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VISION LANDWIRTSCHAFT / NEWSLETTER 28.9. 2017

Ernährungssicherheit: Die Schweiz braucht eine produzierende statt eine konsumierende Landwirtschaft

Ernährungssicherheit wird nicht durch einen möglichst hohen Selbstversorgungsgrad gewährleistet. Die Schweizer Landwirtschaft produziert heute so intensiv, dass sie in hohem Ausmass von Importen aus dem Ausland abhängig geworden ist. Die Entwicklung bringt nicht nur wirtschaftlich wenig Erfolg, sondern zerstört zunehmend die wichtigste Basis der Ernährungssicherheit.

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(VL) Mehr als drei Viertel der Stimmenden haben am 24. September Ja zu mehr "Ernährungssicherheit" gesagt. Es war eine jener seltenen Vorlagen ohne Gegner. Das lag auch daran, dass verschiedene Interessegruppen sehr Unterschiedliches in den Verfassungstext hineindeuteten.

Soviel darf man dennoch aus dem Abstimmungsresultat lesen: Ernährungssicherheit ist der Bevölkerung ein Anliegen. Allerdings war die eigentlich zentrale Frage, was Ernährungssicherheit denn konkret heisst, so gut wie kein Thema. Diese Diskussion wird in den kommenden Jahren noch zu führen sein.

Ernährungssicherheit bedeutet, dass sich ein Land (oder die Menschheit) auch in Krisenzeiten ernähren kann. Welche Landwirtschaft brauchen wir, damit diese zentrale Leistung tatsächlich gelingt?

In einigen agroindustrienahen Kreisen bis hinauf zum Schweizer Landwirtschaftsminister wird Ernährungssicherheit mit einem möglichst hohen „Selbstversorgungsgrad“ und einer möglichst hohen Produktion gleichgesetzt. Es braucht keine eingehende Analyse um zu erkennen, dass diese Meinung schlicht Humbug ist.

Irreführende Berechnung des Selbstversorgungsgrades

Der Selbstversorgungsgrad der Schweiz mit Nahrungsmitteln ist seit vielen Jahren stabil und wird mit rund 60% angegeben. Seit Vision Landwirtschaft die enormen Futtermittelimporte in die breite Diskussion brachte, gibt der Bund jeweils auch den Netto-Selbstversorgungsgrad an. Dieser bezieht die mittlerweile weit über 1 Mio Tonnen Futtermittel mit ein, die wir zur Fütterung unserer stark überhöhten Tierbestände jährlich importieren. Dadurch sinkt der Selbstversorgungsgrad auf unter 55%.

Doch die Rechnung ist damit noch keineswegs komplett. Warum werden all die anderen Importe, welche die Schweizer Landwirtschaft für ihre Produktion aus dem Ausland einführt, nicht einbezogen? Allen voran die Energieimporte: Pro produzierte Nahrungsmittelkalorie verbraucht die hiesige Landwirtschaft gut zwei Energiekalorien aus dem Ausland – eine Energiebilanz, die schlechter ist als in den meisten umliegenden Ländern. So gesehen haben wir in der Schweiz also gar keine produzierende Landwirtschaft mehr, sondern eine konsumierende – und quasi einen negativen Selbstversorgungsgrad.

Dazu kommen Kunstdünger, Pestizide, Tierarzneimittel, der Grossteil all der Maschinen und Hilfsgeräte, von deren permanentem Import unsere Landwirtschaft wie eine Suchtkranke ebenfalls hochgradig abhängig vom Ausland ist und die unsere Ernährungssicherheit in Krisenzeiten noch weiter in Frage stellen. Dabei zerstören die permanenten Inputs zunehmend unsere wichtigsten Ressourcen für die Nahrungsmittelproduktion, nämlich die Bodenfruchtbarkeit und gesunde, robuste Ökosysteme. So ziehen wir der Landwirtschaft mit der immer weiter hochgedopten Produktion quasi den Boden unter den Füssen weg. Dies zeigt: Die Höhe des – bisher reichlich willkürlich berechneten – Selbstversorgungsgrades ist völlig ungeeignet ist, um die Ernährungssicherheit objektiv zu bewerten.

Importabhängige Landwirtschaft: Profite für Industrie und Handel statt Bäuerinnen und Bauern

Die enorme Input-Abhängigkeit führt im übrigen auch wirtschaftlich in ein Desaster. Weil die Schweizer Landwirtschaft dermassen viel für all ihre Vorleistungen ausgibt, verdient sie seit 2012 aus der Produktion, ihrem Kerngeschäft, keinen Rappen mehr – trotz beträchtlichem Grenzschutz. Was den Bäuerinnen und Bauern unter dem Strich an Einkommen bleibt, sind gerade noch knapp die staatlichen Direktzahlungen. Eine Landwirtschaft, die mehr Ausgaben als Einnahmen generiert, kann kaum als krisensicher bezeichnet werden.

Ja für eine Weichenstellung Richtung nachhaltiger Landwirtschaft

Das Ja zur Ernährungssicherheit kann aus sachlicher Warte also nur als ein Ja verstanden werden für eine Entziehungskur von all den Inputs, mit denen wir die landwirtschaftliche Produktion hochgedopt und damit immer teuer, abhängiger, ineffizienter und umweltschädlicher gemacht haben. Weitere Volksabstimmungen, allen voran die Trinkwasserinitiative, werden in den kommenden Jahren den gesellschaftlichen Druck noch erhöhen, dass die Weichen in Richtung eines wieder nachhaltigen, auf die eigenen Ressourcen bauenden Ernährungssystems gestellt werden.


 PS: Gibt es Auswege aus der Intenvisierungssackgasse? Es ist noch längst nicht Hopfen und Malz verloren. Vielmehr liesse sich die Produktionseffizienz mit verfügbaren Lösungen massiv verbessern und damit der Selbsternährungsgrad auf ein im Hinblick auf Krisenzeiten vertretbares Mass erhöhen. Dies zeigte eine Studie von Vision Landwirtschaft kürzlich auf. Allein das enorm ineffiziente Verfüttern von Kraftfutter an Milchkühe vernichtet in der Schweiz Nahrungsmittel für rund 2 Mio Menschen. Zwei weitere, enorm wirksame Hebel wären eine Reduktion des Fleischkonsums auf einen Drittel – also den Wert, welcher die WHO aus gesundheitlichen Gründen empfiehlt – und die Vermeidung von Foodwaste, bei welchem derzeit über ein Drittel der Nahrungsmittel zwischen Feld und Teller verloren gehen. Vision Landwirtschaft setzt sich mit verschiedenen praxisnahen Projekten für eine ernährungssicherere, effizientere und wirtschaftlichere Nahrungsmittelproduktion ein.