von qualitativ hochstehenden Mehlspezialitäten.
Ein besonderes Anliegen ist ihm das hofeigene Saatgut. Seiner Ansicht nach ist die Saatgutvermehrung Sache des Landwirtes, nicht der Industrie. "Der Bauer muss verstehen, dass die Samen ihm gehören. Wenn er diese weggibt, gibt er seinen Teil von sich selbst weg. Es braucht hier Mut und Bescheidenheit, das für seinen Hof angepasste Saatgut selber zu bewahren und weiterzuentwickeln".
Vor 2 Jahren hat Christophe Viret seinen Betrieb auf Bio umgestellt. Jahrelang schlug er sich mit der Frage herum, ob der biologische Landbau seinen Ideen tatsächlich entspricht. Je mehr sich seine alternative Bewirtschaftung entwickelte, desto stärker wuchs in ihm die Überzeugung, diesen Schritt zu tun.
Ein weiteres Standbein des Betriebes ist die Agroforstwirtschaft. In der Schweiz werden für die Agroforstwirtschaft praktisch nur Obstbäume gepflanzt. Vor allem in Frankreich verwendet man auch Bäume zur Holzproduktion. Auch wenn ihm das keine Direktzahlungen einbringt, er ist überzeugt, dass dieser von ihm eingeschlagene Weg ihm erlauben wird, auch nach der Pensionierung noch auf dem Hof zu arbeiten kann, ohne Abhängigkeit von Direktzahlungen. "Ich kann mir nicht vorstellen, meine Entscheidungen je wieder rückgängig zu machen, Agrarpolitik hin oder her, ich beanspruche die Freiheit zu handeln, wie ich will".
Hat er Angst vor der Zukunft? "Nein. Pflugloser, bodenschonender Anbau, Agroforstwirtschaft und Optimierung der Milchproduktion sind für meinen Betrieb tragfähige Lösungen, komme was wolle".
Der Schweizer Bauernverband (SBV) startet heute mit der Unterschriftensammlung für seine "Volksinitiative für Ernährungssicherheit". Damit will er "die Versorgung der Schweizer Bevölkerung mit vielfältigen, einheimischen Nahrungsmitteln langfristig erhalten". Genau das will die Verfassung und Politik schon heute. Was also bezweckt der SBV mit seiner Initiative?
(VL) Die Forderungen der Initianten sind weitgehend unumstritten. Ja mehr noch: Sie sind durch den vorhandenen Verfassungsartikel und das Landwirtschaftsgesetzt bereits bestens abgedeckt. In der Verfassung steht schon jetzt, dass die Landwirtschaft einen wesentlichen Beitrag zur sicheren Versorgung der Bevölkerung leisten soll.
Den Initianten geht es denn auch um anderes. Am ehesten erschliessen sich ihre Motive aus einem älteren Initiativtext, den eine Gruppe um SVP-Nationalrat Rudolf Joder und SVP-Grossrat Samuel Graber gemeinsam mit Parteipräsident Toni Brunner am 5. November 2013 den Medien vorgestellt hatte. Darin wurde klar formuliert, wie die Politik neu zu akzentuieren ist. Die zentrale Bestimmung war: "Dabei ist ein möglichst hoher Selbstversorgungsgrad der Bevölkerung zu erreichen." Über das Vehikel des Selbstversorgungsgrades soll – darin sind sich SVP und SBV uneingeschränkt einig – der weiteren Intensivierung der Schweizer Landwirtschaft neuer Schub vermittelt werden und die Reform der Agrarpolitik 2014-17, welche etliche Exzesse wie die Milchüberproduktion mit importiertem Kraftfutter etwas einschränken wird, wieder zurückgedreht werden.
Darauf weist auch das Argumentarium zur Initiative hin, und der SBV scheut sich nicht, mit irreführenden Aussagen zu operieren. Da steht ein Titel: "Sinkende Tendenz des Selbstversorgungsgrads". Der Selbstversorgungsgrad lag nach der üblichen Berechnungsweise über die letzten zwanzig Jahre konstant bei rund 60 Prozent. Im letzten verfügbaren Jahr (2011) lag der Wert gemäss Agrarbericht 2013 des Bundesamtes für Landwirtschaft (BLW) sogar besonders hoch: bei 64 Prozent. Zahlenquelle: Schweizer Bauernverband.
Produktion weiter ankurbeln?
Die Produktion, die trotz abnehmendem Kulturland noch nie so hoch war wie heute, weiter anzuheizen, ist aus Sicht einer umweltschonenden, bäuerlichen Landwirtschaft verantwortungslos und für die Ernährungssicherheit sogar kontraproduktiv:
Die Schweizer Landwirtschaft produziert schon heute weit mehr, als mit den eigenen Produktionsgrundlagen möglich ist. Die Steigerung der "inländischen" Produktion im Sinn der Initianten würde heissen: noch mehr Futtermittel, Dünger und Energie aus dem Ausland importieren. Das würde die Landwirtschaft noch mehr als heute schon vom Ausland abhängig und damit krisenanfälliger machen.
Die weitere Steigerung der inländischen Produktion im Sinn der Initianten würde die unverändert hohen Umweltdefizite der Schweizer Landwirtschaft weiter vergrössern und damit das wichtigste Gut der Schweizer Landwirtschaft, nämlich ihre eigene Produktionsgrundlage, weiter schädigen. Schon heute gehören Bodenverdichtung, zu hoher Pestizideinsatz und Bodenerosion als Folge zu intensiver Bewirtschaftung zu den grössten Problemen der Schweizer Landwirtschaft. Diese Entwicklung schwächt die Ernährungssicherheit unwiderbringlich, beeinträchtigt darüber hinaus die Qualität der produzierten Lebensmittel und gefährdet nicht zuletzt das Image der Schweizer Landwirtschaft.
Bei zunehmender Bevölkerung ist ein zunehmender Import von gewissen Nahrungsmitteln aus globaler Sicht durchaus vertretbar. Wie der SBV in seinem Argumentarium selber schreibt, steht im nahen Ausland pro Kopf gerechnet ein Mehrfaches an Ackerfläche zur Verfügung.
Offene Fragen an die Initianten
Wer denkt, dass es bei dieser Initiative vielleicht doch um Ernährungssicherheit geht, stellt den Initianten am besten ein paar Fragen:
Was müssten der Bundesrat oder das Parlament konkret anders machen, um die Initiative zu erfüllen?
Ist eine weitere Steigerung der Produktion nach wie vor ein Ziel der Initiative?
Ist der SBV bereit, sich für eine verminderte Produktionsintensität einzusetzen, wenn damit die Produktionsgrundlagen für Krisenzeiten besser erhalten werden können?
Die Antworten werden zeigen, ob der SBV tatsächlich um die Ernährungssicherheit besorgt ist, ob es ihm genügt, mit einer inhaltslosen Vorlage Präsenz zu markieren, oder ob es sich um eine veritable Mogelpackung handelt, die auf eine teure und ineffiziente Turbo-Landwirtschaft abzielt, die der Ernährungssicherheit nicht nützt, sondern schadet. Initiativtext
Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert:
Art. 104a Ernährungssicherheit 1 Der Bund stärkt die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln aus vielfältiger und nachhaltiger einheimischer Produktion; dazu trifft er wirksame Massnahmen insbesondere gegen den Verlust von Kulturland einschliesslich der Sömmerungsfläche und zur Umsetzung einer Qualitätsstrategie.
2 Er sorgt dafür, dass der administrative Aufwand in der Landwirtschaft gering ist und die Rechtssicherheit und eine angemessene Investitionssicherheit gewährleistet sind.
Art. 197 Ziff. 11 11. Übergangsbestimmung zu Art. 104a (Ernährungssicherheit) Der Bundesrat beantragt der Bundesversammlung spätestens zwei Jahre nach Annahme von Artikel 104a durch Volk und Stände entsprechende Gesetzesbestimmungen.
Vision Landwirtschaft (VL) hat die neue Agrarpolitik entscheidend beeinflusst. Viele der Neuerungen gehen direkt oder indirekt auf die Denkwerkstatt zurück. Ein neu aufgebautes, gut funktionierenden Netzwerk und die immer wieder taktgebende inhaltliche Grundlagenarbeit von VL verhalfen vielen Reformvorschlägen im Parlament auch gegen massiven Widerstand konservativer Kreise zum Durchbruch. Bei aller Freude über das Erreichte: Die AP 2014-17 ist erst ein Schritt in Richtung einer ressourcenschonenden Landwirtschaft und einer effizienten, zielorientierten Agrarpolitik.
(VL) Mit der Verabschiedung des umfangreichen agrarpolitischen Verordnungspaketes heute durch den Bundesrat ist der letzte Schritt des Reformprojektes AP 2014-17 Seitens des Bundes getan. Am 1.1.2014 treten die zahlreichen Neuerungen in Kraft.
Äusserlich bleibt zumindest bei den Direktzahlungen kaum ein Stein auf dem anderen. Wichtige bisherige Beitragskategorien – beispielsweise die allgemeinen Tierbeiträge und die Allgemeinen Direktzahlungen – fallen weg. Andere erhalten neue Namen: so werden beispielsweise Ökoflächen zu Biodiversitätsförderflächen oder Biobeiträge zu Produktionssystembeiträgen. Und zahlreiche Instrumente und Kategorien wie die Kulturlandschaftsbeiträge oder die Landschaftsqualitätsbeiträge sind – teilweise allerdings nur scheinbar – neu.
Neues Direktzahlungskonzept ist richtungsweisend
Konzeptionell überzeugt das neue Direktzahlungssystem: Alle Beitragskategorien sind so benannt, dass ihre Bezeichnung den betreffenden verfassungbasierten Zweck klar umschreibt (s. Abb. 1). Damit wird eine zentrale Forderung aus dem Weissbuch Landwirtschaft von VL erfüllt. Die darin besonders kritisierten Allgemeinen Direktzahlungen, welche im bisherigen System 80% aller Direktzahlungen umfassten, fallen in Zukunft weg bzw. wurden umgelagert.
So überzeugend das Grundkonzept ist, so viele Schlupflöcher und Inkonsequenzen beinhal-tet es in der konkreten Ausgestaltung. Die grösste Schwachstelle sind die "Versorgungssicherheitsbeiträge". Vision Landwirtschaft hat immer wieder darauf hingewiesen, dass sie zum allergrössten Teil nichts mit der Versorgungssicherheit zu tun haben, sondern diese sogar behindern (z. B. Faktenblatt Nr. 2). Dennoch werden sie mit jährlich einer Milliarde Franken alimentiert und überflügeln damit alle anderen Direktzahlungskategorien bei weitem. Da sie zum grössten Teil nicht an eine gemeinwirtschaftliche Leistung gebunden sind, sind sie nichts anderes als die bisherigen "All-gemeinen Direktzahlungen", nur neu verpackt mit einer besser verkäuflichen Etikette.
Zusammen mit weiteren Schlupflöchern resultiert unter dem Strich ein System, das zwar vom Namen her vollständig verfassungskonform und leistungsorientiert ist, de facto aber immer noch gut 50% nicht leistungsorientierte, meist mehr schädliche als nützlich Pauschalzahlungen beinhaltet.
Bundesratskompromiss immerhin nicht weiter verwässert
Dennoch: Angesichts des massiven Widerstandes Seitens des Schweizerischen Bauernverbandes SBV und einiger Parteien, vor allem der SVP und teilweise der CVP, ist dieses Resultat realpolitisch gesehen respektabel. Es entspricht in fast allen Punkten dem ursprünglichen Kompromissvorschlag des Bundesrates, der viele Anregungen von Vision Landwirtschaft und anderen Mitgliedorganisationen der Agrarallianz aufgenommen hat. Einige von der Denkwerkstatt vorgeschlagene Neuerungen konnten sogar über den Bundesratsvorschlag hinaus erfolgreich in den politischen Prozess eingebracht werden. Dazu zählt insbesondere der für das Berggebiet wichtige Beitrag für Höfe mit einem hohen Steillandanteil (siehe Faktenblatt 3). Dieser neue Beitrag wird das weitere Einwachsen steiler, für die Biodiversität und die Landschaft aber oft besonders wichtiger Flächen eindämmen und das besonders niedrige Einkommen von Höfen in topographisch schwierigen Lagen um mehrere tausend Franken erhöhen.
Die zahlreichen Versuche der Reformgegner, den bundesrätlichen Kompromissvorschlag so weit als möglich abzuschwächen oder ganz zu verhindern, sind in den parlamentarischen Verhandlungen weitestgehend gescheitert. Dass schliesslich auch ein Referendum mangels genügender Unterschriften nicht zustande kam, zeigt, dass eine rückwärtsgewandte Agrarpolitik von breiten Kreisen unserer Gesellschaft nicht mehr mitgetragen wird.
Agrarpolitik unter neuen Umständen
Seit Jahrzehnten ist es das erste Mal, dass sich der Bauernverband und seine Verbündeten mit ihren Forderungen im Parlament nicht durchsetzen konnten. Ohne die Hintergrundarbeit von Vision Landwirtschaft und die ausgezeichnete Zusammenarbeit mit zahlreichen Organisationen und Politikern, die sich konsequent für eine Reform einsetzten, wäre dieser Erfolg nicht möglich gewesen.
Warum es gelang, in enger Zusammenarbeit mit anderen Organisationen selbst mit verhältnismässig geringen personellen und finanziellen Ressourcen Reformen gegen ein starkes politisches Establishment durchzusetzen, ist für die weitere Arbeit der Denkwerkstatt wichtig. Ausschlaggebend waren vor allem vier Konstellationen:
Erstens gehört die Agrarpolitik zu den komplexesten Politikbereichen überhaupt. Die Folge: In den Details kennen sich meist nur bäuerliche Politiker einigermassen aus. Kaum ein nichtbäuerlicher Parlamentarier oder Parlamentarierin wagte es in der Regel bisher, gegen Bauernpolitiker anzutreten. Wenn im entscheidenden Moment die fundierten Argumente fehlen, besteht das persönliche Risiko, mit abgesägten Hosen dazustehen oder gar von Bauernseite lächerlich gemacht zu werden. Vision Landwirtschaft konnte dieses Ungleichgewicht mit konstanter Hintergrundarbeit teilweise aufheben. Mittels Argumentarien, Faktenblättern, Gesprächen mit Politikern, kurzfristig auf Anfrage erstellten Analysen und Informationen hat die Denkwerkstatt ParlamentarierInnen und Lobbyisten, welche die Reform befürworteten, regelmässig und zeitnah aufdatiert. Für den SBV war es unerwartet, dass aus nichtbäuerlichen Kreisen Argumente kamen, die oft stichhaltiger und differenzierter waren als diejenigen aus den eigenen Reihen.
Zweitens gelang es Vision Landwirtschaft, eine zunehmende Zahl von Bauern – insbesondere jetzt schon nachhaltig und marktorientiert produzierende Landwirte sowie Bergbauern – davon zu überzeugen, dass die Politik des Bauernverbandes in ganz wichtigen Punkten gegen ihre eigenen Interessen gerichtet ist. Vor allem der Berglandwirtschaft haben die Vorschläge des Bauernverbandes regelmässig das Wasser abgegraben zugunsten der viel besser dastehenden Talbetriebe. Vision Landwirtschaft gründete einen "Runden Tisch Berggebiet", welcher die gemeinsamen Anliegen der Berglandwirtschaft erstmals wirksam bündeln konnte. Die Annahme vieler reformorientierter Gesetzesparagrafen gelang im Parlament letztlich darum, weil bäuerliche Vertreter aus dem Berggebiet sich vom SBV distanzierten. Aber auch Produzentenorganisationen, insbesondere Bio Suisse und IP-Suisse engagierten sich für eine auf Qualität, Wertschöpfung und Ökologie ausgerichtete Politik. Diese zunehmende Opposition innerhalb der Bauernschaft gegen den SBV war ein Novum und hat stark an der Glaubwürdigkeit des Verbandes gekratzt.
Drittens: Vision Landwirtschaft konnte seit der Gründung ein breites Netzwerk mit reformorientierten Organisationen und Personen aufbauen. Die Facharbeit der Denkwerkstatt floss damit direkt in ganz verschiedene Kanäle ein. Die hohe Sachkompetenz und Glaubwürdigkeit des Vereins trug dazu bei, dass sich politisch einflussreiche Organisationen zunehmend auf die Analysen und Argumentarien von Vision Landwirtschaft abstützten. Zudem leisteten Geschäftsstellen- und Vorstandsmitglieder in verschiedenen Arbeitsgruppen und Gremien immer wieder Überzeugungsarbeit und konnten bei wichtigen Punkten neue Allianzen schmieden. Vision Landwirtschaft trug so zusammen mit den Umwelt-, Konsumenten- und fortschrittlichen Bauernorganisationen massgeblich dazu bei, dass eine breit abgestützte, re-formorientierte Allianz entstand, die koordiniert am gleichen Strick zog und immer wieder auch in heiklen Situationen gut funktionierte. Wiederholt spielte diese bei besonders umkämpften Abstimmungen – beispielsweise bei der Abschaffung der Tierbeiträge oder bei der Einführung der Landschaftsqualitätsbeiträge – das Zünglein an der Waage zugunsten der Reform.
Und viertens: Dies alles gelang nur, weil viele sachliche Gründe eindeutig für die Reform sprachen – nicht nur im Hinblick auf Umwelt und Nachhaltigkeit, sondern auch in ökonomischer Hinsicht, d.h. in Bezug auf die Wertschöpfung und das Einkommen der Landwirtschaft. Trotz der Komplexität der Materie gelang es immer wieder, die Vorteile einer Reform in den Medien und in der Politik plausibel aufzuzeigen. Dies gipfelte darin, dass auf einen politischen Vorstoss hin der Bundesrat einen Bericht veröffentlichte, der zeigte, dass eine noch konsequentere Reform als der von ihm vorgeschlagene Kompromiss nicht nur der Umwelt Vorteile brächte, sondern auch das Einkommen der Bauern noch stärker erhöht hätte, ohne dass die Ernährungssicherheit geschmälert worden wäre. Die hauptsächlich auf Mehrproduktion hin ausgerichtete Politik des SBV dagegen hätte zum tiefsten Einkommen geführt.
Neue Rahmenbedingungen gewinnbringend nutzen
Die ab 2014 geltenden gesetzlichen Vorgaben sind nur das eine. Entscheidend wird nun sein, wie die Bauern und Bäuerinnen in den kommenden Jahre die Herausforderungen umsetzen werden. Detailanalysen von Vision Landwirtschaft auf ausgewählten Betrieben zeigen, dass selbst unter schwierigen Ausgangslagen – hohe Tierzahlen, Futterzukauf, ausgereizte Nährstoffbilanz etc. – das Einkommen gehalten oder verbessert werden kann, sofern die Betriebsleiter klug auf die neuen Rahmenbedingungen reagieren. Bereits jetzt auf nachhaltige, ressourcenschonende Produktion hin orientierte Betriebe und Höfe im Berggebiet, welche schon bisher sehr viele gemeinwirtschaftliche Leistungen erbracht haben, werden dagegen auch ohne Anpassungen deutlich besser fahren als bei der bisherigen Agrarpolitik. Damit setzt das neue System die richtigen Anreize und verteilt die Direktzahlungen gerechter als bisher. Vision Landwirtschaft will dazu betragen, die Betriebe bei ihrem Anpassungsprozess zu unterstützen. Positive Beispiele sollen ein Umdenken einleiten, und unseren Bauern und Bäuerinnen Mut machen, auf eine nachhaltige, ressourcenschonende Landwirtschaft statt auf Massenproduktion zu setzen. Denn die Reform in diese Richtung wird und muss weitergehen.
Nach der Reform ist vor der Reform
Unser Ziel für die nächste Etappe, die Agrarpolitik 2018ff., ist ein substanzieller weiterer Abbau der Pauschalzahlungen zugunsten der Leistungszahlungen – und entsprechend weitere Verbesserungen bei der Wertschöpfung, der Nachhaltigkeit, der Qualität, beim bäuerlichen Einkommen und bei einer effizienten, ressourcenschonenden Produktion.
Harte Auseinandersetzungen sind allerdings auch in Zukunft vorprogrammiert. Denn die Reformgegner haben wiederholt klar gemacht, dass sie alles daran setzen werden, das Rad ab 2018 so weit als möglich wieder zurückzudrehen. Damit dies nicht eintrifft, sondern die noch nicht realisierten Verbesserungen in den kommenden Jahren gezielt an die Hand genommen werden, wird es Vision Landwirtschaft auch in Zukunft dringend brauchen.
Zukunft von Vision Landwirtschaft von Spenden und Mitgliedern abhängig
Vision Landwirtschaft muss seine finanzielle Basis in den nächsten Jahren diversifizieren. Deshalb sind wir mehr denn je auf Unterstützung von interessierten Einzelpersonen, Verbänden und Organisationen angewiesen, welche ein aktives Interesse an einer nachhaltigen und effizienten Schweizer Landwirtschaft haben. Wir freuen uns sehr, wenn Sie mit uns Kontakt aufnehmen, dem Verein als Mitglied beitreten oder ihn mit einem kleinen oder grösseren Beitrag unterstützen.
Abb. 1: Das neue Konzept der Direktzahlungen in der Agrarpolitik 2014-17. Quelle: BLW
Das hat der Bundesrat bei den Verordnungen entschieden
Von den Verwässerungen in den Verordnungstexten, welche noch in der Anhörungsunterlage des Bundesamtes für Landwirtschaft vom letzten Frühling aufschreckten und die Vision Landwirtschaft zu verschiedenen Interventionen veranlassten – wir berichteten im Juni-Newsletter ausführlich darüber – sind immerhin einige wieder rückgängig gemacht worden, andere wurden dagegen belassen.
Die kritisierte Senkung einiger Beiträge für Ökoflächen- bzw. neu Biodiversitätsförderflächen gegenüber dem heutigen Stand wurde aufgehoben. Bis auf einige weiterhin prob-lematische Details bestehen im Bereich Biodiversität damit gute Grundlagen.
Ein wichtiger Punkt ist der Mindesttierbesatz, bei dem das Bundesamt für Landwirtschaft die zahlreichen Eingaben berücksichtigt und den Schwellenwert gesenkt hat. Ohne diese Anpassung hätten zahlreiche Betriebe ihre Tierzahl aufstocken müssen, um wichtige Direktzahlungsbestandteile geltend machen zu können. Von den kritisierten Verwässerungen, die nicht rückgängig gemacht wurden, sind die folgenden zwei besonders problematisch und führen auf nachhaltig ausgerichteten Betrieben zu Einkommenseinbussen von mehreren tausend Franken gegenüber der im Parlament diskutierten Vorlage:
Die stark abgeschwächte, nun völlig zahnlose Regelung des Beitrages für Gras-landbasierte Milch- und Fleischproduktion degradiert dieses Instrument zu einem weiteren Pauschalbeitrag. Griffige Anforderungen und attraktive Beiträge hätten gerade für die Qualitätsstrategie im Grünland eine zentrale Funktion gehabt und einen Anreiz gegeben, Fehlentwicklungen in der Milchproduktion zu bremsen (siehe unser März-Newsletter (Verlinken). Allein das Kraftfutter, das den Schweizer Milchkühen verfüttert wird, braucht im In- und Ausland Ackerland, das 2 Millionen Men-schen zusätzlich ernähren könnte.
Eine bedauerliche Verwässerung gegenüber dem vom Parlament diskutierten Entwurf stellen auch die stark gekürzten Beiträge für Landschaftsqualität dar. De facto können bis 2017 in den meisten Kantonen weniger als ein Drittel der ur-sprünglich vorgesehenen Beiträge ausgerichtet werden, nämlich 120 statt 400 Franken pro Hektare. Damit können entweder nicht alle Betriebe mitmachen, oder viele Leistungen können nicht angemessen entschädigt werden, insbesondere im Berggebiet.
Die Landwirtschaft ist stolz über ihre immer höheren Erträge und ihre Rolle als Ernährerin der Menschheit. Ohne synthetische Pestizide wäre das heutige Produktionsniveau der konventionellen Landwirtschaft undenkbar. Doch die Schattenseiten des enormen und weiter ansteigenden Pestizidverbrauchs treten nicht nur mit den Umweltschäden, sondern auch mit Gesundheitsproblemen zunehmend ins öffentliche und politische Bewusstsein, zumindest im Ausland. In Frankreich haben Bauern eine bemerkenswerte Debatte ausgelöst.
Frankreichs Landwirtschaft verbraucht europaweit am meisten Pestizide. Diese sind nicht nur für die hohen Erträge und die Ertragssicherheit mitverantwortlich, sondern bescheren vielen Firmen hohe Umsätze. Weltweit stellen Pestizide derzeit ein Marktvolumen von gegen 50 Milliarden Franken dar – Tendenz steigend.
Es erstaunt deshalb nicht, dass die Pestizidproduzenten wie Syngenta oder Monsanto alles daran setzen, die Kehrseite der Medallie – die Umwelt und Gesundheitsgefährdung selbst bei korrekter Anwendung – unter den Tisch zu kehren. Wer sich wehrt, hat einen schweren Stand. Doch der Wind könnte langsam drehen.
Französische Bauern bewirken öffentliche Debatte Ende der 90er Jahre schloss sich in Frankreich eine kleine Gruppe von Landwirten zusammen, die an schweren gesundheitlichen Folgeschäden ihres jahrelangen Pestizideinsatzes litten. Sie setzten sich zum Ziel, ihre Berufskollegen über die Risiken und die Krankheitsbilder zu informieren. Und vor allem wollten sie eine offizielle Anerkennung ihrer gesundheitlichen Probleme als Berufskrankheiten, die gemäss ihrer Überzeugung durch den Kontakt mit den Pestiziden entstanden sei. Sie gewannen die Unterstützung von Ärzten. Und 2005 hat ein Gericht das erste Mal einen ursächlichen Zusammenhang zwischen bestimmten Pestiziden und Parkinson anerkannt. Seither kam die Anerkennung weiterer « Berufskrankheiten » im Zusammenhang mit dem Gebrauch von Pestiziden dazu.
2012 ist mit dem Agromulti Monsanto das erste Mal ein Hersteller für gesunheitliche Schäden verurteilt worden, welche durch ein von ihm vermarktetes Pestizid bei einem Bauern entstanden sind. Dieses wegweisende Urteil ebnete den Weg für weitere Klagen. Im selben Jahr ist der französische Staat von einem Gericht für schuldig erklärt worden, weil die zu laschen Beschriftungs- und Sicherheitsvoraben für Pestizide zu einen gravierenden Umfall führten.
Besonders schwer nachzuweisen als Folge von Pestiziden sind chronische Krankheiten. Epidemiologische Studien zeigen, dass Personen, die regelmässig mit Pestiziden in Kontakt kommen, ein erhöhtes Risiko haben für Krankheiten des Nervensystems, für verschiedene Krebsarten, Erkrankungen der Atmungswege, Fruchtbarkeitsstörungen oder beeintrachtigte kognitive Fähigkeiten.
Die französische Gesundheitsbehörde schätzt, dass zwische 1 und 2 Millionen Menschen in Frankreich an chronischen Krankheiten leiden als Folge des berunfsbedingten Umgangs mit Pestiziden. Die Bauern sind meist die ersten Opfer des verbreiteten Gebrauchs von Pestiziden in der Landwirtschaft. Aber letztlich ist jeder Konsument betroffen. Eine kürzliche Studie, die in 18 europäischen Ländern durchgeführt wurde, hat in der Hälfte der Bevölkerung aus städtischen Gebieten, wo wo kaum ein direkter Kontakt mit dem Gift vorhanden ist, Spuren des Herbizides Glyphosat festgestellt.
EU macht voran Die gesundheitlichen Folgen des Pestizideinsatzes und -gebrauchs haben nicht nur in Frankreich zu einem ersten Bewusstseinswandel geführt. Auch in Deutschland haben Krankheitsopfer von Pestiziden eine öffentliche Diskussion entfacht. Die zahlreichen Risiken im grossflächigen Pestizideinsatz haben die EU bewogen, von allen Mitgliedsländern bis 2012 einen nationalen Aktionsplan zu fordern, der aufzeigen soll, wie der Pestizideinsatz und das Risiko von Schäden für Umwelt und Gesundheit reduziert werden können.
Einige EU-Länder bemühen sich allerdings schon seit Langem, den Pestizidverbrauch aktiv einzudämmen. Pionier ist Dänemark, wo dank verschiedenen Anreizen, Lenkungssteuern und Einschränkungen der Pestizidverbrauch in der Landwirtschaft seit 1986 um über 50% abgenommen hat. Doch die Reduktion soll weiter gehen. 2012 hat die Regierung eine starke Erhöhung der Lenkunssteuer auf einigen problematischen Pestiziden angekündigt. Deutschland zielt gemäss seinem kürzlich verabschiedeten Aktionsplanvor allem auf eine Ausdehnung der biologisch bewirtschafteten Fläche auf 20% ab. Frankreich will gemäss seinem Aktionsplan 53 besonders problematische Substanzen vom Markt nehmen und strebt bis 2018 eine Reduktion der eingesetzten Pestizidmenge um 50% an.
Schweiz hinkt der Entwicklung hinterher Im Vergleich mit den Bemühungen in den umliegenden Ländern ist die Schweiz im Umgang mit Pestiziden ein Entwicklungsland. Weder ein Aktionsplan noch eine Reduktion des Pestizideinsatzes waren bisher in Bundesbern ein ernsthaftes, politisch mehrheitsfähiges Thema. Dabei gäbe es gravierende Probleme zu lösen (siehe Newsletter August 2011).
Im besten Fall werden Schritte, welche die EU beschliesst, dann auch in der Schweiz nachvollzogen. So lehnte das Bundesamt für Landwirtschaft ein Verbot der bienentoxischen Neonikotinoide immer strikte ab, führte dieses dann aber widerwillig doch ein, als die EU das Verbot durchgesetzt hat. Zahlreiche besonders problematische Wirkstoffe hat die Schweiz gar erst Jahre nach der EU ebenfalls aus dem Verkehr gezogen. Die Verordnung über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln wurde von der EU übernommen – bis auf den wesentlichen Passus, der eine Risikoreduktionsstrategie, d.h. einen Aktionsplan vorschreibt. Dank einem aktuellen Postulat (PO Moser) stehen die Chancen derzeit immerhin gut, dass die Schweiz mit einiger Verspätung doch noch zum Aktionsplan kommen wird.
Was die in der EU diskutierten gesundheitlichen Folgeschäden durch Pestizide anbelangt, sind sie in der Schweiz bisher Tabu. Auf eine entsprechende Interpellation von NR John-Calame hat der Bundesrat lediglich eine nichtssagende Antwort gegeben.
Vision Landwirtschaft hat sich in der Vergangenheit immer wieder intensiv mit dem Thema Pestizide befasst und wird diesen Schwerpunkt in den kommenden Jahren noch verstärken. Unser Ziel ist es, die Schweizer Landwirtschaft und die Agrarpolitik auch in diesem Bereich von einer lahmen Ente, welche die Probleme so weit als möglich verdrängt, zu einer internationalen Vorreiterin zu machen. Wo Schweiz drauf steht, muss auch Schweizer Qualität drin sein. Das ist nicht nur wichtig für unsere Umwelt und unsere Gesundheit, sondern unumgänglich, wenn die beschlossene Qualitätsstrategie der Schweizer Landwirtschaft glaubwürdig und wirtschaftlich ein Erfolg werden soll.
Postulat Moser (Aktionsplan zur Risikominimierung und nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln) >> Link
Interpellation John-Calame (Kombinierte Anwendung ungefährlicher Pflanzenschutzmittel. Ein Giftcocktail ?) >> Link
Eine ausführlichere Fassung des Textes mit weiterführenden Links zur beschriebenen Situation im umliegenden Ausland findet sich in der französischen Ausgabe des Newsletter: >>Link.
Die Verordnungen, zu denen die Anhörung Ende Juni 2013 abläuft, bringen zwar viele Verbesserungen gegenüber heute, halten insgesamt aber nicht, was die bundesrätliche Botschaft und auf deren Basis das Parlament versprochen haben. Verlierer sind das Berggebiet, die Umwelt, die Wertschöpfung und das Einkommen der Landwirtschaft. Vision Landwirtschaft fordert substantielle Korrekturen. Die AP 2014-17 mit einem Referendum zu bekämpfen, lehnen wir aber trotz unserer Kritik entschieden ab.
(VL) Das Positive vorweg: Ein Grossteil der Verordnungen, wie sie das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) im vergangenen April in die Anhörung gab, bringt wesentliche Verbesserungen gegenüber heute und entspricht einer Umsetzung der Entscheide des Parlamentes.
Doch es gibt zahlreiche Ausnahmen, und diese führen insgesamt zu einer starken Verwässerung der bundesrätlichen Botschaft und der vom Parlament grossmehrheitlich geforderten besseren Ziel- und Leistungsorientierung der Direktzahlungen. Das widerspricht den parlamentarischen Entscheiden.
Keine Kürzung der Beitragsansätze bei den Leistungsprogrammen!
Gemäss dem vorliegenden Anhörungsentwurf zu den Verordnungen wird ein Grossteil der leistungsbezogenen Beitragshöhen gegenüber der Botschaft des Bundesrates zusammengestrichen – teilweise um mehr als die Hälfte (>> Details hier). Insbesondere für die ökologischen Ausgleichflächen – neu Biodiversitätsflächen genannt – gehen die Beiträge zurück, und zwar nicht nur gegenüber der Botschaft, sondern auch gegenüber heute. Von einer Ökologisierungsvorlage kann also in keiner Weise die Rede sein.
Besonders stossend sind auch die Kürzungen bei den Landschaftsqualitätsbeiträgen und bei den Beiträgen für das neue Programm der Graslandbasierten Milch- und Fleischproduktion (GMF). Für die Landschaftsqualität sollen pro Betrieb im Extremfall weniger als ein Drittel der ursprünglich vorgesehenen Beiträge möglich sein. Auch die GMF-Beiträge, welche die qualitativ hochwertige Milchproduktion unterstützen und den problematischen und teuren Einsatz von – vor allem importiertem – Kraftfutter einschränken, sollen so stark gekürzt werden, dass sie schlicht nicht mehr attraktiv sind.
Gemäss Auskünften des federführenden Bundesamtes für Landwirtschaft BLW gehen die Beitragskürzungen auf eine vom Amt erwartete höhere Nachfrage zurück. Warum gegenüber den aufwändigen Modellierungen, welche der Botschaft zugrunde lagen, nun plötzlich von einer viel höheren Nachfrage bei den Leistungsprogrammen ausgegangen werden soll, bleibt im Dunkeln.
Höhere Nachfrage wäre im Sinne der Reform
Sollte die Nachfrage tatsächlich grösser sein als erwartet, d.h. ist die Bereitschaft der Landwirte grösser, ihre Bewirtschaftung im Sinne der agrarpolitischen Ziele anzupassen und die Leistungsprogramme zu nutzen, ist dies vollumfänglich im Sinne der Reform und positiv zu werten. Entsprechend sind die dafür zusätzlich nötigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Dies entspricht auch dem Auftrag des Parlamentes, die Direktzahlungen zielgerichtet umzulagern.
Tausende von Betrieben haben mit den im Rahmen der Botschaft publizierten Beitragshöhen der einzelnen Direktzahlungskategorien die Auswirkungen auf ihren Betrieb berechnet oder berechnen lassen und daraus ihren Anpassungsbedarf hergeleitet. Es geht nicht an, dass diese Beitragshöhen nun ohne Not und ohne fundierte Begründung gekürzt werden. Wie das Beispiel im Kästchen zeigt, verlieren dadurch einerseits das Berggebiet hohe Summen an Direktzahlungen, andererseits werden diejenigen Betriebe, welche bereit sind, die angestrebten Leistungen zu erbringen, benachteiligt. Auch sie verlieren gegenüber dem Konzept der Botschaft markant Direktzahlungen.
Pauschalzahlungen bleiben unangetastet
Der einzige Zielbereich, in welchem derzeit keinerlei Ziellücken bestehen und welchem trotzdem – ohne nachvollziehbare Begründung – bereits in der Botschaft weitaus am meisten Mittel zugesprochen wurden, ist die Versorgungssicherheit (VS). Die VS-Beiträge sind von vielen Seiten wiederholt als kontraproduktive und ineffiziente Pauschalzahlungen kritisiert worden, die nachweislich wenig mit Versorgungssicherheit zu tun haben oder diese sogar schwächen. Die VS-Beiträge lassen sich damit auch nicht mit dem Reformziel und dem Verfassungsauftrag vereinbaren.
Sollte sich eine erhöhte Nachfrage für leistungsorientierten Zahlungen zeigen, sind deshalb in erster Linie die Versorgungssicherheitsbeiträge entsprechend zu kürzen. Dabei genügen bereits geringe Kürzungen der vorgesehenen Hektarbeiträge, um die nötigen zusätzlichen Mittel bereitstellen zu können.
Leistungsbeiträge vollumfänglich wieder auf Botschaftsniveau heben
Vision Landwirtschaft fordert deshalb zusammen mit zahlreichen weiteren Organisationen, dass die Beitragssätze aller leistungsbezogenen Direktzahlungsprogramme im Minimum wieder auf das Niveau der Botschaft korrigiert werden (>> Details hier). Die bei einer erhöhten Nachfrage allenfalls zusätzlich notwendigen Mittel sind durch einen Puffer von 200 Mio. Franken aus den Versorgungssicherheitsbeträgen zu finanzieren.
Dies liegt auch deshalb nahe, weil während der Erarbeitung der Botschaft auf Druck der vorgelagerten Stufen die Versorgungssicherheitsbeiträge laufend erhöht wurden – insgesamt letztlich mehr als verdoppelt. Zudem hat das Parlament den Zahlungsrahmen pauschal bewilligt. Es läge also in der Kompetenz des BLW, die einzelnen Direktzahlungs-Budgetposten im Sinne einer zielorientierten Reform bzw. gemäss der Nachfrage nach Leistungsprogrammen anzupassen. Es gibt keinerlei protokollierte Aussagen aus der parlamentarischen Debatte, aus denen geschlossen werden könnte, dass die Höhe der Mittel für die Versorgungssicherheitsbeiträge beibehalten werden soll, im Gegenteil.
Vorgelagerte Industrie als Gewinnerin
Die Verwässerung der Reform quasi "auf dem Verordnungsweg" ist nicht Zufall, sondern geht auf den permanenten Druck reformkritischer Kreise zurück, die am System der Produktionsstützung festhalten wollen.
Der grosse Profiteur der bisherigen Agrarpolitik war der vorgelagerte Sektor, also all diejenigen Unternehmen, welche die Bauernbetriebe mit Futtermitteln, Dünger, Pestiziden, Maschinen oder Krediten beliefern. Die Pauschalzahlungen der bisherigen Agrarpolitik haben zur absurden Situation geführt, dass heute die Bauern über die Produktion von Nahrungsmitteln schlicht nichts mehr verdienen. Jeden Franken, den sie einnehmen, geben sie als Folge einer immer intensiveren und teureren Produktion gleich weiter an die weit verzweigte vorgelagerte Stufe. Das konnte nur deshalb so weit kommen, weil ihnen das Einkommen über die pauschalen Direktzahlungen sichergestellt wird. Heute entspricht das durchschnittliche Einkommen in der Landwirtschaft ziemlich genau noch den Direktzahlungen. Die marktliche Wertschöpfung der Landwirtschaft ist damit, trotz eines hoch geschützten Marktes, heute praktisch bei Null.
Mehr Wertschöpfung unumgänglich
An diesem unerfreulichen Zustand sollte die Reform gemäss Botschaft des Bundesrates wenigstens moderat etwas verbessern. Die Wertschöpfung und damit das Einkommen der Landwirte hätte um über 100 Millionen Franken pro Jahr zunehmen sollen.
Die Anreize für die bisher oft (zu) intensive und nicht mehr standortegerechte Produktion fallen teilweise weg. Dadurch sinken die hohen Produktionskosten, verursacht durch zu viele teure Importe an Energie, Futtermitteln, Pestiziden etc. Zwar nimmt bei geringeren Inputs in die Produktion auch die Produktionsmenge leicht ab, aber weniger stark als die Kosten. Dank geringerer Importe wird unter dem Strich weiterhin gleich viel produziert wie heute (Netto-Produktion), nur kostengünstiger und umweltfreundlicher.
Diese in der Botschaft versprochene positive Wirkung wird nur erreicht werden können, wenn die Verordnungen substanziell angepasst werden.
Auswirkungen der reduzierten Beitragssätze am Beispiel eines ressourcenschonend wirtschaftenden Betriebes im Berggebiet
Für einen 20 ha-Milchbetrieb im Berggebiet mit 8 ha Ökoflächen (4 ha wenig intensiv genutzte Wiese, 4 ha extensive Wiese) machen die Anpassungen im Verordnungsentwurf ohne Berücksichtigung von Tierbeiträgen bis zu 3'700 Fr. Mindereinnahmen aus (wobei die in der Anhörungsunterlage neu vorgeschlagene Deckelung der Landschafsqualitätsbeiträge pro Kanton noch nicht einbezogen ist). Die höchsten Einbussen verursacht der reduzierte Beitrag bei der graslandbasierten Milch- und Fleischproduktion. Bei folgender angenommenen Nutzungsweise sind es 3400 Franken Mindereinnahmen:
1.1
Offenhaltungsbeitrag (Fr./Jahr)
-20*20 = -400
3.1.1
Qualitätsbeitrag extensive Wiese
-4*200 = -800
3.1.2
Qualitätsbeitrag wenig intensiv genutzte Wiese
-4*50 = -200
5.3
Beitrag für graslandbasierte Milch- und Fleischproduktion
-20*100 = -2'000
Total Fr./J.
-3'400*
* Sofern die neu vorgeschlagene Deckelung der Landschaftsqualitätsbeiträge pro Kanton greift, kämen weitere potenzielle Mindereinnahmen von bis zu 5'600 Fr. jährlich dazu, insgesamt also Mindereinnahmen für den betreffenden Betrieb bis 9'000 Fr./Jahr.
Es sind zwar immer noch Bauern, welche die besten und schönsten Kühe im Ring inter- nationaler Viehschauen stolz präsentieren. Und es sind immer noch Bauern, in deren Ställe die Spitzentiere stehen. Doch die treibende Kraft hinter der Entwicklung zu immer extremeren Milchleistungen hat kaum mehr etwas mit bodenständiger Landwirtschaft zu tun, viel aber mit Industrie und Profit.
Das Aufatmen an diesem sonnigen Wintertag war gross. Noch vor einem Monat hat die vorberatende Ständeratskommission einige zentrale Stellschrauben der Agrarreform überraschend zurückgedreht. Im Plenum aber hielt die Kleine Kammer am gestrigen 12. Dezember dem Reformkurs des Bundesrates die Stange und machte sogar einige Bremsmanöver des Nationalrates rückgängig. Damit sind die Reformschritte der nächsten Vierjahresperiode in den grossen Zügen unter Dach.
Nach der Wirtschaftskommission des Nationalrates hat am 26. September auch das Plenum des Nationalrats den Reformkurs des Bundesrates bestätigt – trotz massivem Lobbying des Schweizer Bauernverbandes (SBV), mit welchem dieser die Vorlage zu verwässern oder ganz zu bodigen versuchte. Der Nichteintretens- und Rückweisungs- antrag wurde haushoch verworfen. Auch der Versuch einer Wiedereinführung der Tierbeiträge und einer Abschaffung der Landschaftsqualitätsbeiträge, für welche der SBV sein ganzes Gewicht in die Waagschale warf, scheiterten unerwartet deutlich.
Mit allen Registern lobbyiert der Schweizerische Bauernverband (SBV) für eine Verwässerung der Agrarreform. Gemäss einer Studie des Bundes, welche die NZZ am Sonntag publik gemacht hatte, legt der SBV damit den eigenen Mitgliedern ein Ei: Ausgerechnet die Bauernverbands-Variante schneidet hinsichtlich Wirtschaftlichkeit der Landwirtschaft und zugleich auch für die Umwelt am schlechtesten ab. Das beste Resultat erreicht die Variante, die sich stärker an ökologischen Zielen orientiert und auf eine konsequente Reform zielt, während der Kompromissvorschlag des Bundes bezüglich Einkommen und Umwelt in der Mitte liegt.
Bereits heute gibt es Direktzahlungen, welche die erhöhten Erschwernisse im Berggebiet ausgleichen sollen. Ein kleiner Teil davon ist an die Hangneigung gebunden (die sog. „Hangbeiträge“), über drei Viertel bzw. 354 Millionen Franken pro Jahr dagegen hängen von der Anzahl gehaltener Tiere und der Höhenzone ab („TEP-Beiträge“): Je höher ein Betrieb liegt und je mehr Vieh er hält, desto mehr Erschwernisbeiträge erhält er. Doch die TEP-Beiträge haben zwei grosse Nachteile.
Die Landwirtschaft wird für viele Umweltprobleme und den dramatischen Zusammen- bruch der Biodiversität verantwortlich gemacht. Doch mit dieser Schuldzuweisung macht es sich die Gesellschaft zu einfach. Ein Blick zurück zeigt, warum die Landwirtschaft in ihre Rolle geraten ist – und wie sie sich daraus wieder befreien könnte. Gedanken aus den Bündner Bergen.
Mit einer Reform des Direktzahlungssystems soll die ungenügende Effizienz der Agrar- politik verbessert werden. Das vom Bundesrat jetzt verabschiedete Konzept stimmt, bei der Mittelverteilung aber ist er dem Druck von Agrarindustrie und Bauernverband weitgehend erlegen. Die Reform droht so zur Farce zu werden.
Mit dem Reformprojekt Agrarpolitik 2014–17 sollen wichtige Schwachstellen des heutigen Direktzahlungssystems behoben werden. Die Vorschläge des Bundesrates bringen zwar einige Verbesserungen. Das Optimierungspotenzial zugunsten der Landwirtschaft und der Umwelt wird aber bei weitem nicht ausgeschöpft. Dies zeigen neue Modellrechnungen, welche die Eidgenössische Forschungsanstalt Agroscope in Tänikon im Auftrag der Denkwerkstatt “Vision Landwirtschaft” durchgeführt hat.
Die Milch stammt nicht aus dem Supermarkt, sondern noch immer von der Kuh. Und die vollbringt ihre Produktion in einem wunderbar anmutenden, extrem komplexen organi- schen Prozess.
Gleich drei aktuelle Meldungen zeigen ein bedenkliches Ausmass eines unsachgemässen Pestizideinsatzes in der Schweizer Landwirtschaft. Schäden für Umwelt und Gesundheit und zunehmend auch für das Image der Landwirtschaft sind die Folge. Vision Landwirtschaft for- dert ein rasches Handeln des Bundes.
Eine nachhaltige Landwirtschaft ist nicht ohne den nachhaltigen Konsumenten mög- lich. Ein Schlüsselfaktor ist dabei unser Fleischkonsum. Eine Reduktion um die Hälf- te würde zahlreiche Umweltprobleme der Landwirtschaft auf einen Schlag lösen. Genau dies forderten Wissenschafter an einer internationalen Konferenz.
Ja zur nachhaltigen Schweizer Landwirtschaft, ja zur Leistungsorientierung der Direktzahlungen ohne Wenn und Aber: Das vom Bundesrat im Bericht vom 6. Mai 2009 vorgestellte Konzept zur Agrarreform stimmt und erfüllte den parlamentarischen Auftrag. Die geforderte transparente Ausrichtung der Agrarpolitik auf die Verfassungsziele ist überfällig.
Der Bundesrat erhielt vom Parlament den Auftrag, den ungenügenden Leistungsausweis der Agrarpolitik mit einer Reform des Direktzahlungssystems zu verbessern. Nun hat er aufgezeigt, wie dies konkret geschehen soll. Auf halbem Weg hat ihn der Mut verlassen. Vertiefende Infor- mationen von Vision Landwirtschaft können Sie hier herunterladen:
Die EU-Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums hat die ökologische und soziale Nachhaltigkeit des Agrarsektors und der ländlichen Gebiete zwar gefördert. Der allergrösste Teil der Agrarmittel – immerhin fast die Hälfte des EU-Budgets – wirkte sich allerdings deutlich negativ auf die Umwelt aus und hat soziale Härten nicht zu verhindern vermocht. Dies könnte sich nun mit einer grundlegenden Neuausrichtung der Agrarpolitik ändern.
Am 1. Oktober hat der Nationalrat als Erstrat die Motion Aebi überraschend deutlich angenommen. Damit wird die Milchmengensteuerung wie während der kürzlich aufgehobenen Milchkontingentierung teilweise wieder dem Staat übertragen. Den Vorstoss ausgelöst haben die zunehmende Milchüberproduktion und der deshalb laufend sinkende Milchpreis. Die Ursachen der problematischen Entwicklung werden mit der Motion Aebi allerdings in keiner Weise gelöst. Vision Landwirtschaft hat sich für nachhaltigere Lösungen stark gemacht.
Um die Reform des Direktzahlungssystems ist es seit einigen Monaten stiller geworden – wenigstens in den Medien und in der Politikarena. Das wird noch einige Zeit so bleiben. Erst im Frühjahr 2011 wird der Bundesrat den zweiten Bericht zur Weiterentwicklung des Direktzahlungssystems präsentieren. Im Gegensatz zum ersten, der im Mai 2009 erschienen ist und vor allem konzeptionellen Charakter hatte, wird sich der neue Bericht auch zur Verteilung der Gelder aus dem Agrarbudget äussern. Die zentrale und politisch brisante Frage wird sein, ob der Bundesrat den Mut haben wird, eine Umverteilung hin zu leistungsorientierten Zahlungen vorzuschlagen, oder ob er es bei einem Etikettenwechsel belassen wird und damit die Reformbestrebungen ins Leere laufen lässt.