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NEWSLETTER 9.2. 2018

Projekt «Pestizidfreie Schweizer Landwirtschaft» ist lanciert

Dass es ohne Pestizide geht, halten viele noch für eine Utopie. Hunderte von Bäuerinnen und Bauern in der Schweiz und weltweit beweisen jedoch täglich, dass auch ohne regelmässigen Gifteinsatz eine wirtschaftliche, produktive Landwirtschaft möglich ist. Einer pestizidbefreiten Schweizer Landwirtschaft zum Durchbruch zu verhelfen ist das ehrgeizige Ziel eines neuen Projektes von Vision Landwirtschaft. Eine grosse Zahl an Organisationen aus den Bereichen Landwirtschaft, Umwelt, Gesundheit und Konsum stehen hinter dieser Vision.

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(VL) Fast wöchentlich berichten die Medien über irgend einen Skandal mit Pestiziden, über die fehlenden Kontrollen, das intransparente Zulassungsverfahren, vergiftete Bienenvölker, über den Grenzwerten mit Pestiziden belastete Gewässer, gesundheitliche Risiken. Die Landwirtschaft meldet sich jeweils umgehend zu Wort und verteidigt ihren Pestizideinsatz als leider weitgehend unumgänglich.

Das neue Projekt von Vision Landwirtschaft will dieses Reaktionsmuster durchbrechen. Unter den Pestiziden leiden nicht nur die Konsumenten und die Umwelt, sondern genau so auch die Landwirtschaft und die Bäuerinnen und Bauern selber. Der Umgang mit diesen Giften ist alles andere als ein Vergnügen. Alle paar Tage mit der Giftspritze ausrücken zu müssen im Wissen, damit die Umwelt und womöglich auch sich selber zu schädigen, ist für die, die das machen müssen, eine permanente Belastung. Kommt dazu, dass Pestizide je nach Kultur ein relativ grosser Ausgabeposten sind, auf den man als Bauernfamilie auch aus finanziellen Gründen gerne verzichten könnte.

Was nicht ist, kann nicht sein

Warum werden Pestizide dennoch durch dick und dünn verteidigt? Sie sind auf vielen Bauernbetrieben so zum Alltag geworden, dass sich die meisten Praktiker gar nicht mehr vorstellen können, dass es ohne auch ginge. Die Überzeugung der fehlenden Alternativen hat sich in der Landwirtschaft, der Beratung, bei den Behörden, ja selbst bei den meisten Wissenschaftern in den Köpfen festgesetzt.

Fakt ist: Es gibt zahlreiche Alternativen, sogar weit mehr als wir heute schon kennen und uns denken können. Die bekannten und noch zu entwickelnden Alternativen stehen im Zentrum des Projektes Pestizidbefreite Landwirtschaft. Die Agrarpolitik 2022+ bietet die grosse Chance, die Weichen in Richtung einer weitgehend pestizidfreien Landwirtschaft zu stellen. Was es dazu braucht, steht im Pestizid-Reduktionsplan Schweiz. Fast Dreissig namhafte Organisationen tragen die darin gestellten Forderungen mit.

Mit einfachen Massnahmen kann der Pestizideinsatz ohne wirtschaftliche Einbussen kurzfristig um über 50% gesenkt werden. Allein ein korrekter Vollzug des Ökologischen Leistungsnachweises und der gesetzlichen Vorgaben würde den heutigen Pestizideinsatz um schätzungsweise gut 20% reduzieren.  Möglichst rasch sollen die gefährlichsten Gifte aus dem Verkehr gezogen werden. Mittelfristig soll die Schweizer Landwirtschaft ganz pestizidfrei werden, indem alle Alternativen zum Pestizideinsatz konsequent genutzt und weiterentwickelt werden.

Pestizide dank Steuergeldern

Der landwirtschaftliche Gifteinsatz ist heute nur wirtschaftlich, weil der Bund ihn jährlich mit Millionen von Franken an Steuergeldern unterstützt. So werden die Zulassungskosten weitgehend durch Steuergelder finanziert, die Kontrollen, das Monitoring und die unzähligen administrativen Aufwände übernimmt ebenfalls der Staat. Als ob das noch nicht genügen würde, geniessen Pestizide das Privileg eines massiv reduzierten Mehrwertsteuersatzes. Diese Förderungen des Pestizideinsatzes mit Steuergeldern widersprechen klar dem landwirtschaftlichen Verfassungsauftrag und fügen sowohl der Landwirtschaft wie der Umwelt Schaden zu.

Die Mehrheit der Bevölkerung macht sich zu Recht Sorgen. UmweltschützerInnen, Gewässerfachleute, FischerInnen, BiologInnen, Gesundheitsfachleute, kritische LandwirtInnen und unabhängige Agrarfachleute warnen vor den unabsehbaren Schäden des Pestizideinsatzes. Das Projekt «Pestizidfreie Schweizer Landwirtschaft» zeigt den Weg auf für eine neue Agrarpolitik. Damit geht die Schweiz auch international mutig voran. Die Zielsetzung des Pestizidprojektes ist realistisch und viele Massnahmen und Ideen sind im In- und Ausland bereits realisiert worden. Kein Land der Welt stellt seiner Landwirtschaft so viele Steuergelder zur Verfügung, um nachhaltig zu werden, wie die Schweiz. Damit ist unser Land prädestiniert, auf dem Weg hin zu einer pestizidbefreiten Landwirtschaft international voranzugehen.

Vision Landwirtschaft will die Chancen und konkreten Lösungsmöglichkeiten eines zunächst reduzierten Pestizideinsatzes und mittelfristig vollständigen Verzichts auf Pestizide aufzeigen und eng mit den Partnerorganisationen, mit Bauern, Behörden und dem Handel zusammenarbeiten. Die Stiftung Mercator Schweiz und andere Stiftungen sowie Spenden von Einzelpersonen ermöglichen das ehrgeizige Projekt. Einen zentralen Beitrag leisten auch die beiden Volksinitiativen «Für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide» und die «Trinkwasserinitiative».

Werden Sie Teil der Bewegung für eine pestizidbefreite Landwirtschaft! Fragen Sie nach pestizidfrei produzierten Produkten und unterstützen Sie die Bemühungen, welche die Landwirtschaft vorwärts bringen. Werden Sie Mitglied bei Vision Landwirtschaft.


Was sind Pestizide, und was verstehen wir unter einer pestizidfreien Landwirtschaft?

In Übereinstimmung mit dem alltäglichen Sprachgebrauch verwenden wir Pestizid als Überbegriff für toxische chemische Substanzen, die in der Landwirtschaft, im öffentlichen Raum, im Gartenbau sowie in Privatgärten eingesetzt werden, um unerwünschte Tiere (Insektizide gegen Insekten, Rodentizide gegen Nager, Molluskizide gegen Schnecken etc.), Pflanzen (Herbizide) oder Pilze (Fungizide) abzutöten oder zu schädigen. Pestizide können synthetischen oder natürlichen Ursprungs sein (Definition gemäss Pestizid-Reduktionsplan Schweiz).

Weit über 90% der Pestizide, die in der Schweizer Landwirtschaft zum Einsatz kommen, werden in der konventionellen Produktion eingesetzt. Die fortschrittlichen Produktionssysteme der integrierten Produktion und des biologischen Landbaus sind zentrale Partner auf der Suche nach Lösungen für eine weitgehend pestizidfreie Nahrungsmittelproduktion.

Der Verzicht auf Pestizide ist für die Landwirtschaft eine grosse Herausforderung. Während für viele Kulturen bereits heute gute, praxistaugliche und ertragssichere Lösungen für einen pestizidfreien Anbau vorliegen, kommen Kulturen wie der Intensiv-Obstanbau derzeit noch nicht ohne den Einsatz von Pestiziden aus. Hier sind breit anwendbare Lösungen für einen Verzicht auf Pestizide in den nächsten Jahren erst zu entwickeln, beispielsweise mit der Einführung resistenter Sorten oder einer forcierten Nützlingsförderung.

Pestizide werden allerdings auch in Zukunft ihre Bedeutung wohl nie ganz verlieren. Sie sollen, ähnlich wie Medikamente in der Humanmedizin, in Notsituationen weiterhin zum Zuge kommen können, beispielsweise wenn ein neu eingewanderter Schädling ganze Kulturen zu zerstören droht und noch keine Erfahrungen mit alternativen Abwehrstrategien vorliegen.

PS: Das neueste Heft der Agrarforschung Schweiz widmet sich fast ausschliesslich den Pestiziden. Tamm et al. gehen in ihrem Artikel detailliert auf die Perspektiven und Herausforderungen einese weitgehenden Pestizidverzichtes ein und bestätigen die Machbarkeit, aber auch die teilweise noch ausstehenden Lösungen einer pestizidfreien Landwirtschaft.