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VISION LANDWIRTSCHAFT / NEWSLETTER 1.6. 2015

Miguel Altieris Agrarökologie als Inspiration für einen Health Check der Schweizer Landwirtschaft

Agrarökologie ist mehr als nur eine Wissenschaft. Sie ist zu einer sozialen Bewegung geworden, die vor allem in Amerika und in Entwicklungsländern an Einfluss gewinnt. Miguel Altieri, Professor in Berkeley (USA) und weltweit bekannter Pionier der Agrarökologie, tritt dieser Tage auf zwei Konferenzen in der Schweiz auf. Was bedeuten die hierzulande wenig bekannten Konzepte für die Schweizer Landwirtschaft? Die Antworten müssten aufrütteln. 

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Miguel Altieri ist ein kritischer Querdenker unter den renommierten Agrarwissenschaftern. Ursprünglich Entomologe und Spezialist für biologische Schädlingskontrolle, hat er bereits 1995 die Grenzen seines Fachgebietes überschritten und begann, nach ganzheitlichen Lösungen zu suchen. Nicht nur die ökologische, sondern auch die soziale und traditionelle bäuerliche Dimension der Landwirtschaft steht seither in seinem Fokus. Dabei spannt er einen weiten Bogen. Für ihn ist "der wahre Ursprung von Hunger auf der Welt die Ungleichheit. Jede Anbaumethode, welche Ungleichheit verstärkt, wird keinen Beitrag zur Reduktion des Hungers leisten. Einen Beitrag können wir nur von Technologien erwarten, die einen positiven Effekt auf die Verteilung von Wohlstand und Einkommen haben"

Für Altieri gründet die Agrarökologie mit diesem ganzheitlichen Ansatz auf dem Wissen der traditionellen Landwirtschaft. Seine mit unzähligen Forschungsarbeiten untermauerte Vision ist es, daraus eine moderne, wissenschaftlich basierte Landwirtschaft zu entwerfen. Darin sieht er die Antithese zur industriellen Landwirtschaft. Im Zentrum stehen die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft und der Autonomie. Aber auch diese beiden Begriffe versteht Altieri umfassender und radikaler, als wir uns dies im deutschsprachigen Raum gewohnt sind. Er bezieht sie nämlich nicht nur auf die Stoffkreisläufe, sondern ebenso auf die energetische, die soziokulturelle und die kommerzielle Unabhängigkeit. Die Autonomie ruht für Altieri auf zwei Säulen: Auf der Qualität des Bodens, insbesondere seiner biologischen Aktivität, die mit der Zufuhr organischen Materials am Leben erhalten werden muss, und einer Verstärkung der Biodiversität auf dem Boden, die das biologische Gleichgewicht in einer Weise sicher stellt, dass Nützlinge Schädlinge wirksam bekämpfen. Diese beiden Pfeiler garantieren die Gesundheit des Agrarökosystems als Ganzes.

Allerdings erfordert die Realisierung in einer grossmassstäblichen Landwirtschaft grundlegende Anstrengungen. Die Hindernisse, die einer Umsetzung hauptsächlich im Wege stehen, hat Olivier De Schutter zum Zeitpunkt, als er seinen Posten als Ernährungsbotschafter bei der UNO quittierte, besonders klar formuliert (Le Monde 29.4.2014): "Das erste Hindernis ist technologischer Art: Die Modernisierung der globalen Landwirtschaft richtet sich nach einem produktivistischen Modell, das einseitig auf permanente Ertragssteigerungen ausgerichtet ist. Das zweite Hindernis ist sozioökonomischer Art: Einige wenige grosse Firmen dominieren den Markt, und zwar sowohl bei den Herstellern landwirtschaftlicher Betriebsmittel wie bei den Abnehmern landwirtschaftlicher Produkte. Die Möglichkeiten kleinerer und mittlerer bäuerlicher Produzenten sind gegenüber dieser Marktmacht minimal. Der dritte Widerstand ist kultureller Art: Unser stressgeplagtes Leben hängt von einer Ernährung auf der Basis weitgehend transformierter und rasch zu präparierender Ernährung ab. Und schliesslich ist da ein politisches Hindernis: Die Regierungen sind ausgesprochen sensibel auf die Interessen ihrer grossen agroindustriellen Unternehmen. Faktisch kommt ihnen ein Vetorecht zu, wenn es um grundlegende politische Entscheide zur Entwicklung der Landwirtschaft geht."

Altieris agrarökologischer Ansatz, dessen viele Facetten einen Blick in die Originalliteratur lohnen (siehe Links am Schluss des Artikels), tönt auf den ersten Blick äusserst radikal und scheint wenig mit der Situation in der Schweiz zu tun zu haben. Haben wir doch bis heute eine weitgehend bäuerliche, kleinstrukturierte Landwirtschaft erhalten können. Zudem sind wir als Schweizer der tief verankerten Überzeugung, dass wir zu den Pionierländern einer nachhaltigen Landwirtschaft gehören. So erstaunt es nicht, dass die beiden Kongresse, in denen Altieri in den nächsten Tagen in der Schweiz auftritt, auf Entwicklungsländer bzw. die globale Landwirtschaft fokussiert sind und von Organisationen veranstaltet werden, die in der Entwicklungszusammenarbeit tätig sind.

Offensichtlich ist es einfacher, in der Entwicklungshilfe agrarökologischen Prinzipien nachzuleben als im eigenen Land. Gemessen an Altieris Kriterien, die wir in Entwicklungsländern heute als selbstverständlich fordern und fördern, ist auch die Schweiz ein Land, das die Landwirtschaft weiter zwingend entwickeln muss. Die Konzepte von Altieri betreffen die Schweizer Landwirtschaft mehr, als uns lieb sein dürfte. Und die Hindernisse, die deren Einführung entgegenstehen, scheinen in der Schweiz besonders hartnäckig zu wirken.

Tatsächlich erlebt Hindernis 1, das "produktivistische Modell", gegenwärtig in der Schweiz eine neue Hochblüte. Die Ernährungskrise im Jahre 2008 wurde von der Industrie und ihrem Gefolge erfolgreich zum Anlass genommen, das Dogma der Produktionssteigerung wieder zur heiligen Pflicht zu erheben. Und es auch umzusetzen: Die Produktionsmenge nimmt in der Schweiz laufend weiter zu. Nie hat die Schweiz so viel produziert wie heute, und dies trotz jährlich abnehmendem Kulturland. Doch der Preis dafür ist hoch. Die Produktionssteigerungen finden längst nicht mehr im Rahmen einer effizienten, ökologisch und sozioökonomisch nachhaltigen Primärproduktion statt, wie sie von Altieri gefordert wird, sondern werden teuer erkauft durch immer höhere Inputs an Futtermitteln, Energie und Technologie. Der grösste Teil davon stammt aus dem Ausland. Dadurch gerät die Schweizer Landwirtschaft selber immer mehr in eine Abhängigkeit der Industrie und ausländischer Importe. Die Ertragssteigerungen erkaufen sich die Bauernfamilien mit immer höheren Kosten und zunehmenden Schäden an Ökosystemen.

Nur: die Kosten der Produktionssteigerungen steigen seit vielen Jahren stärker an als die Erlöse. 2009 verdiente die Schweizer Landwirtschaft – erstmals überhaupt in ihrer Geschichte – aus ihrer Produktion real keinen Rappen mehr (Abb. 1). Ihr Einkommen besteht unter dem Strich nur noch aus Direktzahlungen des Staates. Würde auch noch der in der Schweiz besonders ausgeprägte Marktschutz in diese Rechnung miteinbezogen, würde jeder Schweizer Bauernbetrieb heute statt Lohn jährlich über 50'000 Franken Defizit schreiben (Abb. 2). 

Neben dem von Altieri erkannten Verlust an sozioökonomischer Autonomie geht die Produktionssteigerung mit gravierenden Schäden an vielen Ökosystemen einher, wo die Schweiz bei wichtigen Indikatoren zum Schlusslicht in Europa gehört, so beim Energieverbrauch pro produzierte Nahrungsmittelkalorie, bei den ökologisch besonders kritischen Stickstoff¬emissionen oder bei der Biodiversität. Die Schweiz kann es sich allerdings – zumindest vorläufig – leisten, die sozioökonomischen Folgen der Verletzung agrarökologischer Grundprinzipien zu übertünchen, indem sie jedes Jahr Milliarden an staatlichen Geldern in die Landwirtschaft pumpt. Sollten diese Gelder einst in Frage gestellt werden oder die Grenzen sich öffnen und die Produzentenpreise stark sinken, käme die sozioökonomische Misere der Schweizer Landwirtschaft auf einen Schlag zum Vorschein. Dies würde die Schweizer Bauernfamilien zu grossen Teilen unweigerlich in eine existenzielle Krise stürzen.

Wir tun zweifellos gut daran, uns die Einsichten Altieris energisch zunutze zu machen. Sich für Agrarökologie zu interessieren und einzusetzen heisst, die Agrarpolitik kritisch zu hinterfragen und zu einer Wende beizutragen hin zu einer Landwirtschaft, die zukunftsfähig ist und agrarökologischen Prinzipien gerecht wird.



Altieri, M.A. and Rosset, P. (1999). Strengthening the case for why biotechnology will not help the developing world: a response to McGloughlin. AgBioForum, 2(3&4), 226-236.