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24.8. 2022

Mehr Tierwohl oder billiges Fleisch?

Mehr Tierwohl oder billiges Fleisch?

Kommentar zur Massentierhaltungsinitiative (MTI)

Am 25. September stimmen wir über die Massentierhaltungsinitiative ab. Vision Landwirtschaft überprüft Argumente und stellt ergänzende Überlegungen aus ihrer Perspektive an. Fazit: Die Initiative ist – oder wäre – ein Steilpass für die bäuerliche Schweizer Landwirtschaft. Sie wirkt sich positiv auf Produzentenpreise aus und unterstützt notwendige Entwicklungen in den Bereichen Umwelt, Ernährung und Handel.

Vision Landwirtschaft hat die Argumente der Initiant:innen und der Gegner:innen der Massentierhaltungsinitiative MTI gesichtet und geprüft.

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Faktencheck

Die Unterschiede im Stil sind enorm. Die Initiant:innen nennen auf Ihrer Webseite vier Gründe für ein Ja. Nach ihnen geht es um die Würde der Nutztiere, um die Gesundheit von Mensch und Tier, um industrielle Tierhaltung und um eine zukunftsfähige Landwirtschaft. Sie argumentieren aus unserer Sicht korrekt und sachlich. Die Gegner:innen – unter Führung des Bauernverbands (SBV) – bringen in ihrer Kampagne eine Mischung von wahren, halbwahren und unwahren Aussagen. Sie beschönigen die Schweizer Tierproduktion und machen abenteuerliche Versuche, die Massentierhaltung mit dem Wohl der Bauernfamilien und dem Überleben unserer Berg- und Alpwirtschaft zu verknüpfen. Die gröbsten Unwahrheiten kommentieren wir im untenstehenden Kasten.

Rollen von Markt und Politik verwischen

Auffallend ist einmal mehr das Verwirrspiel rund um die Rollen von Markt und Politik. Die Gegner argumentieren damit, dass die Nachfrage nach tierfreundlicheren Lebensmitteln «nicht gross genug ist» (s. Kasten). Dabei geht es in der Abstimmung genau darum, mit verbindlichen Regeln dafür zu sorgen, dass tierfreundliche Lebensmittel kein Nischenmarkt bleiben. Auch BioSuisse macht in diesem Spiel mit. Die Organisation hat zwar die Ja-Parole herausgegeben, aber der Präsident der Organisation lässt sich in der WoZ wie folgt zitieren: «Einmal mehr verlangt man etwas von der Landwirtschaft, das sich im Konsumverhalten nicht spiegelt.» Auch hier: Die Initiative sorgt ja genau dafür, dass die Konsument:innen die tierfreundlichen Produkte kaufen.

Ein Steilpass

Gemäss den Zahlen der Regulierungsfolgenstudie des Bundes ist die überwiegende Mehrheit der Schweizer Landwirtschaftsbetriebe von der Initiative nicht (93%) oder wenig (4%) betroffen. Zudem ist eine Übergangsfrist von 25 Jahren vorgesehen. Wie sich die Bäuerinnen und Bauern vom SBV über den Tisch ziehen lassen, ist bemerkenswert. Da kommt eine Initiative, die für höhere Preise und Schweiz-Prämien sorgt, und die Bauern und Bäuerinnen sagen Nein! Man setzt auf Menge statt Qualität und damit auf einen ruinösen Preiswettbewerb, den die meisten sonst beklagen. Man ist solidarisch mit Betrieben mit industrieller Tierproduktion, die den Preiswettbewerb befeuern. Problematisch ist das insbesondere bei den Schweinen und Rindern. Weil die Schweiz nur wenig Schweine- und Rindfleisch importiert, kann der zukünftig abnehmende Fleischkonsum nicht mit einer Reduktion der Importkontingente ausgeglichen werden. Die Preise werden dadurch unter Druck kommen. Für die grosse Mehrheit der Tierhaltungsbetriebe ist die Initiative deshalb ein Steilpass.

Notwendige Entwicklungen

Wie steht diese Tierwohl-Initiative in Beziehung zu Entwicklungen in weiteren Bereichen? Ist sie mit solchen kompatibel, oder gibt es Konflikte?

Hinsichtlich Umwelt, Klima und Ernährung unterstützt die Initiative die Entwicklungen, die ohnehin notwendig sind. Die MTI verlangt aber auch grosszügigere Stall- und Auslaufflächen für die Tiere. Die Ställe sind ein Problem für die Landschaft. Andererseits vermindert die vermehrte Weidehaltung Emissionen, und Emissionen durch Stallausläufe können gemäss einer Studie mit baulichen Massnahmen reduziert werden.

Auch in der Handelspolitik unterstützt die Initiative anstehende Entwicklungen. Die Handelsregeln der WTO haben im Umwelt- und Tierwohlbereich einen grossen Nachholbedarf. Die Regelungen in Umweltbelangen stammen aus den 1970er und 1980er Jahren. Die Expertin für Handelsrecht,  Elisabeth Bürgi von der Uni Bern, diskutiert seit vielen Jahren gangbare Wege. Sie erläuterte dies auch im Zusammenhang mit der Initiative, im oben zitierten Artikel in der WoZ .

Politische Kultur

Der Bauernverband hat mit Economiesuisse, dem Arbeitgeber- und dem Gewerbeverband ein Tauschgeschäft vereinbart: «Ihr stimmt gegen die MTI und wir dafür für die Abschaffung der Verrechnungssteuer auf inländischen Obligationen.» Die Verbände praktizieren einen Abstimmungs-Kuhhandel, der die Meinungsbildung manipuliert und der schweizerischen Demokratie schadet. Schliesslich nutzen sie einmal mehr die fragwürdige rechtliche Situation aus, dass Landwirtschaftsland für politische Werbung zur Verfügung steht. Auch diese Aspekte können bei der Abstimmung in Rechnung gestellt werden.


Halbwahres und Unwahres auf der Webseite der Gegner (nach Themen)

(Quelle der Zitate: Webseiten der Gegner, 07.08.2022.)

Tierwohl

«Alles schon da», «Kein Mehrwert fürs Tierwohl im Ausland», «Es gibt bei uns keine systematische Verletzung des Tierwohls», «Als Herdentier wird das Huhn durch eine Vielzahl von Artgenossen in seinem Befinden nicht beeinträchtigt.», «Mehr Tiere bedeutet deshalb nicht weniger Tierwohl.»

Kommentar:

Unbelegte Behauptungen. Nur ein paar Beispiele: Masthühner mit am Ende 2 kg Gewicht haben Anspruch auf 1/15 Quadratmeter. Das entspricht der Fläche eines A4-Blatts. 40% werden in Betrieben mit über 12'000 Individuen gehalten. 8% sehen jemals den freien Himmel. Um Kannibalismus zu verhindern, werden die Schnabelspitzen entfernt. In der letzten von 5 Lebenswochen sind gesundheitliche Probleme oder Schäden normal. Ein Mastschwein von 110 kg hat Anspruch auf 0,9 Quadratmeter, 40% leben unter solchen Verhältnissen (Quelle: Seite der Initiative)

Eine Serie sehr informativer Videos zur Nutztierhaltung findet sich auf ARTE.

Umwelt

«Hält die Schweiz zu viele Tiere und muss deshalb viel Futter aus dem Ausland zukaufen? - Nein.»

Kommentar:

Diese Aussage ist irreführend, die Schweiz hält sehr viel mehr Tiere, als sie mit inländischem Futter versorgen kann. Ohne die umfangreichen Futterimporte müssten die Tierbestände deutlich reduziert werden. Die für den Standort zu hohen Tierbestände führen zu einer Verschmutzung der Umwelt mit Stickstoff und Phosphor, die in weiten Teilen der Schweiz das geltende Umweltrecht verletzt.

Industrielle Tierproduktion

«Stimmt es, dass nur 5 Prozent der Betriebe von der Initiative betroffen wären? […] Wenn man die indirekten Auswirkungen wie das Wegfallen von Beiträgen miteinbezieht, sind alle Tierhaltungsbetriebe tangiert.»

Kommentar:

Es fallen keine Beiträge an die übrigen Tierhaltungsbetriebe weg. Gemäss Schätzungen des Bundes müssten etwa 3’300 von rund 48'000 Landwirtschaftsbetrieben in der Schweiz den Tierbestand reduzieren oder die Betriebsflächen vergrössern. Das entspricht 7 Prozent der Betriebe. Die Auswirkungen der Initiative betreffen somit nur einen begrenzten Teil der Landwirtschaft. Das Futter für diese industrielle Tierproduktion wird zum grössten Teil importiert; beispielsweise gäbe es ohne kontinuierliche Importe von Kraftfutter und Tieren in der Schweiz keine Mastpouletproduktion. Diese Tierproduzenten arbeiten faktisch als Lohnmäster für die Fleischindustriebetriebe wie Bell (Coop) und Micarna (Migros).

Regionale Produktion

«Wir sind zur Versorgung der Bevölkerung auf umfangreiche Importe angewiesen».

Kommentar:

Bleibt der Fleischkonsum unverändert hoch, so nehmen die Fleischimporte zu. Dafür fallen Hunderttausende von Tonnen Kraftfutterimporte (Weizen, Soja etc.) weg. Ginge der Fleischkonsum zurück, so wären keine Fleischimporte mehr nötig. Aber genau das wollen die Gegner:innen verhindern.

Marktnachfrage und Bauernfamilien

«Nur wenn die Nachfrage nach noch tierfreundlicheren Lebensmitteln gross genug ist, können es sich die Bauernfamilien leisten, ihre Produktion anzupassen.»

Kommentar: s. Haupttext.

Berglandwirtschaft

«Dann würden auch die Alpenweiden nicht mehr genutzt und stattdessen verwalden. Die Landschaft im Berggebiet würde sehr eintönig.»

Kommentar:

Diese Aussage ist falsch. Die heutige industrielle Tierhaltung ist weitgehend bodenunabhängig, v.a. bei Geflügel und Schweinen. Bei einer Annahme der Initiative sind nicht weniger Tiere auf der Weide, sondern mehr, und es braucht nicht weniger, sondern mehr Weiden. Die Nutzung der Alpweiden und der Flächen im Berggebiet wird durch die Annahme der Initiative nicht verändert.