Produktion oder Biodiversität? - Kommentar zur Biodiversitätsinitiative
(VL) Am 22. September kommt die Initiative «Für die Zukunft unserer Natur und Umwelt», kurz «Biodiversitätsinitiative», an die Urne. Ein Thema, das die Landwirtschaft betrifft, aber nicht ausschliesslich. Biodiversität ist weit mehr als blühende Streifen am Ackerrand. Sie kann in den Bergen, im Wald aber auch im Siedlungsgebiet vorkommen und gefördert werden. Vision Landwirtschaft möchte mit diesem Newsletter einen Überblick zur Initiative schaffen, ordnet Fakten und Argumente ein und erläutert mögliche Folgen bei einer Annahme oder Ablehnung der Initiative.
Text: Annalena Tinner Fotos: Gabrielle D'Angelo
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Darum geht es:
Die Initiative «Für die Zukunft unserer Natur und Umwelt» verlangt, dass die Biodiversität auf Bundesebene besser geschützt wird mittels einer Änderung in der Bundesverfassung.
Im neuen Artikel 78a BV «Landschaft und Biodiversität» sollen Bund und Kantone im Rahmen ihrer Zuständigkeiten dafür sorgen, dass
- die schutzwürdigen Landschaften, Ortsbilder, die Natur- und Kulturdenkmäler sowie die geschichtlichen Stätten bewahrt werden.
- die Natur, die Landschaft und das baukulturelle Erbe auch ausserhalb der Schutzobjekte geschont werden.
- die zur Sicherung und Stärkung der Biodiversität erforderlichen Flächen, Mittel und Instrumente zur Verfügung stehen.
Dabei bezeichnet der Bund die Schutzobjekte von nationaler Bedeutung, die Kantone jene von kantonaler Bedeutung. Der Bund unterstützt zudem die Kantone bei den Massnahmen und Umsetzung zur Sicherung der Biodiversität. Dafür haben bei einer Annahme der Initiative Bund und Kantone fünf Jahre Zeit.
Auf welchen Flächen und zu welchen Kosten der Schutz der Biodiversität stattfindet, ist nicht Bestandteil der Initiative. In der angehenden Debatte ist immer wieder von 30% Fläche die Rede. Diese 30 % beziehen sich auf den Biodiversitätskongress der vereinten Nationen (COP15), welcher im Dezember 2022 in Montreal stattgefunden hat. Dort hat auch die Schweiz das weltweite Naturschutzabkommen unterschrieben, welches unter anderem das 30x30 Ziel verfolgt: bis im Jahr 2030 sollen 30 % der weltweiten Land- und Meeresfläche unter Naturschutz stehen.
Wo genau und in welcher Form die Biodiversität unter Schutz gestellt wird, ist im Rahmen der Initiative nicht festgelegt. Dies müsste bei einer Annahme geprüft werden.
Biodiversitätsförderflächen in der Schweiz
der weltweiten Land- und Meeresfläche bis Jahr 2030 unter Naturschutz stehen. Die Schweiz hat das weltweite Naturschutzabkommen am Biodiversitätskongress der vereinten Nationen (COP15), welcher im Dezember 2022 in Montreal stattfand, unterschrieben.
muss ein Betrieb als BFF bewirtschaften, wenn er nach dem ökologischen Leistungsnachweis (ÖLN) wirtschaftet und Direktzahlungen bezieht.
Darum fordern die Initianten einen Schutz der Biodiversität:
Ein Drittel aller Tier- und Pflanzenarten in der Schweiz gelten als gefährdet oder als bereits ausgestorben, die Hälfte der verbleibenden Lebensräume für Tiere und Pflanzen ist gefährdet. Besonders betroffen sind Feuchtgebiete und Gewässer.
Wir brauchen diese Vielfalt der Arten und innerhalb der Arten, nicht nur weil viele der Insekten unsere Nahrungsmittel bestäuben, sondern weil die ganze Artenvielfalt auch die Basis unseres Ökosystems bildet – weil es unsere Lebensgrundlage ist.
Kommentar Vision Landwirtschaft:
Der Rückgang der Biodiversität ist Realität. Verschiedene Arten haben verschiedene Bedürfnisse, und das meist auf einem sehr kleinen Raum. Um die Biodiversität zu erhalten, sind daher vielfältige Strukturen auf kleinen Flächen nötig. Diese kommen jedoch mit der zunehmenden Vergrösserung und Vereinheitlichung der Flächen, der Bautätigkeit und dem Ausbau von Infrastruktur immer mehr unter Bedrängnis.
Das befürchten die Gegner
Die Initiative verlangt, dass die Biodiversität in der Verfassung geschützt wird. Die Forderung ist sehr vage gefasst und lässt vieles offen bezüglich Umsetzung und Kosten. Diese Ungewissheit schürt nicht nur Ängste der Gegner, sondern liefert auch viel Spielraum für die Interpretation in der Umsetzung und dementsprechende Gegenargumente.
Kein Strom aus erneuerbaren Energien, zu radikaler Einfluss im Berggebiet
Gegner argumentieren damit, dass bei einer Annahme der Initiative kein erneuerbarer Strom produziert werden könne, da Stauseen unter Schutz stünden oder Berggebiete, in denen Windanlagen gebaut werden könnten. Zudem könnten diese Gebiete nicht mehr touristisch genutzt werden, wenn sie unter Schutz stünden.
Kommentar Vision Landwirtschaft:
Die genaue Umsetzung der Initiative lässt offen, wieviel und welche Gebiete genau geschützt würden. Dass der Bergtourismus abnimmt und die Erzeugung erneuerbarer Energie schwindet, ist reine Spekulation der Gegner.
Biodiversität – was ist das überhaupt?
«Vögeli, Käferli und Blüemli» - das ist Biodiversität. Das stimmt zum Teil, aber nicht nur. Die Vielfalt an verschiedenen Lebewesen ist ein Aspekt der Biodiversität, die Vielfalt von verschiedenen Lebensräumen ein anderer. Ein dritter, oft vernachlässigter Teil ist aber auch die Vielfalt innerhalb der Arten. Nehmen wir zum Beispiel uns, den Menschen: Wir alle gehören zur selben Art, Homo sapiens. Unsere Gene sind mehrheitlich gleich, doch die Ausprägung deren ist verschieden; wir haben verschiedene Grössen, Augen- und Haarfarben. Das basiert auf kleinen, genetischen Unterschieden, die nicht überlebensrelevant sind, aber alle dazu beitragen, dass der Genpool innerhalb unserer Art sehr divers ist.
Auch andere Arten, wie zum Beispiel die Wiesenmargarite weist eine breite genetische Vielfalt auf: Bei der Blume äussert sich dies in Nuancen in der Blütenfarbe, aber auch im Zeitpunkt, in dem sie blüht oder ihren Ansprüchen an Wasser oder Licht. Die einen blühen später, die anderen haben es lieber trocken. Das erhöht die Resilienz der einzelnen Arten bei einer Störung der Umgebung. Hätten wir innerhalb der Arten keine Vielfalt, können Störungen nicht abgefedert werden oder auf den Menschen bezogen; wir wären alles Heidi Klums und Arnold Schwarzeneggers.
Einfluss Wald: keine Nutzung von Holz mehr möglich
Ein Drittel der Fläche in der Schweiz ist Wald, Tendenz steigend. Dabei ist der Wald schon stark geschützt; Fläche, die einmal als Wald eingestuft wurde, wird kaum wieder umgezont. Über die Nutzung des Waldes entscheidet das Waldgesetz. Ein Argument der Gegner ist, dass die Nutzung des Waldes durch eine Annahme der Initiative noch stärker eingeschränkt würde und dass zum Beispiel die Nutzung von Holz nicht mehr möglich wäre.
Kommentar Vision Landwirtschaft:
Dass bei einer Annahme der Initiative kein Holz mehr genutzt werden kann, stimmt so nicht, denn auch hier gilt: über die geschützte Fläche sagt die Initiative nichts aus.
Beim Thema Waldnutzung ist zu betonen, dass dieses Ökosystem wie jedes andere auch für sein Funktionieren, für sein eigenes Verjüngen, eine gewisse Störung braucht. Im Wald wird diese gezielt durch den Menschen gemacht: Mittels grosser Maschinen werden Wälder verjüngt und offene Lichtungen in Wäldern entbuscht. Das Offenhalten dieser Flächen durch Beweidung mit Tieren, sogenannte Waldweiden, ist in den meisten Kantonen nicht erlaubt. Dabei ist zu beobachten, dass ein mit extensiven Tier-Rassen beweideter Wald eine hohe Artenvielfalt aufweist. Auch die heutige Biodiversitätsforschung ist sich einig, dass eine sanfte Nutzung des Waldes nicht per se schadet, sondern zu dessen Erhalt beitragen kann. Biodiversität und Landwirtschaft könnte also zusammen funktionieren, doch im heutigen System fehlen nicht nur die wirtschaftlichen Anreize dafür, sondern auch die Erlaubnis.
Landwirtschaftliche Produktivität nimmt ab, Problem wird in das Ausland verlagert
Der Schweizerische Bauernverband unterstützt zwar das Anliegen, die Biodiversität zu fördern, ist sich aber sicher, dass die Landwirtschaft bereits genug dafür tut. Zudem argumentieren die Gegner der Initiative damit, dass bei einem JA 145'000 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche unter Schutz gestellt würde und dadurch weniger Produktion möglich sei. Somit müssten mehr Lebensmittel importiert werden.
Kommentar Vision Landwirtschaft:
Die Landwirtschaft macht tatsächlich schon einiges für die Biodiversität, aber noch nicht das Optimum. Sie mag die einzige Branche sein, welcher der Bund die Förderung der Biodiversität vorschreibt - sie ist aber auch die einzige Branche, die dafür finanziell entschädigt wird.
Der durchschnittliche Anteil Biodiversitätsförderflächen an der landwirtschaftlichen Nutzfläche (LN) liegt bei 19,3%. Das sind Flächen, die nicht der Nahrungsmittelproduktion dienen, sondern dem Erhalt und der Förderung der Biodiversität. Seit 1993 werden diese Flächen, auf denen keine Kalorien produziert werden, im Rahmen des Direktzahlungssystems finanziell entgolten.
Wirtschaftet ein Betrieb nach dem ökologischen Leistungsnachweis (ÖLN) und bezieht Direktzahlungen, muss er mindestens 7% seines Betriebes als BFF bewirtschaften.
Diese 19 % sind in der Tat einiges mehr als die vom Bund vorgeschriebenen 7%. Das ist quantitativ viel, sagt aber noch nichts über die Qualität der Flächen aus. Der Entscheid, auf welcher Fläche eine BFF angelegt wird, hängt meist nicht davon ab, welche Fläche besonders gut für die Biodiversität ist, sondern davon, welche Fläche sich am wenigsten gut für die Lebensmittelproduktion eignet. Oftmals werden nämlich jene Flächen zu BFF, welche weit abgelegen sind und weniger geeignet für den Anbau von Nahrungsmitteln oder die Haltung von Tieren sind.
Dass die Produktivität bei Annahme der Initiative abnimmt, ist nicht belegt. Denn auch hier ist unklar, welche Landwirtschaftsflächen zum Erhalt der Biodiversität unter welchen Bedingungen zur Verfügung stünden. Heute ist der Selbstversorgungsgrad der Schweiz bei ca. 55%. Dabei könnte die Nutzung der Flächen effizienter gestaltet werden: Denn laut dem Agrarbericht 2021 wird auf rund 60% der Ackerfläche Tierfutter angebaut. Eine Umstellung dieser Fläche auf den Anbau von Nahrungsmitteln für den direkten menschlichen Verzehr würde den Selbstversorgungsgrad enorm stärken.
Und das Wichtigste: Es heisst nicht «Produktion» oder «Biodiversität». Es gibt bereits zahlreiche Beispiele an Betrieben, die aufzeigen, wie Produktion und Biodiversitätsförderung in Einklang miteinander funktionieren, wie sie sich gar gegenseitig bedingen. In einem kommenden Newsletter wird Vision Landwirtschaft einen solchen Betrieb besuchen.
Fakten
Was passiert nach einem JA oder einem NEIN
Wird die Initiative angenommen, muss sich das Parlament mit dem Thema auseinandersetzen und ausarbeiten, wie die Landschaft und die Biodiversität in der Schweiz besser geschützt werden können. Dafür ist eine Frist von fünf Jahren vorgegeben. Vermutlich würde an den Punkten angeknüpft werden, die bei der Diskussion eines möglichen Gegenvorschlages aktuell waren. In seiner Botschaft zum indirekten Gegenvorschlag hält der Bund fest:
«Aus volkswirtschaftlicher Sicht weist die Biodiversität den Charakter eines öffentlichen Gutes auf: Alle können und dürfen sie nutzen, bezahlen aber nichts dafür. Ausserdem sind die natürlichen Ressourcen ohne Berücksichtigung der externen Kosten zu günstig. Dies führt dazu, dass Ökosysteme übernutzt und deren Leistungen beeinträchtigt werden. Die Nachfrage nach natürlichen Ressourcen übersteigt also das Angebot bei Weitem. Aus ökonomischer Sicht liegt damit bei der Biodiversität ein Marktversagen vor. Um das Marktversagen zu mindern, hat der Bund regulierend eingegriffen und entsprechend Gesetze (beispielsweise das NHG) und Verordnungen erlassen. Zahlreiche Untersuchungen zeigen allerdings, dass diese Bemühungen des Bundes zu schwach sind, um den Biodiversitätsverlust aufzuhalten. Aus ökonomischer Sicht liegt damit auch ein Regulierungsversagen vor und staatliches Handeln ist notwendig.»
Ein JA zur Biodiversitätsinitiative würde dazu führen, dass der Bund Massnahmen treffen muss, um dieses Regulierungsversagen zu mindern. In diesem Gegenvorschlag war das Ziel, 17% der Landesfläche zu schützen, und zwar in allen Landesteilen und für alle Lebensraumtypen. Zusätzlich sollten bestehende nationale Schutzgebiete saniert werden. Ein zentraler Punkt im Gegenvorschlag war zudem die gezielte Förderung der Biodiversität im Siedlungsgebiet. Mittels konkreter Massnahmen sollten die Gemeinden Anreize erhalten, naturnahe Grünräume zu schaffen und zu erhalten. Das Parlament hat es zwar abgelehnt, den indirekten Gegenvorschlag zur Abstimmung zu bringen, doch ist zu erwarten, dass bei einem JA die Initiative in diesem Sinne umgesetzt wird.
Bei einem Nein zur Initiative besteht keine Pflicht, dass sich Parlament und Bundesrat weiter mit diesem Thema beschäftigen. Aktuellster Stand auf Bundeebene wäre demnach noch immer die Biodiversitätsstrategie von 2012, welche 2017 mit einem Aktionsplan ergänzt wurde.
Zu befürchten ist jedoch, dass es für die Biodiversität einen frappanten Rückschritt gibt: Die eingeleitete Totalrevision der Pflanzenschutzmittelverordnung wird die Zulassung stark schädlicher Pestizide vereinfachen und sich negativ auf die schon geschwächte Biodiversität auswirken. Vision Landwirtschaft hat in einem ausführlichen Bericht über diese Revision informiert. Auch andere wichtige Massnahmen für die Biodiversität, wie der Absenkpfad Stickstoff, wurden abgeschwächt. In der Sommersession hat das Parlament die bereits eingeführte Massnahme der 3.5% Biodiversitätsförderflächen im Ackerland abgeschafft. Dies, obwohl die Kantone, IP Suisse und Bio Suisse sich dafür eingesetzt haben, dass die Massnahme bestehen bleibt. Auch weil wesentliche Verbesserungen aus der Praxis aufgenommen wurden. Bei einem NEIN zur Biodiversitätsinitiative ist unklar, ob in den nächsten Jahren auf nationaler Ebene substantielle Massnahmen gegen das Artensterben getroffen werden.