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VISION LANDWIRTSCHAFT / NEWSLETTER 16.8. 2017

Landwirtschaftlicher Gesetzesvollzug: Kultur des Wegschauens

(VL) Die misshandelten Tiere auf dem Bauernhof im thurgauischen Hefenhofen haben schweizweit Empörung ausgelöst. Der Fall hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack. Denn er macht deutlich, dass oft erst dann gehandelt, wenn der öffentliche Druck zu gross wird – selbst im Tierschutzbereich, wo der Vollzug noch am besten funktioniert. Das Wegschauen beim Gesetzesvollzug hat im Schweizer Landwirtschaftssystem Tradition. Das ist Gift für sein höchstes Gut: Das Vertrauen der Konsumenten und Steuerzahler.

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Wenn das Tierwohl auf dem Spiel steht, reagiert die Schweizer Öffentlichkeit sensibel
. Die Tageszeitungen berichten seit Tagen seitenweise über den Fall aus dem Thurgau und bringen laufend weitere Details ans Tageslicht, welche die Empörung weiter anfachen. Nach und nach wurde auch klar, dass eine lange Reihe von zuständigen Amtsstellen, Gemeindebeamten, Lieferanten, Kunden, Nachbarn von den Zuständen auf dem Bauernhof gewusst und viele Jahre einfach weggeschaut statt gehandelt hatten. Der nach dem Auffliegen des Skandals rasch hinter Gitter gebrachte Landwirt „Ulrich K.“ war nur das letzte Glied einer langen Kette von indirekt und direkt Mitwirkenden, eine Art Bauernopfer einer Wegschaukultur.

Dabei ist das Tierwohl der weitaus am konsequentesten vollzogene Bereich der Agrargesetzgebung. Den Behörden ist bewusst: Wenn hier etwas krumm läuft, dann gehen die Wogen in der Öffentlichkeit unweigerlich hoch. Dass ein Fall Hefenhofen passieren konnte, ist vor diesem Hintergrund eigentlich erstaunlich und zeigt, dass das Wegschauen selbst in einem so sensiblen, emotionalen Vollzugsbereich immer wieder vorkommt.

In anderen Bereichen, welche dem Grossteil der Bevölkerung weniger naheliegen, hat sich dagegen das Wegschauen systematisch ins Agrarsystem hineingefressen. Gerade im Umweltbereich sind nicht geahndete oder gar aktiv von Behördenseite gedeckte Verstösse an der Tagesordnung.


Beispiel Ammoniak

Letzteres passiert beispielsweise bei den Ammoniakemissionen im Kanton Luzern. Dort ist der Tierbestand als Folge einer behördenseits lange aktiv geförderten „inneren Aufstockung“ mit Schweinen und Hühnern und enormen Futtermittelimporten besonders hoch – so hoch, dass die Grenzwerte, die sogenannten „critical loads“,  bei den Ammoniakemissionen aus der Tierhaltung seit vielen Jahren fast flächendeckend um ein Vielfaches überschritten werden. Dies wiederspricht sowohl internationalen Vereinbarungen wie Bundesrecht, weil dadurch empfindlichere Ökosysteme wie Wälder oder Moore nachhaltig geschädigt werden. Der Luzerner Regierungsrat hat die Situation anerkannt und 2007 festgelegt, dass bei Stallneu- und  -umbauten die Emissionen gegenüber dem Ausgangszustand im Jahre 2000 um 20% zu reduzieren sind – eine schweizweit vorbildliche Regelung.

Doch die Vollzugsbehörde kümmert sich einen Deut um diesen Entscheid. Im grossen Stil werden laufend Aus- und Neubauten von Schweine- und Hühnerställen bewilligt. Bei den Gesuchen berechnet nicht etwa der Gesuchsteller, sondern die kantonale Dienststelle selber die Emissionsfolgen des Vorhabens. Dabei kommen alle erdenklichen Tricks zur Anwendung. Die Emissionsbilanz wird so lange geschönt, bis auf dem Papier die regierungsrätlich verordnete Emissionsreduktion von 20% resultiert. Selbst wenn Betriebe ihren Tierbestand verdoppeln, schafft es die kantonale Berechnung, die ominöse Reduktion von 20% hinzubiegen. Wie von Zauberhand gelingt dies selbst ohne heute verfügbare – aber wirtschaftlich wenig attraktive – technische Massnahmen zur Abluftreinigung. Wie diese Tricks funktionieren, ist im Kästchen unten in aller Kürze nachzulesen.

Die Schummeleien sind bisher vom Wegschauen gut geschützt worden. Keine Zeitung hat bisher je darüber berichtet, und auch unzählige Involvierte in Politik und Amtsstuben kennen die seinerzeit von der Branche erfundene Trickserei seit Jahren und schauen weg. Derweil steigt der Tierbestand im Luzernischen munter weiter an, und mit ihm bleibt die offiziell angestrebte Reduktion der enormen Ammoniakreduktion weiterhin frommer Wunsch der Politik, von dem alle wissen, dass er nie erreicht werden wird.

Beispiel Gewässerschutz

Ein Bereich mit gravierenden Vollzugsmängeln ist der Gewässerschutz. Pro Natura hat  bei umfangreichen Erhebungen in verschiedenen Kantonen der Ostschweiz und der Romandie festgestellt, dass beim Ausbringen von Dünger in weit über der Hälfte der untersuchten Fälle die Gewässerabstände nicht eingehalten worden sind. Zwar hat Pro Natura mit ihrer Untersuchung einige Medienbeiträge ausgelöst, doch die Empörung ist rasch verraucht, und das systematische Wegschauen hat offensichtlich rasch wieder Fuss gefasst. Seitens der Behörden sind bisher keinerlei Aktivitäten bekannt geworden, mit denen das Problem angegangen worden wäre.

Wildwuchs bei den Pestiziden

Ein beunruhigendes Beispiel für einen praktisch inexistenten Vollzug ist der landwirtschaftliche Pestizideinsatz. Bei Recherchen für den Pestizid-Reduktionsplan Schweiz hat Vision Landwirtschaft Stichprobenkontrollen durchführen lassen, um zu erfahren, wie der Pestizideinsatz in der Schweiz kontrolliert und die gesetzlichen Vorgaben umgesetzt werden. Fazit: Wichtige Anforderungen im ökologischen Leistungsnachweis ÖLN sind toter Buchstabe. Würde der ÖLN korrekt vollzogen, dürfte allein dadurch der Pestizideinsatz in der Schweiz um rund 20% zurückgehen. Darüber hinaus sind Verstösse beim Pestizideinsatz gegen die Umweltgesetzgebung in manchen Regionen an der Tagesordnung. Die Einhaltung der Abstände zu Gewässern oder Strassen wird in vielen Kantonen nie kontrolliert und entsprechend oft nicht eingehalten. In einem Fall musste sogar eine Landwirtschaftsschule auf einen Verstoss auf dem Schulbetrieb hingewiesen werden – entlang einem Hauptweg direkt vor dem Fenster der Schulzimmer. 

Besonders eklatant war die Situation im Walliser Rebbau. In den untersuchten Perimetern konnte nicht ein Fall gefunden werden, wo die Abstände der Helikopter-Sprühfluglinien zu Strassen, Gehölzen oder Gewässern eingehalten wurden. Meist fehlten die Abstände komplett. Dies, obwohl die Situation aufgrund der Markierungen der Fluglinien im Feld für alle jederzeit sichtbar sind. Ebenso systematisch werden Grenzabstände beim Herbizideinsatz vom Boden aus missachtet. Selbst das Überspritzen von Gewässern mit Pestiziden vom Helikopter oder vom Boden aus ist im Wallis gang und gäbe. All diese offen vor Augen liegenden, krassen Gesetzesverstösse wurden nicht einmal von den örlichen Umweltorganisationen thematisiert.

Vision Landwirtschaft hat die zuständigen Ämter bei Bund und Kanton umgehend auf die gravierenden, im Detail protokollierten Verstösse aufmerksam gemacht (Bericht auf Anfrage). Das war bereits 2013. Doch seither haben weder die Bundesämter noch das Walliser Landwirtschaftsamt etwas unternommen. Schliesslich griffen der Kassensturz und der Sonntagsblick im vergangenen Juni den Walliser Pestizidskandal auf und berichteten ausführlich darüber. Erst der Medienrummel brachte die Behörden in Bewegung. Doch der Schaden ist längst angerichtet. Das Image des Walliser Weins dürfte als Folge des behördlichen Versagens nachhaltig gelitten haben.

Behörden als Teil des Systems

Die Behörden schauen allerdings nicht einfach aus Faulheit oder Gleichgültigkeit aktiv weg. Treibende Kraft ist meist ein massiver Druck aus der Branche, die eng mit den bäuerlichen Medien zusammenarbeitet. Wird ein Beamter oder ein Amt aktiv und geht Verstössen nach, kürzt Direktzahlungen oder vereitelt eine Bewilligung, werden die betreffenden Personen beispielsweise telefonisch bearbeitet oder an Sitzungen vorgeladen, die oft Verhören gleichen. Oder dem betreffenden Amt wird angedrocht, mit Vorstössen im Kantonsparlament das Budget zu kürzen. In anderen Fällen werden die Beamten öffentlich in den Bauernmedien durch den Dreck gezogen. So ist es auch dem Tierarzt im Thurgau gegangen, als er schon vor Jahren bei einem Tierschutzfall aktiv werden wollte.

Die Kultur des Wegschauens, die sich tief im Agrarsystem festgebissen hat, dürfte eine der grössten Schwächen in der Schweizer Agrarpolitik sein. In etlichen Bereichen ist der landwirtschaftliche Gesetzesvollzug dadurch faktisch inexistent - wenn auch mit grossen Unterschieden von Kanton zu Kanton.

Nur mit einer Kultur der Transparenz, des kritischen Hinschauens und der konstruktiven Weiterentwicklung kann die Landwirtschaft das hohe Vertrauen, das sie auch heute in der Öffentlichkeit noch geniessen dürfte, in die Zukunft bewahren. Einen guten Ruf aufzubauen ist jahrzehntelange Schwerarbeit, ihn zu zerstören reichen ein paar wenige Skandale. Deshalb setzt sich Vision Landwirtschaft trotz immer wieder massivem Gegenwind für das aktive Hinschauen und einen effizienten, konsequenten Gesetzesvollzug ein.


 

Kästchen: Die Luzerner Ammoniak-Trickkiste

Der wichtigste Trick funktioniert so: Zur Abschätzung der Ammoniakemissionen dient ein Berechnungsmodell. Das für die Bewilligung zuständige Amt berechnet damit die Differenz zwischen den Ammoniakemissionen auf dem betreffenden Betrieb im Bezugsjahr 2000 und den neu zu erwartenden Emissionen. Diese Differenz muss gemäss Regierungsratsbeschluss mindestens einer Abnahme von 20% entsprechen, damit ein Gesuch bewilligungsfähig ist.

Nun werden aber für das Jahr 2000 nicht die realen damaligen Emissionen zugrunde gelegt, sondern die theoretisch damals maximal möglichen, die in der Regel massiv höher sind als sie in der Realität waren. Auch wenn der Betrieb damals schon – z.B. von der öffentlichen Hand mitfinanzierte – Reduktionsmassnahmen realisiert hatte, werden diese also aus der Berechnung ausgeklammert. Zudem wird nicht der damalige Tierbesatz als Referenz gewählt, sondern der aktuell auf dem Betrieb vorhandene, welcher in der Regel in der Zwischenzeit stark aufgestockt wurde. Mit diesem Rechnungskniff lässt sich praktisch bei jeder Aufstockung auf dem Papier die für eine Baubewilligung nötige 20%ige Ammoniakreduktion herzaubern.

Wenn es trotzdem einmal nicht aufgehen sollte, kommen weitere Tricks zur Anwendung, beispielsweise indem Betriebsgemeinschaften gebildet werden, womit die Emissionen auf dem Papier über eine grössere Fläche verteilt werden können. Bezeichnend im Luzerner System ist, dass derjenige Beamte, welcher die Berechnungen für den Betrieb durchführt, bei der Baugesuchseingabe die eigenen Berechnungen dann gleich selber überprüft.