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30.5. 2024

Es braucht eine ganzheitliche Betrachtung des Agrar- und Ernährungssystems

Es braucht eine ganzheitliche Betrachtung des Agrar- und Ernährungssystems

(VL) Hochstammbäume sind gut für die Umwelt und für die Menschen und daher werden sie auch mit Direktzahlungen unterstützt. Trotzdem sind die meisten Landwirt:innen froh, wenn sie möglichst wenig Ertrag haben. Denn das Obst ablesen und zu Most verarbeiten, lohnt sich in den meisten Fällen wirtschaftlich nicht. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wo wir mit der Abgeltung der gemeinwirtschaftlichen Leistungen stehen. Es braucht eine Weiterentwicklung des Direktzahlungssystems hin zu einer Transformation des Ernährungssystems. Die AP 30+ bietet dazu Chancen.

Hochstammobstbäume sind ein wichtiges Element für die Natur und den Artenschutz. Sie dienen Insekten und Vögeln als Lebensraum. Da sie ihre wirtschaftliche Bedeutung immer mehr verlieren, schrumpfen allerdings die Flächen trotz Schutzbemühungen. Ihre Erhaltung verursacht einen hohen Pflegeaufwand, der sich durch die verkauften Produkte wirtschaftlich nicht rechnet. Die Produzentenpreise sind seit 30 Jahren unverändert, berichtet der Verein Hochstammobstbau. Die Kosten hingegen sind gestiegen. Die Richtpreise für Mostäpfel (Suisse garantie) sind 27 Rp./kg und für Mostäpfel (Bio) 33 Rp./kg. Wenn mit Mostobst nichts zu verdienen ist, bleiben Mostäpfel und –birnen am Boden liegen und die Hochstämmer verschwinden nach und nach in unserer Landschaft. Auch die Kosten für die Mostereien sind enorm gestiegen. Je mehr industrielle Prozessschritte erforderlich sind (Eindicken auf Konzentrat und separieren der Geschmacksmoleküle), desto mehr schlagen die Energiekosten zu Buche.

Gemäss Berechnung der Mosterei Möhl erhalten die Produzenten 55 Rp./kg, wenn die Direktzahlungen mitberücksichtigt werden. Fair wäre ein Preis von 80 Rp./kg.

Wie weiter mit dem Direktzahlungssystem?

Trotzdem ist auch viel erreicht worden mit den Direktzahlungen: eine Stabilisierung der Einkommen der Landwirtschaftsbetriebe und den Erhalt vieler ökologischer Leistungen, welche für uns alle von hohem Wert sind. Das Beispiel der Hochstammbäume zeigt jedoch auf, dass das Direktzahlungssystem noch Lücken und Fehler hat. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ist die Entwicklung bei den Hochstammbäumen alarmierend: Es wird Steuergeld eingesetzt, damit die Hochstammbäume stehen, aber am Ende entsteht «Foodwaste», weil der Pflege- und Ernteaufwand nicht abgegolten wird. Der Bundesrat hat mit dem Postulatsbericht definiert, in welche Richtung das System weiterentwickelt werden soll. Jetzt gilt es jedoch Instrumente und konkrete Lösungsschritte zu finden. Es braucht Lösungen welche Biodiversität, Produktion, Klimaschutz und Ökonomie zusammen bringen. Und es braucht Lösungen, welche das ganze Ernährungssystem miteinbeziehen. Aktuell sind alle Massnahmen auf das Landwirtschaftsgesetz und somit auf die einzelnen Betriebe konzentriert. Dort stossen jedoch der administrative Aufwand und die zunehmende Komplexität an die Grenzen der Machbarkeit. Daher sind neue Instrumente gefragt.

Neue Möglichkeiten: Leistungsrechner als Beispiel

Ein mögliches Mittel, um die gemeinwirtschaftlichen Leistungen greifbar zu machen, könnte der Regionalwert-Leistungsrechner sein. Der in Deutschland bereits in der Praxis angewandte Rechner, wird in der Schweiz vorerst in einem experimentellen Rahmen verwendet. In einem Katalog von über 500 Kennzahlen kann ein Bauernhof dabei seine erbrachten Leistungen einspeisen und erhält so einen monetären Wert für die einzelnen Leistungen sowie eine Summe für den gesamten Betrieb.
Die Kennzahlen werden dabei grob unterteilt in die drei Säulen der Nachhaltigkeit: Ökologie, Ökonomie und Soziales. Im Vergleich zu Direktzahlungen wird in der Nachhaltigkeitsberechnung des Leistungsrechners also nicht nur der Nutzen für die Natur gemessen, sondern auch die Arbeitsbedingungen für die Angestellten und die Auswirkungen der landwirtschaftlichen Tätigkeiten auf den Menschen.

Einer, der mit dem Leistungsrechner seinen Betrieb durchgerechnet hat, ist Landwirt Bruno Stadelmann. Der Geflügelspezialist führt zusammen mit seiner Frau einen 12 ha grossen Bauernhof in Willisau (LU). Neben Legehennen als Haupterwerbszweig, halten sie einige Mutterkühe und Hochstammbäume. Stadelmann ist nicht nur ein Mann, der anpackt, er ist auch ein Kopfmensch, der nachdenkt. Er berichtet, dass er, während er mit den Händen arbeitet und bei den Tieren zum Rechten schaut, sein Kopf mit neuen Inputs füttert, indem er zum Beispiel Radiosendungen über die Landwirtschaft hört. Über einen Podcast aus Deutschland hat Stadelmann vom Leistungsrechner erfahren und aus Neugier die Schweizer Version für seinen Betrieb angewendet. Der Neugier folgte Begeisterung. Nicht nur über den praxisnahen Aufbau des Rechners, sondern auch darüber, dass er durch den Rechner für seine erbrachten gemeinwirtschaftlichen Leistungen eine konkrete Zahl bekommt. «Da haben wir endlich einen Wert, worüber wir im Klartext reden können», so Stadelmann.

Besonders gut gefällt ihm am Leistungsrechner, dass die Regionalökonomie und die soziale Nachhaltigkeit mit einbezogen werden. Fragen wie: Werden Produkte regional weiterverkauft statt an den Grosshändler, werden die Mitarbeitenden fair entlöhnt oder bildet der Betrieb auch Lehrlinge aus und und arbeitet nicht einfach nur mit günstigen Arbeitskräften, werden bei der Berechnung berücksichtigt. «Bei den Direktzahlungen ist das alles irrelevant, da wird nur auf die ökologische Nachhaltigkeit geschaut», sagt Stadelmann. An den Direktzahlungen kritisiert er zudem, dass sie schweizweit die gleichen Anforderungen haben; egal ob ein Bergbetrieb im Tessin oder ein Gemüsebauer in Schaffhausen, ein Milchbetrieb im Appenzell oder ein Hühnerbetrieb im Jura; alle hätten sehr ähnliche Anforderungen zu erfüllen, der Spielraum sei da nicht mehr gross – und der Nutzen leider auch nicht. Zu divers sind doch diese Höfe, zu einheitlich das System, mit dem diese Höfe beschrieben würden.

Auch Raphael Felder, Geschäftsführer des Luzerner Bäuerinnen und Bauernverbands sieht Chancen in einem Instrument wie dem Leistungsrechner. Würde so etwas wie ein Leistungsrechner eingeführt, könnten die Betriebsleiter:innen viel flexibler aus einer Sammlung von Leistungen die für ihren Betrieb geeignet sind auswählen und alles in allem einen besseren Nutzen für die Gesellschaft erbringen.
Die Idee ist, dass alle einen Grundstock an Leistungen erbringen müssten und dann mit flexiblen Bausteinen den eigenen Betrieb punkto Nachhaltigkeit optimieren könnten, so wie es für die Lage und den Hof passt. So könnte zum Beispiel ein stadtnaher Betrieb mehr im Bereich der Wissensvermittlung leisten, während hingegen ein Bergbetrieb eher in der Förderung der Biodiversität seine Nachhaltigkeitsleistung erbringt.

Wer kommt für die Kosten auf?

Für Stadelmann ist klar, dass bereits jetzt ein Teil der über den Leistungsrechner berechneten Werte über das jetzige Direktzahlungssystem abgedeckt wird – und das könnte mit gewissen Anpassungen auch so bleiben. Der Leistungsrechner liefert mehr Transparenz über das, was an der Basis unser Ernährungskette  geleistet wird, er zeigt die tatsächlich erbrachten Leistungen. Es genügt nicht wenn wir sagen dass wir gut sind und viel leisten, wir brauchen ein Instrument mit welchem wir unsere Leistungen kommunizieren können. Der Leistungsrechner liefert jedoch keine konkreten Zahlen für die Kosten und Leistungen, welche im gesamten Ernährungssystem anfallen, für das in der nachgelagerten Produktion, beim Wiederverkäufer und beim Konsumenten. Der Leistungsrechner ist entwickelt worden um die Leistungen der Landwirtschaft aufzuzeigen. Die Werte wurden in einem breiten Dialog mit allen Anspruchgruppen erarbeitet. Auch deshalb ist er einfach aufgebaut und der administrative Aufwand ist vertretbar.. «Für einen erfolgreichen Wechsel des Systems», betont Felder, «darf der administrative Aufwand nicht gross sein.» Und für Landwirt Bruno Stadelmann ist klar: «Ich wünsche mir ein System, das unsere gesellschaftlichen Leistungen wiederspiegelt, praxisnah aufgebaut ist und mich in meiner Eigenständigkeit als Betriebsleiter stützt.»

Es braucht klare Ziele für die Transformation

Und um zurück zu unserem Beispiel der Hochstammbäume zu kommen: ökologische Massnahmen zu finanzieren, ohne die ökomische Entwicklung in der Wertschöpfungskette einzubeziehen, führt zu Mostäpfeln, die am Boden liegen bleiben und bestenfalls Nahrung für Vögel, Kleinsäuger oder Insekten sind. Im jetzigen System sind insbesondere die pflanzliche Produktion und die ökologischen und sozialen Leistungen der Landwirtschaft zu wenig abgegolten. Das muss sich ändern. Zuversichtlich stimmen die vielen Bemühungen der Branche und die Offenheit vieler Landwirt:innen gegenüber neuen Systemen und einer Entwicklung hin zu mehr Zielorientierung im Direktzahlungssystem.

Für eine erfolgreiche Transformation müssen jedoch alle Beteiligten des Ernährungssystems miteinbezogen werden. Es ist nicht nur die Landwirtschaft, welche die Verantwortung für den Erfolg trägt, es sind alle Akteure des Systems; die Produzenten, die Weiterverarbeiter, der Detailhandel und die Konsumenten. Dazu braucht es nicht nur von den Beteiligten den Willen, vorwärtszugehen, es braucht auch vom Bund klar definierte Ziele, welche für das gesamte Ernährungssystem gelten. Das kann in Form von Lenkungsabgaben oder einer Zielvereinbarung wie zum Beispiel einem Mindestkontingent an Produkten mit einem ökologischen Mindest-Standard sein.
Wir brauchen ein Modell, welches verbindliche Regeln über das gesamte Ernährungssystem festlegt. Damit die Äpfel nicht auf der Wiese liegen bleiben und damit auch in Zukunft in der Schweiz Lebensmittel produziert und gleichzeitig gemeinwirtschaftliche Leistungen zum Schutz unserer Ökosysteme erfolgreich erbracht werden.


Kästchen

Ideenwettwerb lanciert: Indikatorensystem der SALS

Es werden aktuell auch andere Lösungen und Weiterentwicklungen des Direktzahlungssystems diskutiert. So hat die Schweizerische Vereinigung für einen starken Agrar- und Lebensmittelsektor, SALS, ein Indikatorensystem lanciert. Mit diesem System strebt die SALS eine ganzheitliche Betrachtung des Agrar- und Ernährungssystems an. Dies ist deshalb überzeugend, da die angestrebte Transformation des Ernährungssystems hin zu Nachhaltigkeit nicht nur auf Ebene der landwirtschaftlichen Produktion erfolgen kann, sondern entlang der gesamten Wertschöpfungskette bis hin zum individuellen Ernährungsverhalten realisiert werden muss. Dabei ist eine Vielzahl von Akteursgruppen und Institutionen einzubeziehen. Ausserdem adressiert das Indikatorensystem bewusst auch die Zielkonflikte, die entstehen, wenn alle Dimensionen der Nachhaltigkeit (Ökologie, Ökonomie und Soziales & Ethik) zusammen betrachtet werden. Das Indikatorensystem besteht momentan nur auf der Konzeptebene, hat aber das Potential, Brücken zwischen den Entwicklungen in der Branche (z.B. Grüner Teppich Milch) und im Handel (z.B. M-Check) mit dem Direktzahlungsprogramm des Bundes zusammenzubringen.