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NEWSLETTER / 8.4. 2021

Ist die Trinkwasserinitiative radikal? – Nein, sie ist ein moderater erster Schritt zu einer umweltverträglichen Landwirtschaft

Ist die Trinkwasserinitiative radikal? – Nein, sie ist ein moderater erster Schritt zu einer umweltverträglichen Landwirtschaft

Im Juni stimmen wir über die Trinkwasserinitiative (TWI) ab. Die Initiative ist mehr als nur ein dringend nötiges Signal. Sie setzt auch am richtigen Ort und mit den richtigen Mitteln an, und sie ist massvoll. Letztlich will sie nichts anderes, als was der Bundesrat und das Parlament selber wollen – gemäss Verfassung, Umweltgesetzen, internationalen Verpflichtungen und offiziellen Erklärungen und Strategien. Trotzdem wird die Initiative vom Bundesrat und weiteren Kreisen als radikal oder extrem bezeichnet. Wie passt das mit den heute populären Bekenntnissen – vom Bundesrat bis BioSuisse – zu einer nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft zusammen?

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(VL) Es ist bemerkenswert: Die TWI will Probleme lösen, die alle lösen wollen – oder das zumindest von sich sagen. Sie ist auch liberal: Anstelle von Verboten will sie staatliche Fehlanreize beenden und öffentliche Mittel sorgfältig einsetzen. Sie ist sogar in diesem liberalen Ansatz massvoll und lässt viel Zeit und Spielraum für die Umsetzung. Und dennoch behaupten die Gegner, die Initiative sei radikal.

Umweltrecht einhalten

Der Handlungsbedarf bei den Pestiziden ist unterdessen fast allen klar. Um nach der Sistierung der Agrarpolitik 22+ am 13. Juni nicht mit leeren Händen dazustehen, hat das Parlament im März noch rasch ein «Bundesgesetz über die Verminderung der Risiken durch den Einsatz von Pestiziden» beschlossen. Die Risiken sollen bis 2027 halbiert werden. Das ist ein bescheidenes Ziel. Die ökotoxikologischen Grenzwerte werden gemäss Studien der Eawag verbreitet um einen Faktor zehn bis dreissig überschritten. Bei den wichtigen Zuströmbereichen von Trinkwasserfassungen wurde noch nichts entschieden.

Einmal abgesehen davon, dass man das bestehende Problem beim Trinkwasser, Oberflächengewässern und wildlebenden Tieren und Pflanzen mit «Risiken durch den Einsatz von Pestiziden» schön redet, ist das Reduktionsziel ein Schritt in die richtige Richtung. Es macht die TWI aber nicht unnötig, ganz im Gegenteil. Nur mit weiteren konkreten Massnahmen wird es möglich sein, das Reduktionsziel zu erreichen. Auch mit der TWI wird es weitere Massnahmen brauchen, um im Bereich Pestizide die Umweltgesetze einzuhalten.

Das zweite wichtige Thema der TWI sind die Umweltbelastungen durch Stickstoff. Verbindliche Ziele für die Stickstoffüberschüsse hat das Parlament im März abgelehnt. Die Ammoniakemissionen der Landwirtschaft verletzen das Schweizer Umweltrecht massiv, im Mittelland und Hügelgebiet fast flächendeckend. Von 17'000 Tonnen Überschuss, die naturnahe Wälder, Moore und artenreiche Wiesen schädigen, stammen etwa zwei Drittel aus importierten Futtermitteln.

Die TWI will, dass geltendes Umweltrecht eingehalten wird und wählt einen denkbar liberalen Ansatz. Sie will nichts verbieten, sondern nur die Direktzahlungen für nicht nachhaltige Produktionsweisen beenden. Ein vernünftiger Schritt, keine Spur von Radikalität. Weitere Stützungen wie Milchzulagen und Grenzschutz sind von der Initiative nicht betroffen.

Klimaziele ernst nehmen

Indirekt geht es bei der TWI auch um die Klimaziele. Die viel zu hohe Tierproduktion ist nicht nur für die Umwelt in der Schweiz ein Problem, sondern auch für den weltweiten Klimaschutz (wegen Methan und Lachgas). Gemäss der «Klimastrategie Landwirtschaft» des Bundes müssen Landwirtschaft und Ernährung den Ausstoss von Klimagasen bis 2050 um zwei Drittel verringern. Im Widerspruch dazu bekämpft der Bund die TWI aber mit Studien, die davon ausgehen, dass (a) der Fleischkonsum auch in Zukunft nicht abnehmen wird und (b) auch weiterhin in grossem Umfang Produkte importiert werden, für die in den Herkunftsländern Urwälder gerodet werden. So kommt er zum Schluss, dass eine geringere Fleischproduktion in der Schweiz zwingend zu mehr Importen und global gesehen zu mehr Umweltbelastung führt.

Wenn wir die offiziellen Ziele im Bereich Klima, Foodwaste und nachhaltige Importe ernst nehmen, werden wir in Zukunft aber nicht mehr, sondern weniger importieren. Die jährlichen Kraftfutterimporte von 1.2 Millionen Tonnen sind mit den Zielen nicht vereinbar. Für die Beurteilung der TWI ist das hochrelevant. Wenn der Bundesrat mit heute zunehmenden Importen argumentiert, wird klar: Er nimmt in der Landwirtschaftspolitik seine Klimaziele ebenso wenig ernst, wie in den vergangenen Jahrzehnten das Umweltrecht (mehr dazu).

Übrigens: am gleichen Wochenende stimmen wir über das CO2-Gesetz ab. Der Bund erhält die Kompetenz, die Lenkungsabgabe auf fossilen Brennstoffen von heute rund hundert Franken pro Tonne CO2 auf rund zweihundert Franken zu erhöhen. In der Agrarpolitik wird die Produktion von Rindfleisch und Milch, auch die mit Importfutter, pro Tonne CO2-Äquivalent derweil mit rund dreihundert Franken subventioniert (ohne die Direktzahlungen für die Landschaftspflege). Bundesrat und Parlament denken Klima, Landwirtschaft und Ernährung noch nicht zusammen.

Kosten den Verursachern anlasten

Heute fordern alle, dass die Land- und Ernährungswirtschaft nachhaltig werden muss. Viele sehen auch ein, dass dies nur möglich ist, wenn die Direktzahlungen und weiteren Subventionen sowie die Preise nicht völlig falsche Anreize setzen. Was das für die Landwirtschaftspolitik konkret bedeutet, hat aber noch kaum jemand detailliert durchdacht.

Vision Landwirtschaft skizziert deshalb in einem neuen Papier, wie der Weg zu einer nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft im Sinn der offiziellen Klimaziele und weiteren Ziele des Bundes aussehen könnte. Und zeigt auf, welche entscheidende Rolle dabei der Umbau der Subventionen und allgemeiner das Verursacherprinzip oder «Kostenwahrheit» spielen (s. Box 1 unten).

Die TWI ist jedenfalls auch in dieser langfristigen Perspektive auf dem richtigen Weg: Sie ist ein erster Schritt hin zu mehr Kostenwahrheit in unserer Land- und Ernährungswirtschaft. Zu weniger Verschwendung von Ressourcen und zu mehr Fairness gegenüber denjenigen, die nachhaltige produzieren und konsumieren. Und zwar generell, nicht nur in Nischenmärkten. Ohne eine faire Anlastung von Kosten bleibt ein nachhaltiges Land- und Ernährungssystem eine Illusion.

Fazit

Die TWI ist notwendig, damit Parlament und Bundesrat das Umweltrecht ernster nehmen als bisher. Darüber hinaus räumt die Initiative erste Steine aus dem Weg hin zu einer nachhaltigen Landwirtschaft und Ernährung.

 Wenn man Anspruch und Wirklichkeit der Agrarpolitik der letzten Jahre und Jahrzehnte vergleicht, muss man leider feststellen: Der Bundesrat hat die Bevölkerung bei den Umweltauswirkungen eines ums andere Mal getäuscht (s. Box 2). Man hat Besserung gelobt und dann doch die Umsätze in der Tierproduktion und der landwirtschaftsnahen Industrie über das Umweltrecht, die Klimaziele und das Verursacherprinzip gestellt.

Wenn der Bundesrat und das Parlament die TWI ablehnen und es nicht für nötig halten, einen Gegenvorschlag anzubieten, so ist die Botschaft klar: Die flächendeckende Verletzung von Umweltrecht und die Abnahme der Biodiversität sollen weiterhin in Kauf genommen werden. Die Steuerzahler sollen weiterhin umweltschädigende Produktionsweisen subventionieren. Nachhaltige Konsummuster sollen weiterhin systematisch benachteiligt werden. Die Kollateralschäden werden der Allgemeinheit aufgebürdet.

Wir finden das radikal, nicht die TWI. Wer gut informiert ist und die TWI dennoch als radikal oder extrem bezeichnet, zeigt keine Bereitschaft, auch nur einen ersten Schritt hin zu einer nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft zu gehen.


Box 1: Diskussionspapier «Kostenwahrheit in Landwirtschaft und Ernährung»

Wie Vision Landwirtschaft vor einem halben Jahr in einer Studie aufgezeigt hat, arbeitet die Schweizer Agrarpolitik in weiten Teilen gegen das Verursacherprinzip und fernab von «Kostenwahrheit». Mit Blick auf Umweltrecht und Klimaziele wird das immer mehr zum Problem.

Dabei ist das Verursacherprinzip im Umweltschutz in der Verfassung verankert (Art. 74 BV): «Der Bund erlässt Vorschriften über den Schutz des Menschen und seiner natürlichen Umwelt vor schädlichen oder lästigen Einwirkungen. Er sorgt dafür, dass solche Einwirkungen vermieden werden. Die Kosten der Vermeidung und Beseitigung tragen die Verursacher.» Die Landwirtschaftsgesetzgebung setzt sich allerdings gerne darüber hinweg.

Was herauskommt, wenn man das Verursacherprinzip auf den Kopf stellt, lässt sich anhand der Direktzahlungen für «graslandbasierte Milch- und Fleischproduktion (GMF)» erklären. Anstelle von Vorgaben, die für die Einhaltung des Umweltrechts ausreichen, oder Lenkungsabgaben auf übermässigen Emissionen gibt der Bund den Betrieben Geld, wenn sie nicht noch mehr Kraftfutter einsetzen. Und dies auch dann, wenn die Emissionen weit über dem umweltrechtlich verträglichen Niveau liegen. Die Beiträge fliessen seit 2014 (s. auch Box 2) so flächendeckend, wie die Grenzwerte für Stickstoffeinträge in naturnahe Ökosysteme überschritten werden.

Gemäss einer Evaluation durch die Forschungsanstalt Agroscope ist die Umweltwirkung praktisch Null – bei Kosten von 110 Millionen Franken pro Jahr. Im  Evaluationsbericht  und Newsletter des Bundesamts wird das Null-Resultat unterschlagen und das Programm als Erfolg verkauft. Ebenso im Text auf der Webseite zum GMF-Beitrag.)

Vor zwei Jahren wurde der problematische Ansatz, der klar gegen das Verursacherprinzip in der Verfassung und in den Umweltgesetzen verstösst auf den Einsatz von Pestiziden ausgeweitet. Der Bund bezahlt seit 2019 «Ressourceneffizienzbeiträge» für emissionsmindernde Ausbringverfahren. Er subventioniert Spritzmittelgeräte und besondere Applikationstechniken.

Aufgrund dieser Erfahrungen legt Vision Landwirtschaft nun ein Diskussionspapier vor, das die wichtige Rolle des Verursacherprinzips und der Kostenwahrheit für den Übergang zu einer nachhaltigen Land- und Ernährungswirtschaft herausarbeitet. Der erste Schritt in Richtung Verursacherprinzip oder Kostenwahrheit ist der Abbau von Subventionen für umweltschädliche Produktionsweisen – genau das fordert die TWI im Bereich Pestizide, Nährstoffüberschüsse und prophylaktische Antibiotika.


Box 2: Agrarpolitik, Tierbestände und Nährstoffüberschüsse in bundesrätlichen Prognosen und in Wirklichkeit

In der Botschaft zur AP 14-171 schrieb der Bundesrat: «In der Tierhaltung ist mit der AP 14–17 ein Rückgang der gehaltenen GVE von rund 9 Prozent zu erwarten […]» und «Da aber […] der Kraftfutterimport gegenüber der Referenz rund 10 Prozent tiefer zu liegen kommt, wird mit der AP 14–17 die Nettokalorienproduktion gestärkt.» In Wirklichkeit ist der Tierbestand kein bisschen gesunken (+0.3%), genauso wenig wie der Kraftfutterimport (+0.2%).

Bei den Stickstoff-Überschüssen wiederholte sich die Diskrepanz von Vorhersagen und Wirklichkeit in den bundesrätlichen Botschaften von 2002 bis 2018 ohne irgendeinen erkennbaren Lerneffekt (Details s. hier  und hier, S. 30 ). Daraus lässt sich schliessen, dass der Bundesrat die Umsätze in der Tierproduktion und der landwirtschaftsnahen Industrie über das Umweltrecht gestellt hat (vgl. Haupttext).

 1 BBl 2012 2310.  Tierbestände in Grossvieheinheiten (GVE): BLW, Agrarbericht; Kraftfutterimporte: BFS, Futtermittelbilanz (Importe «marktfähige Futtermittel»); Zahlen 2013/2018 (AP 2011/2014-17).