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VISION LANDWIRTSCHAFT / NEWSLETTER 1.1. 2016

Aussaat von Know-how

Eine nachhaltige Bewirtschaftung des Bodens ist möglich – und Bäuerinnen und Bauern, die dies versuchen, sind nicht allein bei ihrer Suche nach realisierbaren Möglichkeiten. Das ist die Botschaft von Pissenlit („Löwenzahn“). Um sie mit konkretem Inhalt zu füllen, gingen die vier Mitglieder des Vereins auf die Waadtländer Bauern zu und fragten sie nach ihrer landwirtschaftlichen Praxis, nach ihren Motivationen und Anliegen.

(VL) Vier Studierende der Ausbildung «Umweltberatung» vom WWF wollten sich für ihre viermonatige Schlussarbeit mit Waadtländer Bauern und Bäuerinnen beschäftigen, die sich auf eigenständige, autonome Weise bemühen, Ökologie mit der Produktion zu verbinden. Das Projekt «de Paysan à Paysan» (von Bauer zu Bauer) ging von der Überzeugung aus, dass die konkrete Praxis einer nachhaltigen Landwirtschaft sich individuell von Betrieb zu Betrieb stark unterscheidet und viele ganz besondere, eigenständige Lösungen gefunden haben. Diesen Schatz an oft verborgenem Know-how aufzuspüren und «auszusäen» war das Ziel des Projektes.

Die Studierenden haben zunächst einen Verein mit dem bildhaften Namen „Pissenlit“ gegründet, der ihnen die Legitimation gab, um ohne spezielle Kenntnisse der Landwirtschaft und so auch ohne Vorurteile und vorgefasste Ideen auf 24 Waadtländer Landwirte zuzugehen. Dort suchten sie nach besonders ressourcen- und bodenschonenden, biodiversitätserhaltenden Praktiken. All die durchgeführten Gespräche wurden gefilmt und detailliert protokolliert. 

Das erste Ergebnis des Projekts war ein Verzeichnis von verschiedenem Spezialwissen im Bereich Nachhaltigkeit. Das Verzeichnis wurde interessierten Bauern zugänglich gemacht mit der Absicht, sie in ihren eigenen Bemühungen zu inspirieren und gegenseitig zu vernetzen.

Die intensiven Diskussionen mit den Landwirten haben darüber hinaus aber auch ermöglicht, den Beweggründen ebenso wie den Hindernissen auf dem Weg zu diesen alternativen Praktiken auf die Spur zu kommen. Bauern, die nach einer nachhaltigeren Landwirtschaft suchen, sind oft motiviert durch das Anliegen, gesunde, hochwertige Nahrung sowohl für sie selbst als auch für die Bevölkerung zu produzieren. Sie möchten damit gleichzeitig faires Geld verdienen und sich vom Druck der Agroindustrie, die oft einen Grossteil ihrer Erlöse wegfrisst, befreien. 

Auf vielen Betrieben zeigt sich, dass ihnen beispielsweise Absatzmöglichkeiten zwischen dem aufwändigen Direktverkauf einerseits und dem Grosshandel mit den tiefen Preisen andererseits in der Rege fehlen. Eine weitere Schwierigkeit kommt von der Agrarpolitik, die in den Gunstlagen eine intensive Produktion von möglichst grossen Betrieben fördere und nicht genug Anreize für eine regionale Wertschöpfung schaffe. Betriebsleiter sind sehr abhängig vom bestehenden System und oft viel zu wenig informiert über Alternativen. Die mangelnde Schulung zu Fragen der Bodenbiologie ist ein besonders oft genanntes Beispiel. Viele sehen hier ein sehr grosses Verbesserungspotenzial. Dieses wird aber weder in der Ausbildung noch mit Direktzahlungen thematisiert. Wer sich diesem für eine nachhaltige Produktion zentralen Thema annimmt fühlt sich rasch allein gelassen. Der Verein Pissenlit hat eine Liste von Pfaden zusammengestellt, um genau solche Hindernisse zu überwinden.

Das wichtigste Anliegen des Projektes «de Paysan à Paysan» war es, das Know-how der Bäuerinnen und Bauern zu würdigen und die Vernetzung zwischen ihnen zu verstärken. Sechs schriftliche Portraits sind von diesen Treffen mit Bauern entstanden. Sie wurden in der Zeitung und auf den Webseiten von Uniterre, auf der Facebook-Seite des Vereins Pissenlit und auf der Internet-Plattform Agroécologie Suisse publiziert. Zudem wurden sechs kleine Filme realisiert und sie auf diesen Webseiten ebenfalls zugänglich gemacht. Zur Vernetzung gehören auch die Organisation von Hofbesuchen. Ähnlich wie Saatgut-Tauschbörsen soll so eine Börse für den Austausch von Ideen und Know-how über nachhaltige landwirtschaftliche Praxis entstehen.

Die hohen Produktionskosten, die einen grossen Teil der Einnahmen wegfressen zugunsten einer allmächtigen vor- und nachgelagerten Industrie, geben vielen Bauern das Gefühl, „erwürgt zu werden“, wie Pissenlit immer wieder feststellte. Die Bauernfamilien fühlen sich aber auch oft eingeklemmt zwischen den Erwartungen der Konsumenten an hohe ökologische Standards einerseits und ihrer Forderung nach günstigen Preisen andererseits. „Viele Bauern verlieren in einem solchen Umfeld den Stolz auf ihrem Beruf zunehmend, weil sie es nicht schaffen, menschwürdig von ihrer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten, als grundlegend empfundenen Arbeit würdig zu leben,“ meinten die Studierenden im Gespräch. 

Worauf Pissenlit in seinem unkonventionellen, von gegenseitiger grosser Offenheit und Interesse geprägten Projekt gestossen ist, scheint uns bemerkenswert. Ein vergleichbares Projekt aus der Deutschschweiz ist uns nicht bekannt – mehr noch: es wäre wohl nur schwer vorstellbar. Bei unserer Arbeit in der Romandie stellen wir immer wieder fest, wie anders unter den Bauern wie in der Öffentlichkeit über Landwirtschaft diskutiert wird. In der Deutschschweiz stehen der soziale Aspekt, die individuelle Lebensqualität und die persönlichen Motive selten im Fokus. Die Diskussionen verlaufen auf einer scheinbar viel rationaleren Ebene, bei der Zahlen und Konzepte im Vordergrund stehen, die Befindlichkeiten und die dahinter stehenden menschlichen Kräfte aber gerne auf der Strecke bleiben. 

Immerhin: Ein in Teilen ähnliches Projekt existiert, und es trägt sogar fast den gleichen Namen: «von Bauern für Bauern»: Die Biologin Patricia Fry erstellt seit 2002 Filme, mit der sie positive Erfahrungen von Bauern und Winzern an andere Bauern, Berater oder Lehrer vermittelt, sei es für eine schonende Bodennutzung, Biobergackerbau oder Weidepflege und Weideführung. 

Auch der Verein Pissenlit möchte noch mehr auf das Mittel des bewegten Bildes setzen. Und er sucht Partner für eine weitere Verbreitung der Ergebnisse und eine Weiterentwicklung des Projektes. Vision Landwirtschaft stellt sich als Brücke in die Deutschschweiz zur Verfügung und hat angeregt, auch die von Pissenlit initiierte Vernetzung von Wissen und Ideen über die Sprachgrenze hinaus auszudehnen. So wie Löwenzahnsämchen sich nicht an Sprachgrenzen halten, wenn sie vom Winde verweht werden, so sollen es auch Ideen. Wir freuen uns, wenn sich Landwirtschaftsbetriebe oder Organisationen bei uns melden, die sich an diesem grenzüberschreitenden Vorhaben beteiligen möchten!